TE Lvwg Erkenntnis 2019/8/13 LVwG-340-1/2019-R11

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.08.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

13.08.2019

Norm

MSG Vlbg 2010 §8 Abs1
MSG Vlbg 2010 §8 Abs3
MSV Vlbg 2010 §9 Abs4 liti
ASVG §330a

Text

Im Namen der Republik!

Erkenntnis

Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg hat durch sein Mitglied Mag. Pathy über die Beschwerde der A B, B, vertreten durch Dr. R P, W, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft B vom 16.11.2018 betreffend Mindestsicherung, zu Recht erkannt:

Gemäß § 28 Abs 1 und 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) wird der Beschwerde Folge gegeben und der angefochtene Bescheid so abgeändert, dass die Mindestsicherung nicht in Form eines Darlehens und ohne Bedingungen gewährt wird und somit folgender Teil des Spruches ersatzlos entfällt:

„Die Mindestsicherung wird bis zur Höhe des Verkehrswertes der Liegenschaft […] in Form eines Darlehens gewährt. Das Darlehen wird spätestens beim Ableben von Frau […] zur Rückzahlung fällig gestellt. Zur grundbücherlichen Sicherstellung des Darlehens ist […] eine Höchstbetragshypothek in Höhe von € 63.000,00 einzutragen.

Die Bewilligung erfolgt unter der Bedingung, dass die Wohnung […] innerhalb von drei Monaten zu vermieten und der Mietertrag einzusetzen ist. Weiter wird die Bewilligung unter der Bedingung erteilt, dass […] eine verbücherungsfähige Pfandbestellungsurkunde […] vorgelegt wird.“

Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG) eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof zulässig.

Begründung

Angefochtener Bescheid; Gegenstand des Verfahrens

1.   Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin einer Wohnung. Sie lebt seit dem 01.09.2018 in einer Pflegewohngemeinschaft und hat zur Abdeckung dieser Kosten Mindestsicherung beantragt.

2.   Das Verbot des Pflegeregresses, also das Verbot, im Rahmen der Sozialhilfe auf das Vermögen zuzugreifen, gilt bei Personen, die in einer „stationären Pflegeeinrichtung“ aufgenommen sind.

In diesem Verfahren geht es zunächst um die Frage, ob die Pflegewohngemeinschaft, in der sich die Beschwerdeführerin aufhält, eine stationäre Pflegeeinrichtung im Sinne des § 330a ASVG ist.

Sollte es sich um eine stationäre Pflegeeinrichtung handeln, stellt sich außerdem die Frage, ob trotz des Verbots des Pflegeregresses von der Beschwerdeführerin die Vermietung ihrer Wohnung verlangt werden darf.

3.   Die Bezirkshauptmannschaft hat im angefochtenen Bescheid Mindestsicherung gewährt. Die Mindestsicherung wurde in Form eines Darlehens und unter der Bedingung gewährt, dass eine Wohnung vermietet und der Mietertrag zur Abdeckung der Mindestsicherung eingesetzt wird.

Der Spruch des Bescheides lautet auszugsweise:

„Für Frau [...] werden die Unterkunfts- und Verpflegskosten in der Pflegewohngemeinschaft B[…] ab dem 01.09.2018 nach Maßgabe nachstehender Vorschreibungen übernommen:

Frau […] muss von den eigenen Einkünften einsetzen

a) 80 % der monatlichen Pension sowie

b) das Pflegegeld, soweit es 10 % der Stufe 3 übersteigt.

Die Mindestsicherung wird bis zur Höhe des Verkehrswertes der Liegenschaft EZ […] in Form eines Darlehens gewährt. Das Darlehen wird spätestens beim Ableben von Frau […] zur Rückzahlung fällig gestellt. Zur grundbücherlichen Sicherstellung des Darlehens ist […] eine Höchstbetragshypothek in Höhe von € 63.000,00 einzutragen.

Die Bewilligung erfolgt unter der Bedingung, dass die Wohnung […] innerhalb von drei Monaten zu vermieten und der Mietertrag einzusetzen ist. Weiter wird die Bewilligung unter der Bedingung erteilt, dass […] eine verbücherungsfähige Pfandbestellungsurkunde […] vorgelegt wird.

