TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/18 I419 2131725-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.03.2020
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Entscheidungsdatum

18.03.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I419 2131725-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. IRAK, vertreten durch XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13.07.2016, Zl. XXXX, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste Ende Oktober 2015 illegal ein und beantragte internationalen Schutz. Schiitische Milizen hätten ihn als Sunnit bedroht, ihm sein Restaurant und das Haus genommen sowie zwei seiner Onkel entführt. Nach 6 Monaten gab er an, die Schiitenmiliz XXXX habe ihn rekrutieren wollen, damit er andere Sunniten töte. Sie hätten ihm ein Ultimatum gestellt und mit dem Tod gedroht.

2. Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers betreffend den Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I) und zuerkannte ihm jenen des subsidiär Schutzberechtigten.

3. Die Beschwerde richtet sich nur gegen die Nichtzuerkennung des Asylstatus, also Spruchpunkt I des Bescheids, und bringt vor, dem Beschwerdeführer sei nichts Anderes übriggeblieben, als in Österreich Asyl zu beantragen, weil er bedroht worden sei, damit er unschuldige Menschen umbringe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer spricht Arabisch, ist Ende 20, ledig, Sunnit und Araber. Er lebte mit seiner Familie, Eltern und fünf oder sechs Geschwistern, im Herkunftsstaat in XXXX in der Provinz Diyala. Diese leben nach wie vor dort, mit Ausnahme des ältesten Bruders, und zwar in der Hauptstadt Diyalas, Baqubah. Die ältere Schwester ist dort verheiratet, der Bruder und ein Cousin, beide etwa 30, halten sich in Österreich auf. Auch die jüngeren Geschwister sind volljährig. Über seine Mutter hat der Beschwerdeführer etwa wöchentlich Kontakt zur Familie im Irak.

In XXXX betrieb der Beschwerdeführer ein Imbisslokal mit acht Sitzplätzen und zwei Angestellten, sein Vater arbeitete in einer Krankenanstalt. Dieser hat nach Angaben des Beschwerdeführers den Dienst gekündigt und arbeitet derzeit nicht.

Im Mai, Juni oder Juli 2015 verließ er den Herkunftsstaat, verbrachte etwa drei Monate in der Türkei bei einem Freund, reiste Mitte Oktober 2015 nach Griechenland und dann weiter nach Österreich.

1.2 Zur Situation im Herkunftsstaat:

Im angefochtenen Bescheid wurde das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" zum Irak auf Stand 08.04.2016 zitiert. Aktuell steht ein zuletzt am 30.10.2019 aktualisiertes zur Verfügung. Im gegebenen Zusammenhang sind davon die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:

1.2.1 Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen:

[...] Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 7.8.2019). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019). Der IS setzt nach wie vor auf Gewaltakte gegen Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter sowie beispielsweise auf Brandstiftung, um Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen (ACLED 7.8.2019).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). [...] Seit 1. Oktober kam es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019; Standard 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Im Zuge dieser Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig, vom 2. bis zum 5. Oktober, wurde eine Ausgangssperre ausgerufen (Al Jazeera 5.10.2019; vgl. ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und eine Internetblockade vom 4. bis 7. Oktober implementiert (Net Blocks 3.10.2019; FAZ 3.10.2019; vgl. Rudaw 13.10.2019).

Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verletzte (BBC News 30.10.2019). Insbesondere betroffen waren bzw. sind die Städte Bagdad, Nasiriyah, Hillah, Basra und Kerbala (BBC News 30.10.2019; vgl. Guardian 27.10.2019; Guardian 29.10.2019). Am 28. Oktober wurde eine neue Ausgangssperre über Bagdad verhängt, der sich jedoch tausende Demonstranten widersetzen (BBC 30.10.2019; vgl. Guardian 29.10.2019). Über 250 Personen wurden seit Ausbruch der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober getötet (Guardian 29.10.2019) und mehr als 8.000 Personen verletzt (France24 28.10.2019). [...]