Rechtsgrundlage: […]“

[…]“.

4.   Der Bescheid wurde im Wesentlichen wie folgt begründet:

Die Pflegewohngemeinschaft sei eine alternative Wohnform und damit keine stationäre Pflegeeinrichtung im Sinne des § 330a ASVG. Der Vermögensregress sei daher zulässig.

Gemäß § 5 Abs 3 lit c Mindestsicherungsverordnung dürften Geldleistungen nur dann als Darlehen gewährt werden, falls die unmittelbare Verwertung des Vermögens des Hilfsbedürftigen eine besondere Härte darstellen würde oder die Verwertung des Vermögens unwirtschaftlich wäre oder nicht möglich sie. Da diese Voraussetzungen erfüllt seien, habe die Mindestsicherung als Darlehen bewilligt werden können.

Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips seien nicht nur tatsächlich schon zur Verfügung stehende Einkünfte sondern auch Einkünfte, die in zumutbarer Weise erzielt werden könnten, zu berücksichtigen. Es dürfe daher die Vermietung der Wohnung verlangt werden, damit der Mietertrag zur Deckung der Unterkunfts- und Verpflegskosten eingesetzt werden könne.

Beschwerde

5.   Gegen diesen Bescheid hat die Beschwerdeführerin rechtzeitig Beschwerde erhoben. Die Beschwerde richtet sich ausschließlich gegen die Darlehensform bei der Gewährung der Mindestsicherung und gegen die Bedingung, dass die Wohnung zu vermieten und der Mietertrag einzusetzen ist.

6.   In der Beschwerde wird mit ausführlicher Begründung zusammengefasst Folgendes vorgebracht:

?        Die Rechtsform des Darlehens bei Gewährung der Mindestsicherung sei rechtswidrig: Die Gewährung als Darlehen setze die rechtliche Zulässigkeit des Zugriffs auf das Vermögen voraus. Ein Vermögensregress sei aber aufgrund der in Verfassungsrang stehenden Bestimmung des § 330a ASVG ausgeschlossen, wenn es sich um die Unterbringung in einer stationären Pflegeeinrichtung handle. Die Pflegewohngemeinschaft sei eine stationäre Pflegeeinrichtung.

?        Die Bedingung, die Wohnung zu vermieten, sei rechts- und verfassungswidrig. Das Zugriffsverbot umfasse sämtliches Vermögen. Das beinhalte auch die Dispositionsfreiheit über das Eigentum und bedeute, dass das Vermögen des Hilfsbedürftigen nicht nur nicht verwertet werden dürfe, sondern auch hinsichtlich des Einsatzes eigener Mittel unberücksichtigt zu bleiben habe.

Sachverhalt

7.   Die Beschwerdeführerin lebt seit dem 01.09.2018 in der Pflegewohngemeinschaft B. Sie ist dort Tag und Nacht untergebracht.

Die Pflegewohngemeinschaft B. ist ein Angebot für Menschen, die nicht mehr selbstständig wohnen können oder wollen, die aber auch noch nicht auf eine Vollversorgung in einem Pflegeheim angewiesen sind. Das Konzept richtet sich an Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf entsprechend der Pflegestufen 1 bis 3. Kennzeichnend für dieses Konzept ist die Möglichkeit des selbstständigen Wohnens in eigenen Appartements bei gleichzeitiger Sicherstellung der erforderlichen Pflegeleistungen und einer umfänglichen Betreuung.

8.   Die Pflegewohngemeinschaft B. ist ein gemeinsames Projekt der Stiftung L., der W und der Stadt B.

Die Entscheidung, ob eine Person in die Pflegewohngemeinschaft aufgenommen wird, trifft die Leitung der Pflegewohngemeinschaft, eine Mitarbeiterin der Stiftung L.