1.2.2 Volksmobilisierungseinheiten (XXXX)

Der Name "Volksmobilisierungseinheiten" (al-hashd al-sha'bi, engl.:

popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, XXXX), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017). Die XXXX werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der XXXX-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere "Minderheiten-Einheiten" der XXXX sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 20.4.2018). Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.2.2018).

Die XXXX unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.2.2018). Obwohl die XXXX laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten das Assad-Regime in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der XXXX an, obwohl ihre Organisationen Teil der XXXX sind. Alle XXXX-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und der iranischen Revolutionsgarde. Ende 2017 war keine einheitliche Führung und Kontrolle der XXXX durch Premierminister und ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Die Bemühungen der Regierung, die XXXX als staatliche Sicherheitsbehörde zu formalisieren, werden fortgesetzt, aber Teile der XXXX bleiben "iranisch" ausgerichtet. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 20.4.2018). Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den XXXX und den Kata'ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die XXXX waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen von Plünderungen und Gewalttaten durch die XXXX. Diese Meldungen haben sich mit dem Konflikt um die umstrittenen Gebiete zum Teil verschärft (AA 12.2.2018). [...]

Die XXXX (Liga der Rechtschaffenen oder Khaz'ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz'ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US- amerikanischen Truppen im Irak. XXXX unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata'ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierung, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Khaz'ali ist einer der bekanntesten Anführer der XXXX (Süß 21.8.2017).

Die XXXX (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali al-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden. Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren XXXX aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). [...]

1.2.3 Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung

Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.2.2018; vgl. CIA 12.7.2018). Nach dem Sturz Saddam Husseins wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und ein Freiwilligen-Berufsheer eingeführt. Finanzielle Anreize machen die Arbeit beim Militär zu einer attraktiven Karriere (Niqash 24.3.2016; vgl. Rudaw 15.12.2015).

Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu 7 Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Frage, inwieweit die irakischen Behörden in der Praxis im Falle von Desertion Strafverfolgung betreiben, kann nicht eindeutig beantwortet werden (MIGRI 6.2.2018).

Im Zuge des Zusammenbruchs der irakischen Streitkräfte im Jahr 2014 und des dreijährigen Kampfes gegen den IS schlossen sich viele Freiwillige den paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten (XXXX) an, was zu einem Rekrutierungswettkampf zwischen dem irakischen Verteidigungsministerium und den Volksmobilisierungseinheiten führte (CEIP 22.7.2015; vgl. ACCORD 22.8.2016).

Auch in der Autonomen Region Kurdistan herrscht keine Wehrpflicht. Kurdische Männer und Frauen können sich freiwillig zu den Peshmerga melden (DIS 12.4.2016; vgl. NL 1.4.2018, Clingendael 3.2018).

1.2.4 Minderheiten

In der irakischen Verfassung vom 15.10.2005 ist der Schutz von Minderheiten verankert (AA 12.2.2018). Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten unter weitreichender faktischer Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.2.2018).

Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Autonomen Region Kurdistan, oft benachteiligt (AA 12.2.2018).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22 Prozent) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20 Prozent) (AA 12.2.2018). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Allerdings ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen - eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnischkonfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.2.2018).

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäern, Kakai, Schabak und Christen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.2.2018).

In der Autonomen Region Kurdistan sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.2.2018; vgl. KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der Autonomen Region Kurdistan durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017).

Es gab auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Shabak und Christen) durch Behörden der Kurdischen Autonomieregierung in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 20.4.2018). Darüber hinaus empfinden Angehörige vonMinderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit in den sog. umstrittenen Gebieten aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.2.2018).

Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in der ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Provinz Diyala (AA 12.2.2018) [...]

Sunnitische Araber

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich 2017 vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.2.2018). Es gab zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, die XXXX und die Peshmerga (USDOS 20.4.2018). [...]

Kinder [...]

Kindersoldaten, Rekrutierung von Kindern

Es gibt keine Berichte, wonach von staatlicher Seite Kinder zum Dienst in den Sicherheitskräften einberufen oder rekrutiert werden (USDOS 20.4.2018). Kinder sind jedoch weiterhin in hohem Maße von gewaltsamer Rekrutierung und Verwendung durch mehrere im Irak operierende bewaffnete Gruppen gefährdet, einschließlich (aber nicht nur) durch den IS, die XXXX, Stammesgruppierungen, die Kurdische Arbeiterpartei PKK, und vom Iran unterstützte Milizen (USDOS 28.6.2018; vgl. USDOS 20.4.2018, UNGASC 16.5.2018). Es gibt Berichte, wonach eine Vielzahl an Kindern vom IS als Kindersoldaten eingesetzt wurde und von Umerziehungskampagnen traumatisiert ist. Zahlreiche Jugendliche sind nach Angaben der Vereinten Nationen wegen Terrorvorwürfen angeklagt oder verurteilt worden. XXXX-Einheiten rekrutieren weiterhin Kinder, bilden diese militärisch aus und setzen sie ein. Im Südirak und in den schiitischen Gegenden von Bagdad erinnern Plakate an gefallene minderjährige Kämpfer, die vornehmlich für die Brigaden der XXXX (AAH) und der Kata'ib Hizbollah (KH) gekämpft hatten. Die XXXX bot nach eigenen Angaben im Jahr 2017 militärische Ausbildungskurse für Kinder und Jugendliche im Alter von 15-25 Jahren an (USDOS 28.6.2018).

Sexuelle Minderheiten

Das Strafgesetzbuch des Irak verbietet gleichgeschlechtliche Intimität nicht (HRW 18.1.2018). [...]

Konfessionelle Milizen haben in den letzten Jahren wiederholt Mitglieder sexueller Minderheiten bedroht und verfolgt und werden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht (AA 12.2.2018). Lokale Quellen berichteten, dass Milizen "Tötungslisten" verfasst und als Angehörige sexueller Minderheiten wahrgenommene Männer hingerichtet haben (USDOS 20.4.2018). Unter den schiitischen Milizen der XXXX, wurden in den letzten Jahren vor allem den XXXX zahlreiche Gewalttaten homophober und transphober Natur zugeschrieben. Auch im Jahr 2017 kam es Berichten zufolge zu Tötungen schwuler Männer durch die XXXX (HRW 16.4.2018). Der IS veröffentlichte Videos über Hinrichtungen von Personen, die wegen homosexueller Aktivitäten angeklagt waren, einschließlich durch Steinigungen und das Werfen aus/von Gebäuden. Einige bewaffnete Gruppen starteten eine Kampagne gegen homosexuelle Personen in Bagdad (USDOS 20.4.2018).

Eine polizeiliche Untersuchung ist in den wenigsten Fällen bekannt geworden; die Polizei wird mitunter eher als Bedrohung denn als Schutzmacht empfunden (AA 12.2.2018). [...]

1.3 Zum Fluchtvorbringen:

1.3.1 Der Beschwerdeführer hat vorgebracht, er sei in seinem Imbiss von Angehörigen der XXXX aufgefordert worden, mit ihnen zu arbeiten, um andere Sunniten zu töten. Nachdem er abgelehnt habe, hätten sie ihm zwei Wochen gegeben, um sich ihnen anzuschließen. Er habe nach zehn Tagen das Lokal geschlossen und sich zuhause verbarrikadiert, worauf nach weiteren vier Tagen Angehörige der XXXX dorthin gekommen seien, erfolglos heftig gegen die Türe geklopft und dann auf diese einen Schuss abgegeben hätten. Nachdem der Beschwerdeführer durch die Hintertüre zu Nachbarn geflohen sei, habe seine Mutter die (vordere) Türe geöffnet und sei zusammengeschlagen worden, wobei die Täter ihr gesagt hätten, der Beschwerdeführer solle sich bei ihnen melden, sonst würden sie ihn umbringen.