Die Bewohner schließen mit der Stiftung L. einen Pflege- und Betreuungsvertrag ab. Gleichzeitig schließen sie einen Mietvertrag mit der W ab. Es ist nicht möglich, ein Pflegeappartement von der W zu mieten, ohne den Pflege- und Betreuungsvertrag mit der Stiftung L. abzuschließen.

9.   In der Pflegewohngemeinschaft B. gibt es 16 Appartement und derzeit 16 Bewohner oder Bewohnerinnen. Alle Appartements befinden sich im selben Gebäude. Es gibt zwei größere Gemeinschaftsräume und eine Verteilerküche/Cafe. Die Räume werden zu den Mahlzeiten und zur Tagesgestaltung genutzt.

10. In der Pflegewohngemeinschaft werden folgende Leistungen erbracht:

?    Vollpension mit vier Mahlzeiten täglich;

?    12-stündige Anwesenheit einer Präsenzmitarbeiterin;

?    Notrufdienst für die Nacht;

?    kulturelle Angebote und Veranstaltungen;

?    festliche Aktivitäten;

?    Vorträge und Informationsveranstaltungen;

?    Moderation des Zusammenlebens in der Wohnanlage;

?    Unterstützung bei behördlichen Angelegenheiten;

?    Vermitteln von externen Dienstleistern wie Frisör, Fußpflege, Physiotherapie usw.

Außerdem werden entsprechend der Pflegestufe folgende Betreuungsleistungen erbracht:

?    Hilfe bei der Wohnungsreinigung;

?    Hilfe beim Wäsche waschen und Bügeln;

?    Versorgung mit Bettwäsche und Handtücher;

?    Hausmeisterdienst.

11. Pflegeleistungen werden von Mitarbeiterinnen des Krankenpflegevereins übernommen. Die Leistungen werden zwischen dem Heimträger, dem Heimbewohner und dem Krankenpflegeverein entsprechend der jeweiligen Pflegestufe vereinbart. Die Behandlungspflege wird je nach Bedarf und Erfordernis sowie auf Anordnung des behandelnden Arztes erbracht.

12. Zu den Pflichten der Heimträgerin zählen insbesondere:

?        Erbringung der angemessenen Pflege;

?        Sicherstellung der Einhaltung der ärztlich verordneten medizinisch-pflegerischen Maßnahmen;

?        Sicherstellung der regelmäßigen Nahrungsaufnahme auf geeignete Weise;

?        Hintanhaltung einer Verwahrlosung der Bewohner;

?        Verpflichtung der Trägerin bei Bedarf einen Sachwalter für den Bewohner anzuregen.

13. Die Mitarbeiter der Stiftung L. sind täglich von 07.00 Uhr bis 19.00 Uhr anwesend. In der Pflegewohngemeinschaft B. werden derzeit folgende Personalstellen eingesetzt:

1,0 VZÄ Diplomsozialbetreuerin Altenarbeit

Pflegedienstleistung (DGKP, MSc), wird bei Bedarf konsultatorisch beigezogen;

1,40 VZÄ Heimhilfe;

1,60 VZÄ Hilfskräfte in der Betreuung;

0,90 VZÄ Hauswirtschaftskräfte;

0,10 VZÄ Haustechniker;

1,0 VZÄ Zivildiener/freiwilliges soziales Jahr.

Im Gebäude gibt es auch eine Wohngruppe der Le Vorarlberg. Die Nachtnotrufbereitschaft wird jeweils von einem Mitarbeiter der Le übernommen, der während der Nacht im Haus anwesend ist. Die Mitarbeiter der Le besitzen nicht zwingend eine Pflegeausbildung, sind jedoch zumindest als Ersthelfer geschult.

14. Die Beschwerdeführerin bezieht eine Pension und Pflegegeld der Stufe 3. Außerdem ist sie Eigentümerin einer Einzimmerwohnung in Bregenz. Weiteres Einkommen oder Vermögen hat sie nicht.