1.3.2 Aus spezifischen Länderberichten ergibt sich im Zusammenhang mit der vorgebrachten Zwangsrekrutierung und Bedrohung Folgendes:

Die in London ansässige Online-Nachrichtenorganisation Middle East Eye (MEE), die Artikel freiberuflicher Journalisten und Beiträge von Think Tanks veröffentlicht, hält in einem Artikel vom Juni 2015 fest, dass sich tausende sunnitisch-muslimische Iraker den schiitischen bewaffneten Gruppen angeschlossen hätten. Diese schiitischen Gruppen würden in den sunnitischen Gebieten militante sunnitische Gruppen bekämpfen, nachdem im Sommer 2014 im sunnitisch dominierten Norden und Westen des Landes ein Drittel des irakischen Gesamtterritoriums dem IS in die Hände gefallen sei. Seitdem würden schiitische Milizen wie die Badr Organisation, XXXX (AAH) und Kata'ib Hezbollah-Irak das Rückgrat der XXXX bilden. Die XXXX seien von der irakischen Regierung im vergangenen Juni als Dachorganisation der gegen den IS kämpfenden bewaffneten Gruppen gebildet worden. [...]

In den sunnitischen Gebieten der Provinz Diyala, der sunnitisch dominierten Provinz Anbar und der Provinz Salahaddin seien viele neue sunnitische Bataillone, jeweils bestehend aus 250-600 Kämpfern, gebildet worden. Khalid Abdullah, Kommandant eines zur AAH gehörenden sunnitischen Battalions in Salahaddin, habe gesagt, dass er und seine Kämpfer sich Anfang des Jahres 2015 den AAH angeschlossen hätten und dass sie nun Seite an Seite mit ihnen für die Befreiung ihrer Gebiete kämpfen würden. Die AAH hätten seine 600 Kämpfer bedingungslos bewaffnet und ausgebildet. Laut Experten sei es ein langfristiges Ziel, zu einer Polarisierung unter den sunnitischen Kämpfern beizutragen und sie davon zu überzeugen, sich einer der schiitischen Gruppen anzuschließen. Darüber hinaus sollten gemäßigte bewaffnete sunnitische Gruppen etabliert werden, die mit Schiiten in Verbindung stehen würden, um damit den extremistischen sunnitischen Gruppen in den sunnitischen Gebieten etwas entgegen setzen zu können:

(ACCORD: Anfragebeantwortung zum Irak: Anwerbung von sunnitischen Arabern durch schiitische Milizen (insbesondere XXXX) im Jahr 2014; Folgen 2019 für Personen, die sich 2014 Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen widersetzten; Gebietskontrolle von XXXX [a-11083-2], 19.09.2019; www.ecoi.net/de/dokument/2016777.html)

Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) schreibt im Februar 2016, dass nach einem Selbstmordattentat ["On 11 January"] auf ein in schiitischem Besitz befindliches Café in Muqdadiya in der Provinz Diyala schiitische Milizen willkürlich sunnitische Männer entführt und getötet hätten. Sunnitische Journalisten, die über die Vorkommnisse in Muqdadiya berichtet hätten, seien ebenfalls ins Visier genommen worden. Ein Reporter und ein Kameramann des Senders Al-Sharqiya seien von Milizen gezwungen worden, an einem Checkpoint im Südwesten von Muqdadiya aus ihrem Auto auszusteigen. Dort seien sie von den Milizkämpfern erschossen worden. [...]

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo, ein unabhängiges Organ der norwegischen Migrationsbehörden, das verschiedenen AkteurInnen innerhalb der Migrationsbehörden Herkunftsländerinformationen zur Verfügung stellt, schreibt in einer Zusammenfassung zur Sicherheitslage in der Provinz Diyala vom Jänner 2019, dass viele der Aktivitäten der Gruppe Islamischer Staat (IS) im Jahr 2018 von den Hamrin-Bergen zwischen den Provinzen Kirkuk, Salahaddin und Diyala aus gesteuert worden seien. [...]