Erwägungen zur Feststellung des Sachverhalts

15. Dieser Sachverhalt wird aufgrund des Akteninhaltes als erwiesen angenommen. Er ist im Wesentlichen unstrittig. Die Feststellungen im Zusammenhang mit der Pflegewohngemeinschaft stützen sich auf einen Pflege- und Betreuungsvertrag, der sich im Mindestsicherungsakt befindet, sowie eine Stellungnahme (E-Mail) der Stiftung L. vom 05.07.2019. Die Parteien haben die Ausführungen in dieser Stellungnahme nicht bestritten.

16. Eine mündliche Verhandlung wurde nicht beantragt und war auch nicht erforderlich. Der Sachverhalt ist unstrittig. Im Verfahren waren lediglich Rechtsfragen zu lösen, deren mündliche Erörterung keine weitere Klärung gebracht hätte.

Maßgebliche Rechtsvorschriften

17. Das Gesetz über die Mindestsicherung (MSG), LGBl.Nr. 64/2010, in der Fassung LGBl.Nr. 39/2018, lautet auszugsweise:

§ 8

Form und Ausmaß der Mindestsicherung

(1) Mindestsicherung wird grundsätzlich in Form von Geldleistungen gewährt. […]; weiters kann eine Geldleistung an einen Hilfsbedürftigen, der nach § 5 Abs. 3 in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, durch Zahlung an den Rechtsträger der stationären Einrichtung erbracht werden. Geldleistungen können im Falle des § 6 und des Abs. 4 auch als Darlehen gewährt werden. […] Das Ausmaß der Mindestsicherungsleistung ist im Einzelfall unter Berücksichtigung eines zumutbaren Einsatzes der eigenen Kräfte, insbesondere der eigenen Arbeitskraft, und Mittel zu bestimmen.

(2) Beim Einsatz der eigenen Kräfte ist auf die persönliche und familiäre Situation des Hilfsbedürftigen, insbesondere auf den Gesundheitszustand, das Lebensalter, die Arbeitsfähigkeit, die Zumutbarkeit einer Beschäftigung, die geordnete Erziehung der Kinder, die Führung eines Haushaltes und die Pflege von Angehörigen Bedacht zu nehmen.

(3) Die eigenen Mittel, wozu das gesamte Vermögen und Einkommen gehört, dürfen bei der Bemessung der Mindestsicherung insoweit nicht berücksichtigt werden, als dies mit der Aufgabe der Mindestsicherung unvereinbar wäre oder für den Hilfsbedürftigen oder dessen Angehörige eine besondere Härte bedeuten würde. Kleinere Einkommen und Vermögen, insbesondere solche, die der Berufsausübung dienen, sind nicht zu berücksichtigen. […] Bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, ist das Vermögen überhaupt nicht zu berücksichtigen.

(4) Nach Abs. 3 zu berücksichtigendes Vermögen ist einer unmittelbaren Verwertung dann nicht zuzuführen, wenn dies für den Hilfsbedürftigen oder dessen Angehörige eine besondere Härte bedeuten würde oder die Verwertung des Vermögens unwirtschaftlich wäre oder nicht möglich ist.

[(5) bis (6b) …]

(7) Die Landesregierung hat durch Verordnung nähere Vorschriften über die Arten, die Form und das Ausmaß der Mindestsicherung zu erlassen; weiters darüber, inwieweit das Vermögen und das Einkommen nicht zu berücksichtigen sind. Schließlich sind nähere Vorschriften über die Arten der in Betracht kommenden integrationsfördernden Maßnahmen sowie über die Inhalte der Integrationsvereinbarung zu treffen.

(8) […].

[…]

§ 39

Entscheidungsfrist, Beschwerde,

Unwirksamkeit des Beschwerdeverzichts

[…]

(2) Bescheide nach diesem Gesetz sind schriftlich zu erlassen. Bescheide über die Gewährung der Mindestsicherung können unter Vorschreibung von Auflagen, Bedingungen und Befristungen erlassen werden, soweit dies zur Sicherstellung der gesetzlichen Voraussetzung des zumutbaren Einsatzes der eigenen Kräfte und Mittel (§ 8 Abs. 1 bis 3) erforderlich ist.

[…].“

18. Der § 9 Mindestsicherungsverordnung (MSV), LGBl.Nr. 71/2010, zuletzt geändert durch LGBl.Nr. 105/2017, lautet auszugsweise:

„§ 9

Berücksichtigung von eigenen Mitteln sowie Leistungen Dritter

(1) Nach Maßgabe der Abs. 2 bis 6 sind bei der Ermittlung des Anspruchs auf Leistungen der Mindestsicherung

     […]

     c) in einer stationären Pflegeeinrichtung die Einkünfte der hilfsbedürftigen Person sowie die ihr zur Verfügung stehenden Leistungen Dritter

zu berücksichtigen.

[…]

(4) Bei der Ermittlung des Anspruchs gemäß Abs. 1 dürfen Vermögen nicht berücksichtigt werden, wenn durch deren Verwertung eine Notlage erst ausgelöst, verlängert oder deren Überwindung gefährdet werden könnte. Dies gilt für

     […]

     i) Vermögen von Personen, die in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht sind.

[…]“.

19. Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) lautet auszugsweise:

„ABSCHNITT IIa

Verbot des Pflegeregresses

[BGBl. Nr. 189/1955 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 125/2017]

§ 330a. (Verfassungsbestimmung) Ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflege-einrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten ist unzulässig.

[…]

Weitere Schlussbestimmungen zu Art. 1 des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017

[BGBl. Nr. 189/1955 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 125/2017]

§ 707a. (1) […]

(2) (Verfassungsbestimmung) § 330a samt Überschrift in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017 tritt mit 1. Jänner 2018 in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt dürfen Ersatzansprüche nicht mehr geltend gemacht werden, laufende Verfahren sind einzustellen. Insoweit Landesgesetze dem entgegenstehen, treten die betreffenden Bestimmungen zu diesem Zeit-punkt außer Kraft. Nähere Bestimmungen über den Übergang zur neuen Rechtslage können bundesgesetzlich getroffen werden. Die Durchführungsverordnungen zu einem auf Grund dieser Bestimmung ergehenden Bundesgesetz sind vom Bund zu erlassen.“

Rechtliche Beurteilung

Stationäre Pflegeeinrichtung?

20. Eine stationäre Pflegeeinrichtung im Sinne des § 330a ASVG liegt vor, wenn die davon betroffenen Personen dort dauernd (Tag und Nacht) untergebracht sind und Pflege- und Betreuungsleistungen erhalten. Es genügt, wenn das Pflegepersonal in der Nacht lediglich über eine Rufbereitschaft zur Verfügung steht (vgl. VfGH vom 12.03.2019, G276/2018; VwGH vom 30.04.2019, Zl. 2018/10/0035).

Die Beschwerdeführerin ist in einer Pflegewohngemeinschaft untergebracht, in der sie Pflege- und Betreuungsleistungen erhält. Sie ist dort Tag und Nacht untergebracht und in der Nacht gibt es einen Notrufdienst.

Die Pflegewohngemeinschaft ist daher eine stationäre Pflegeeinrichtung im Sinne des § 330a ASVG.

Der Umstand, dass der Pflege- und Betreuungsvertrag und der Mietvertrag nicht mit derselben Einrichtung abgeschlossen werden, ändert nichts daran, dass es sich um eine stationäre Einrichtung handelt. Es ist nämlich nicht möglich, ein Appartement zu mieten, ohne gleichzeitig einen Pflege- und Betreuungsvertrag abzuschließen, sodass beide Verträge eine Einheit bilden und auch dasselbe rechtliche Schicksal teilen sollen.

Gewährung der Mindestsicherung als Darlehen?

21. Bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, darf das Vermögen bei der Gewährung von Mindestsicherung nicht berücksichtigt werden (vgl § 8 Abs 3 letzter Satz MSG).

Da die Beschwerdeführerin in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht ist, darf ihre Wohnung, die ein Vermögen ist, bei der Gewährung bei der Mindestsicherung nicht berücksichtigt werden.