Landinfo fährt in einem Unterkapitel zur Lage in Al-Muqdadiya fort, dass laut einer Umfrage der Organisation REACH die Bevölkerung des Distrikts sehr gemischt sei und es in der Stadt Muqdadiya und im ganzen Distrikt starke konfessionelle Spannungen gebe.

(ACCORD: Anfragebeantwortung zum Irak: Provinz Diyala:

Sicherheitslage in der Stadt XXXX; Humanitäre Lage in der Stadt XXXX, insbesondere von Kindern; Sicherheitslage von Sunniten in Bagdad [a-10859], 28. 02. 2019, www.ecoi.net/de /dokument/2003477.html)

Al Araby Al Jadeed, berichtet im April 2018, dass die in Muqdadiya in der Provinz Diyala präsenten Milizen, allen voran die Badr-Miliz und XXXX, das alltägliche Leben in der Stadt, die Märkte, die Verwaltung und die Checkpoints am Eingang der Stadt kontrollieren. Sie seien laut Angaben der Zeitung auch in den Handel mit Drogen verwickelt, die aus dem nahegelegenen Iran importiert würden (Al Araby Al Jadeed, 25. April 2018).

In einem im Jänner 2019 veröffentlichten Bericht zur Sicherheitslage in Baqubah, der Hauptstadt von Diyala, mit Stand November 2018, schreibt das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo zum Fehlen aktueller Berichte zu Übergriffen der Volksmobilisierungseinheiten auf die sunnitische Bevölkerung, dass dies ein Zeichen dafür sei, dass die Volksmobilisierungseinheiten und andere Ordnungskräfte die Stadt selbst fest unter ihrer Kontrolle hätten. Dennoch würden die ländlichen Gebiete in der Nähe der Stadt zu den anfälligsten für IS-Angriffe zählen, was wahrscheinlich bedeute, dass die irakischen Sicherheitskräfte und Volksmobilisierungseinheiten in diesen Gebieten nach IS-Anhängern suchen würden, wovon häufig nicht nur sunnitische AraberInnen betroffen seien. Da die Badr-Organisation eine derart starke Präsenz und Kontrolle in Diyala habe, könne man vermuten, dass die Presse sich stark selbst zensiere, wenn sie über das Vorgehen der Volksmobilisierungseinheiten in der Provinz berichte.

(ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documen-tation: Anfragebeantwortung zum Irak: Lage für sunnitische Araber in Diyala: Übergriffe durch schiitische Milizen, allgemeine Sicherheitslage; Versorgungslage für RückkehrerInnen nach Diyala; Sicherheitslage und Versorgungslage insbesondere für sunnitische RückkehrerInnen in Bagdad [a-11173-1], 22.01.2020) www.ecoi.net/de/dokument/2025032.html)

1.3.3 Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat aus anderen als aus Gründen der allmeinen Sicherheit verlassen hätte. Es kann nicht festgestellt werden, dass er eine Verfolgung oder eine Bedrohung durch XXXX oder eine andere Miliz erlitten hätte, um ihn zum Beitritt oder zur Unterstützung zu bewegen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer Verfolgung oder Diskriminierung droht, weil er Sunnit oder weil er Araber ist.

1.3.4 Es kann nicht festgestellt werden, dass ihm aus anderen, und sei es auch unterstellten, Gründen der politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Herkunftsstaat staatliche Verfolgung oder eine private Verfolgung drohen würde, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könnte oder wollte.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben im Rahmen der Verhandlung, wo der Beschwerdeführer als Partei befragt wurde, und durch die Einsichtnahme in den Akt des BFA unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers sowie in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden.

2.1 Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des BFA und der Gerichtsakten. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit sowie seiner Glaubenszugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und die Feststellungen des bekämpften Bescheids, ebenso zur Ausbildung und Tätigkeit des Beschwerdeführers, jeweils aktualisiert durch die jüngsten Angaben, zuletzt bei der Verhandlung.

Betreffend den Ausreisezeitpunkt war keine genauere Feststellung möglich, weil der Beschwerdeführer einerseits angegeben hat, er sei am 09.05. mit dem Flugzeug nach Ankara geflogen, von dort mit dem Bus nach Kirshehir (Kirsehir), wo er drei Monate bei einem Freund verbracht habe, anschließend mit dem Bus über Izmir nach Bodrum und mit einem Schlauchboot von der Türkei auf die griechische Insel Kos. Letzteres sei etwa 10 Tage vor seiner Erstbefragung am 28.10. gewesen.

Nimmt man für die beiden Busreisen je einen Tag an (laut Routenplaner rund 2,5 und rund 12 Autostunden), dann wäre der Beschwerdeführer etwa Mitte August in Kos eingetroffen, wo er allerdings erst am 16.10. aufgegriffen wurde, also tatsächlich rund 10 Tage vor seiner Aussage. Damit ergibt sich der festgestellte Zeitrahmen für die Ausreise.

Die Anzahl der Geschwister war wegen der widersprüchlichen Angaben zu den Brüdern nicht genauer festzustellen (s. 2.4.6).

2.3 Zum Herkunftsstaat

Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Irak samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstands, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der Beschwerdeführer hat in der Verhandlung zu den Länderfeststellungen angegeben, dass (entsprechend dem oben erstzitierten ACCORD-Bericht dazu) schiitische Milizen, insbesondere XXXX, die etwa 15.000 Kämpfer und zwölf Sitze im Parlament habe, im Irak aktuell präsent seien. Dem Länderinformationsblatt sei zu entnehmen, dass im Zentralirak, insbesondere in Diyala, auch der "IS" über massive Verstecke verfüge. Damit hat er die Länderfeststellungen ergänzt und (zum "IS") sinngemäß zitiert, ist ihnen jedoch nicht qualifiziert entgegengetreten.

2.4 Zum Fluchtvorbringen und zur Rückkehrperspektive

2.4.1 Wie bereits beim BFA vermochte der Beschwerdeführer auch in der mündlichen Verhandlung kein plausibles Geschehen darzulegen, das ihn zur Flucht veranlasste.

2.4.2 Erstbefragt gab er der Polizei an (AS 7): "Wir wurden als Sunniten von den schiitischen Milizen bedroht, unser Haus und mein Restaurant wurde mir von Ihnen genommen." Die Milizen hätten auch zwei seiner Onkel entführt, und es gäbe keine Sicherheit im Irak.

Nach einem halben Jahr einvernommen, gab er erstmals den angeblichen Rekrutierungsversuch an; er sei von XXXX bedroht worden. Das Viertel von XXXX, in dem er gewohnt habe, sei mehrheitlich von Schiiten beherrscht. Nach dem (oben unter 1.3.1 referierten) Angriff und dem Schuss habe er bei einem Freund genächtigt, der ihn am nächsten Tag zum Busbahnhof gebracht habe, von wo er nach Bagdad gefahren sei (AS 29 f), während die Familie zur verheirateten Schwester nach Baqubah gezogen sei. In Bagdad habe er sich einen Monat bei einem Freund aufgehalten und ein Touristenvisum für die Türkei besorgt. Das Haus hätten sie ihm nicht genommen, sondern dieses in die Luft gesprengt, wovon er während seiner Zeit in der Türkei durch seine Mutter erfahren habe. Zugleich führte er aus, er glaube, dass die Miliz nur hinter ihm her sei (AS 31).

In der Beschwerdeverhandlung sagte er dann aus, er wisse nicht, ob es sich um XXXX gehandelt habe, er gebe viele andere Milizen, darunter auch XXXX und die Volksmobilisierungseinheiten. Diejenigen, die ihn bedroht hätten, seien täglich in seinen Imbiss gekommen, wo er ebenso täglich gewesen sei. Sie hätten verlangt, dass er den Imbiss zusperre und sich ihnen anschließe. Befragt, warum Schiiten einen Sunniten ausgewählt haben sollten, um Sunniten anzugreifen, gab er an, jeder Sunnit, der in einer schiitischen Region wohne, sei gezwungen mitzumachen, sonst müsse er die Region verlassen oder werde getötet.