22. Nach § 8 Abs 4 MSG darf die Mindestsicherung als Darlehen gewährt werden, wenn – abgesehen vom hier nicht relevanten Fall der Gewährung von Sonderleistungen – „nach Abs. 3 zu berücksichtigendes Vermögen“ nicht unmittelbar verwertet werden kann.

Die Wohnung der Beschwerdeführerin darf nach § 8 Abs 3 MSG gerade nicht berücksichtigt werden; sie ist kein „nach Abs 3 zu berücksichtigendes Vermögen“.

Die Voraussetzungen des § 8 Abs 4 MSG liegen damit nicht vor und die Mindestsicherungsleistung durfte nicht als Darlehen gewährt werden.

Gewährung der Mindestsicherung unter der Bedingung, die Wohnung zu vermieten?

23. Die Behörde war auch nicht berechtigt, eine Vermietung der Wohnung zu verlangen und die Mindestsicherung unter einer entsprechenden Bedingung zu gewähren.

24. Nach § 8 Abs 3 letzter Satz MSG ist bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, das Vermögen „überhaupt nicht zu berücksichtigen“.

Mit dieser Regelung wird „in Übereinstimmung mit den Änderungen des SV-ZG, BGBl. I Nr. 125/2017, [wird] klargestellt, dass das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen untergebrachten Personen, die Mindestsicherung beziehen, bei der Beurteilung der Hilfsbedürftigkeit bzw. bei der Bemessung der Mindestsicherung nicht berücksichtigt werden darf“ (vgl. Erläuterungen zur RV 119/2017).

Das MSG enthält keine Definition des Wortes „berücksichtigen“. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bedeutet „berücksichtigen“: etwas „beachten“, „nicht übergehen“, „in Betracht ziehen“, „in Rechnung stellen“ oder „in seine Überlegungen miteinbeziehen“ (vgl. Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1. Band 1980, Seite 621).

Die Behörde muss daher eine Liegenschaft „übergehen“, wenn sie die Hilfsbedürftigkeit beurteilt oder die Mindestsicherung bemisst. Sie darf die Liegenschaft nicht „in ihre Überlegungen miteinbeziehen“.

Wenn die Behörde Mindestsicherung unter der Bedingung gewährt, dass eine Liegenschaft vermietet wird, dann wird die Liegenschaft eben doch in die Überlegungen der Behörde miteinbezogen und damit berücksichtigt. Gerade das verbietet der § 8 Abs 3 letzter Satz MSG.

25. Dieses Ergebnis wird auch durch den § 9 Abs 4 MSV bestätigt. Im § 9 Abs 4 lit a bis i MSV hat der Verordnungsgeber jenes Vermögen aufgezählt, das die Behörde nicht berücksichtigen darf.

Im Einleitungssatz des § 9 Abs 4 MSV ist davon die Rede, dass Vermögen nicht berücksichtigt werden darf, wenn durch die „Verwertung“ eine Notlage erst ausgelöst, verlängert oder deren Überwindung gefährdet werden könnte.

Der Zusammenhang mit den Einleitungssatz zeigt, dass der Verordnungsgeber im § 9 Abs 4 lit a bis i MSV jene Vermögenswerte aufgezählt hat, bei deren Verwertung eine Notlage erst ausgelöst etc. würde. Der Verordnungsgeber hält die aufgezählten Vermögenswerte für nicht verwertbar.

Etwas „verwerten“ bedeutet, etwas (noch für etwas) „verwenden“, „ausnützen“, „gebrauchen“, oder „einen Nutzen daraus ziehen“ (vgl Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 6. Band 1984, Seite 561).

Durch die Vermietung einer Liegenschaft wird sie gebraucht und es wird aus ihr ein Nutzen gezogen. Die Vermietung ist eine Form der Verwertung einer Liegenschaft und damit nicht zulässig.

26. Die Richtigkeit dieser Überlegung zeigt auch ein Vergleich mit § 9 Abs 4 lit d und h MSV. In diesen Bestimmungen werden „Freibeträge“ von 4.200 Euro (für die „offene“ Mindestsicherung) und von 20.000 Euro (für die stationäre Mindestsicherung) vorgesehen.