2.4.3 Aus dem Länderinformationsblatt ergibt sich, dass die Miliz XXXX (wie auch XXXX) zu den Volksmobilisierungseinheiten, englisch kurz "XXXX", gehört. Sie gilt als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb dieser XXXX. Erwähnt wird sie im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen und Gewalttaten an Homosexuellen. Die Rede ist auch von einer 2015 bestehenden Konkurrenz beim Rekrutieren zwischen XXXX und Verteidigungsministerium, weil sich damals viele Freiwillige den XXXX anschlossen. Nirgends erwähnt ist allerdings eine zwangsweise Rekrutierung erwachsener Sunniten durch XXXX oder sonst durch schiitische Milizen.

Demgegenüber hat der Beschwerdeführer sichtlich XXXX und XXXX als zwei unterschiedliche Milizen vor Augen, was nahelegt, dass er an Ort und Stelle wenig mit Milizen der Schiiten zu tun hatte. Auch seine Stellungnahme zu den fehlenden Hinweisen auf eine solche Rekrutierung steht nicht in Einklang mit den Länderberichten, wenn er angab: "Vielleicht gilt das in den anderen Regionen. In Kurdistan schaut es anders aus. Bei uns ist ein großer Teil der Sunniten geflüchtet oder wurde getötet. Wer geblieben ist, musste sich den Milizen anschließen."

Den Länderinformationen nach ist die Provinz Diyala ethnisch-konfessionell sehr heterogen. Die Stadt XXXX liegt im mehrheitlich sunnitischen Teil, im Gegensatz zur Hauptstadt Baqubah, wozu der Beschwerdeführer in der Verhandlung nur angab, dass in der Stadt XXXX die Schiiten die Mehrheit bildeten und einräumte, es gäbe Bezirke, die sunnitisch-schiitisch gemischt seien.

Zwar wird wie festgestellt für Anfang 2019 von starken konfessionellen Spannungen in der Stadt und im Bezirk XXXX berichtet, und auch weiters, dass schiitische Milizen 2016 sunnitische Männer entführt und getötet haben. Dafür, dass alle Sunniten gezwungen wären, sich schiitischen Milizen anzuschließen, ist allerdings kein Hinweis zu finden. Gegen die Richtigkeit der Angaben des Beschwerdeführers betreffend den Druck auf Sunniten spricht auch, dass laut den Länderberichten die XXXX und andere Ordnungskräfte Baqubah fest unter ihrer Kontrolle (per 2018) haben, dennoch aber die Familie des Beschwerdeführers 2015 dorthin gezogen ist und weiterhin dort wohnt und ihr Auskommen hat (mit den Worten des Beschwerdeführers in der Verhandlung. "Sie sagen, dass die Lage nicht so gut ist, aber es geht ihnen.")

2.4.4 All dies spricht dagegen, dass in XXXX oder generell in Diyala Sunniten wie der Beschwerdeführer von Milizen gezwungen würden, "andere Sunniten zu töten" (AS 30 f) oder unschuldige Menschen umzubringen (wie die Beschwerde ausführt).

Der Beschwerdeführer hat auch den Kreis der angeblich Bedrohten jeweils anders beschrieben. Zunächst die Familie ("Wir wurden ...

bedroht, unser Haus und mein Restaurant wurde mir ... genommen", AS

7), dann nur er ("... ich glaube, dass die Miliz nur hinter mir her

ist.", AS 31) und schließlich alle Sunniten dort ("Jeder ... ist

gezwungen mitzumachen, ...", Verhandlung S. 7).

2.4.5 Schließlich fällt neben der Steigerung des Vorbringens (2.4.2) auch auf, dass einige Elemente der Erzählung reichlich lebensfremd erscheinen. Dazu gehört die angebliche Sprengung des Hauses nach dem Auszug der Bewohner, für die kein Grund ersichtlich ist. Ebenso bliebt offen, warum der Beschwerdeführer nach Erkennungsmerkmalen befragt letztlich in der Verhandlung gegenüber der Einvernahme beim BFA doch nicht angeben kann, welcher Miliz die Personen angehörten, die angeblich täglich sein Lokal mit nur acht Sitzplätzen besuchten. Auch ist nicht einsichtig, warum diese erwarten hätten sollen, dass der Beschwerdeführer seinen Betrieb schließt (wie er in der Verhandlung angab), statt ihn durch die beiden Angestellten weiter führen zu lassen.

2.4.6 Die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers leidet zudem durch Unstimmigkeiten auch abseits des Fluchtvorbringens, wie betreffend den Verbleib seines Reisepasses ("Beim Schlepper abgegeben", AS 5, versus "im Meer verloren", AS 29 f und auf Nachfrage in der Verhandlung), die Vornamen und die Zahl seiner Brüder (M., A. und A. außerhalb der EU, keine in der EU, AS 5, versus derzeit Wohngemeinschaft mit älterem Bruder H. in der Verhandlung) sowie den Beruf des Vaters (Assistenzarzt, AS 30, versus - auf Vorhalt der für ein Arztkind kurzen Schulausbildung des Beschwerdeführers - "Arztassistent" in der Verhandlung) und die Auslastung seines Lokals ("Ich habe von 08:00 Uhr in der Früh bis 19:00 Uhr [...] geöffnet gehabt. Die meisten Gäste hatten wir morgens. Nicht ganz früh, sondern so um 12:00 Uhr, 13:00 Uhr. Im Laufe des Tages kamen immer mehr Gäste.").

2.4.7 Unter Berücksichtigung all dessen ist es dem Beschwerdeführer, auch mithilfe zusätzlicher Länderberichte im Beschwerdeverfahren, wie bereits beim BFA nicht gelungen, substantiiert und nachvollziehbar darzutun, dass er eine Verfolgung oder eine Bedrohung durch XXXX oder eine andere Miliz erlitten hätte, um ihn zum Beitritt oder zur Unterstützung zu bewegen, dass ihm Verfolgung oder Diskriminierung droht, weil er Sunnit oder weil er Araber ist, und auch nicht dass ihm aus anderen, und sei es auch unterstellten, Gründen der politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Herkunftsstaat staatliche Verfolgung oder eine private Verfolgung drohen würde, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könnte oder wollte.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerde:

3.1 Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I):

3.1.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht, und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

3.1.2 Zum Vorbringen des Beschwerdeführers ist festzuhalten, dass das Geschilderte soweit es die Bedrohung des Beschwerdeführers vor der Ausreise und die Fluchtgründe betrifft - wie es bereits das BFA sah - als unglaubwürdig, wenig wahrscheinlich und damit in seiner Gesamtheit als konstruiertes Vorbringen erscheint, das im Laufe des Verwaltungsverfahrens und hernach vor dem Verwaltungsgericht modifiziert und gesteigert wurde.

Wie die Feststellungen zeigen, hat der Beschwerdeführer damit also keine Verfolgung oder Bedrohung glaubhaft gemacht, die asylrelevante Intensität erreicht. Da auf eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers auch sonst nichts hinweist, ist davon auszugehen, dass ihm keine Verfolgung aus in den in der GFK genannten Gründen droht.

Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, sind ebenso wie persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der GFK.

Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die nur gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides erhobene Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zum Beweismaß beim Fluchtvorbringen zur Feststellung asylrelevanter Verfolgung.

Die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage(n) kamen nicht hervor.

Schlagworte

Asylantragstellung, asylrechtlich relevante Verfolgung,
Asylverfahren, begründete Furcht vor Verfolgung, Fluchtgründe,
Glaubhaftmachung, Glaubwürdigkeit, Verfolgungsgefahr,
Verfolgungshandlung, wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I419.2131725.1.00

Zuletzt aktualisiert am

05.06.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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