Die Behörde darf vom Mindestsicherungsempfänger nicht verlangen, dass er diese Geldbeträge in einer bestimmten Form veranlagt, um möglichst hohe Zinsen (d.h. Einkünfte) zu erzielen. Diese Geldbeträge sollen vielmehr der hilfsbedürftigen Person zur freien Verfügung stehen.

Dasselbe muss aber auch für das im § 9 Abs 4 lit i MSV „freigelassene“ Vermögen gelten. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Littera i im § 9 Abs 4 MSV in dieser Hinsicht anders auszulegen wäre als die Litterae d oder h des § 9 Abs 4 MSV.

27. Die Verpflichtung zur Vermietung mag ein weniger starker Eingriff sein als die Verpflichtung zur Veräußerung.

Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber oder der Verordnungsgeber bestimmte Formen der „Verwertung“ oder der „Berücksichtigung“ von Vermögen erlauben wollte.

Durch die Formulierung „überhaupt nicht“ im § 8 Abs 3 letzter Satz MSG bringt der Gesetz-geber zum Ausdruck, dass das Vermögen „ganz und gar nicht“ berücksichtigt werden darf. Jede Form der Berücksichtigung oder Verwertung ist unzulässig, also auch die Vermietung.

28. Dieses Auslegungsergebnis entspricht auch dem § 330a ASVG, der den „Zugriff auf das Vermögen“ von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen verbietet.

Die Vermietung setzt einen Zugriff auf die Wohnung voraus, weil durch die Vermietung andere Formen der Nutzung oder Verwertung der Wohnung verhindert werden. Eine Vermietung beinhaltet daher einen Zugriff auf die Wohnung.

Dieser Zugriff mag nicht so gravierend sein wie bei einer Veräußerung der Wohnung. Dem § 330a ASVG lässt sich aber nicht entnehmen, dass nur bestimmte Formen des Zugriffs verboten sind.

29. Im Übrigen stünde es dem Landesgesetzgeber frei, über das verfassungsgesetzlich Gebotene hinauszugehen. Der Landesgesetzgeber könnte bestimmte Formen des Zugriffs auf ein Vermögen (wie z.B. die Vermietung) auch dann verbieten, wenn dieses Verbot nicht von der Verfassungsbestimmung des § 330a ASVG vorgeschrieben wäre.

30. Eine hilfsbedürftige Person ist verpflichtet, die eigenen Mittel in einem zumutbaren Ausmaß einzusetzen (vgl. § 8 Abs 1 letzter Satz MSG).

Es wird aber in der Mindestsicherungsverordnung näher konkretisiert, welches Vermögen eingesetzt werden muss und inwieweit es eingesetzt werden muss. Und im § 9 Abs 4 lit i MSV wird die Wohnung der Beschwerdeführerin zum „freigelassenen“ Vermögen erklärt, dessen Einsatz (Verwertung) nicht verlangt werden darf.

Im Übrigen ist anzumerken, dass die Beschwerdeführerin keine Einkünfte aus der Vermietung des Wohnhauses bezieht.

Zulässigkeit der Revision

31. Die Revision ist zulässig, da im gegenständlichen Verfahren eine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art 133 Abs 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im konkreten Fall fehlt. Soweit ersichtlich gibt es keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage ob es gegen den § 8 Abs 3 letzter Satz MSG und den § 9 Abs 4 lit i MSV verstößt, wenn bei der Berechnung der Mindestsicherung verlangt wird, eine Wohnung zu vermieten. Dasselbe gilt für die damit zusammenhängende Frage, ob die Vermietung ein verbotener Zugriff auf das Vermögen im Sinne des § 330a ASVG ist.

Schlagworte

Mindestsicherung, Auflage zur Vermietung von Wohnung

Anmerkung

Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof (04.05.2020, Ro 2019/10/0036) als unbegründet abgewiesen.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGVO:2019:LVwG.340.1.2019.R11

Zuletzt aktualisiert am

03.06.2020
Quelle: Landesverwaltungsgericht Vorarlberg LVwg Vorarlberg, http://www.lvwg-vorarlberg.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten