Entscheidungsdatum
31.01.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W131 2129735-1/57E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag Reinhard GRASBÖCK über die Beschwerde des XXXX , geb XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch RA Dr Gerhard MORY, Wolf-Dietrich-Straße 19, 5020 Salzburg, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.05.2016, Zl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 28 VwGVG iVm § 3 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (= Bf) reiste im Jahr 2014 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 13.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 17.11.2014 fand die Erstbefragung des Bf vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt, am 30.03.2016 wurde der Bf niederschriftlich vor der belangten Behörde zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der Bf gab im verwaltungsbehördlichen Verfahren stets an, Afghanistan aufgrund der Probleme im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Polizist verlassen zu haben.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 24.05.2016, welcher dem Bf nachweislich am 01.06.2016 durch Hinterlegung zugestellt wurde, wies die belangte Behörde den Antrag des Bf auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Gleichzeitig stellte die belangte Behörde dem Bf eine Rechtsberatungsorganisation für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (= BVwG) zur Seite.
3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vom Bf rechtzeitig erhobene Beschwerde. Mit der Beschwerde wird der gegenständlich angefochtene Bescheid zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften bekämpft. Der Beschwerde wurde ein Schreiben des Bf beigelegt, in welchem er nochmals seine Fluchtgründe darlegt.
4. Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt dem dazugehörigen Verwaltungsakt dem BVwG zur Entscheidung vor.
5. Am 30.07.2018 brachte der Bf, seither vertreten durch den ausgewiesenen Rechtsvertreter, eine Beschwerdeergänzung ein.
6. Am 31.07.2018 fand vor dem BVwG unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an der der Bf, sein ausgewiesener Rechtsvertreter und eine Vertrauensperson teilnahmen. Vertreter der belangten Behörde sind zu diesem Verhandlungstermin nicht erschienen. Die Verhandlung wurde zur Setzung weiterer Ermittlungsschritte vertagt.
7. Mit Schreiben des BVwG vom 19.12.2018 wurden den Parteien die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 sowie ein Bericht zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan übermittelt. Hierzu langten schriftliche Stellungnahmen des Bf und der belangten Behörde ein. In weiterer Folge wurden den Parteien ergänzende Berichte zur Lage in Afghanistan übermittelt, die Parteien brachten diverse Stellungnahmen in Vorlage.
8. Am 28.10.2019 fand vor dem BVwG unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine (fortgesetzte) mündliche Verhandlung statt, an der der Bf, sein ausgewiesener Rechtsvertreter, ein Vertreter der belangten Behörde und zwei Vertrauenspersonen des Bf teilnahmen und der Bf im fortgesetzten Beweisverfahren neuerlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen wurde. Der Rechtsvertreter des Bf erstattete ergänzendes Vorbringen und legte eine Arbeitsübersetzung zum Bericht von Dr Antonio Giustozzi für Landinfo vor. Die Verhandlung wurde zur Setzung weiterer Ermittlungsschritte vertagt.
9. Die belangte Behörde erstattete in weiterer Folge eine Stellungnahme zur mündlichen Verhandlung vom 28.10.2019 samt Beilagen. Diese wurde dem Bf zur Kenntnis gebracht.
10. Den Parteien wurde mit Schreiben des BVwG vom 15.11.2019 eine Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand: 13.11.2019) übermittelt.
11. Mit Eingabe vom 25.11.2019 langte ein weiterer beschwerdeergänzender Schriftsatz samt Beilagen ein. Dieser wurde der belangten Behörde mit der Möglichkeit zur Stellungnahme zur Kenntnis gebracht.
12. Am 29.11.2019 fand vor dem BVwG unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine (fortgesetzte) mündliche Verhandlung statt, an der der Bf, sein ausgewiesener Rechtsvertreter und ein Vertreter der belangten Behörde teilnahmen und der Bf im fortgesetzten Beweisverfahren neuerlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen und die Zeugin Frau XXXX zum Thema des Bestehens eines Privat- und Familienlebens des Bf in Österreich befragt wurde. Die Parteienvertreter erstatteten ergänzendes Vorbringen, der Beschwerdeführervertreter legte eine ergänzende Stellungnahme, eine E-Mail-Korrespondenz mit dem deutschen Innenministerium sowie diverse Integrationsunterlagen betreffend den Bf vor.
Am 29.11.2019 wurde auch der Schluss des Ermittlungsverfahrens verkündet.
13. Am 16.12.2019 erfolgte eine Äußerung des Beschwerdeführervertreters zur Verhandlungsniederschrift; unter einem legte dieser Auszüge aus dem Gutachten von Friederike Stahlmann an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vor. Diese Eingabe wurde der belangten Behörde zur Kenntnis gebracht.
14. Mit einem Schreiben, das mit 09.12.2019 datiert wurde, jedoch erst am 20.12.2019 an das Gericht übermittelt wurde, teilte die belangte Behörde dem BVwG mit, keine Einwände gegen die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 29.11.2019 zu haben und erstattete zugleich ergänzende - insb beweiserörternde - Äußerungen zum Vorbringen des Bf in der mündlichen Verhandlung.
15. Mit Eingaben vom 27.12.2019 und 07.01.2020 replizierte der Beschwerdeführervertreter auf die Äußerungen der belangten Behörde in ihrem Schreiben vom richtig: 20.12.2019 und legte weitere Urkunden bzw Beilagen vor, die allerdings mangels neuen erheblichen Beweiswerts nicht mehr näher verwertet werden mussten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Über den Verfahrensgang hinaus wird Folgendes festgestellt:
1.1. Zur Person des Bf und seiner individuellen Verfolgungs- und Bedrohungslage
Der Bf ist volljähriger Staatsangehöriger Afghanistans, ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum Islam schiitischer Ausrichtung. Er ist traditionell verheiratet und Vater eines minderjährigen Sohnes, der sich derzeit zusammen mit seiner Mutter im Iran aufhält.
Der Bf stammt aus der Provinz Ghazni, Bezirk XXXX , und besuchte dort sechs Jahre die Grundschule. Im Frühjahr 2010 meldete er sich im Rekrutierungsbüro der Polizei in Zabul, Qalat, an und wurde sodann in den einfachen Polizeidienst der afghanischen Nationalpolizei (= ANP) ohne Dienstrang aufgenommen. Der Bf ist durch Ablegung eines Diensteides eine dreijährige Dienstverpflichtung gegenüber dem afghanischen Staat eingegangen.
Der Bf wurde nach seiner Aufnahme in den Polizeidienst für den Wachdienst im Wahllager in Qalat eingeteilt, wo er Bekanntschaft mit seinem späteren Vorgesetzten, einem ranghöheren Polizeibeamten, machte und von diesem einige Monate später als sein Fahrer und Leibwächter eingesetzt wurde. Der Bf begleitete seinen Vorgesetzten fortan zu sämtlichen Terminen und strategischen Sitzungen.
Nach Absolvierung eines mehrwöchigen Basisausbildungskurses der ANP in der Polizeiakademie Qalat zu Beginn des Jahres 2011 erhielt der Bf sodann seinen offiziellen Dienstausweis, auf welchem sein Lichtbild abgedruckt ist und seine Dienststelle sowie sein Name und der Name seines Vaters ausgewiesen sind. Im Frühjahr 2011 kam der Dienstausweis des Bf abhanden und gelangte in die Hände der Taliban. Kurze Zeit darauf wurde der Bf unter Bezugnahme auf seinen Dienstausweis erstmals von den Taliban zur Zusammenarbeit aufgefordert. Der Bf verweigerte die Zusammenarbeit und erhielt danach Drohungen der Taliban. Da seine Dienststelle nicht für die Sicherheit des Bf garantieren konnte, entzog sich der Bf dem Polizeidienst und flüchtete in den Iran, wo er sich drei Jahre aufhielt, bevor er nach Europa einreiste.
Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Bf mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit landesweit eine Verfolgung durch die Taliban aufgrund einer ihm zumindest unterstellen politischen Gesinnung.
Der Bf reiste im November 2014 in Österreich ein und stellte hier am 13.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Bf ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat
Unter Bezugnahme auf das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage in Afghanistan getroffen:
1.2.1. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
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Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit
29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
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High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o. D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
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1.2.1.1 Zabul
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Die Provinz Zabul befindet sich entlang des konservativen Paschtunen-Gürtels. Sie hat eine historische Bedeutung für die Taliban, die ihren Kampf um die Kontrolle des Landes in den 1990er-Jahren von dort aus begonnen haben. Auch gehörte Mullah Mohammad Omar, der Gründer der Taliban-Bewegung, zum Stamm der Hotak, einem der beiden Hauptstämme der Provinz. Das Gefühl des Vergessenseins unter den Bewohnern von Zabul ist einem Bericht zufolge einer der Gründe für die starke Präsenz der Taliban in der Gegend (RFE/RL 16.12.2018).
Zabul zählt zu den relativ volatilen Provinzen im Süden Afghanistans; in der Provinz sind Aufständische in manchen Distrikten aktiv und versuchen Angriffe auf Regierungs- und Sicherheitsinstitutionen auszuführen, während die Regierungskräfte Sicherheitsoperationen durchführen (KP 6.7.2019; KP 3.6.2019; MENA FN 11.6.2019; KP 18.5.2019; KP 22.12.2018; RFE/RL 16.12.2018). Die RS-Mission registrierte im Oktober 2018 in vier Distrikten der Provinz (erhebliche) Aufständischenaktivität, während sechs Distrikte umkämpft waren und ein Distrikt unter Regierungskontrolle stand (SIGAR 30.1.2019).
Die Taliban sollen in der Vergangenheit unter anderem in Zabul gegen ISKP-Mitglieder gekämpft haben (RFE/RL 2.6.2019; vgl. GOC 21.5.2019; ARN 27.6.2018). Einem Bericht zufolge, konnten die Taliban den ISKP 2015-2016 in Zabul besiegen, jedoch soll er kurz darauf wieder in die ehemaligen Taliban-Hochburgen zurückgekehrt und immer noch dort präsent sein (GOC 21.5.2019). Ein Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Juni 2019 erwähnt jedoch keine ISKP-Präsenz in Zabul (UNSC 13.6.2019) und ein Bericht über die Aktivitäten des ISKP in Afghanistan vom Dezember 2018 registrierte im Jahr 2018 keine Anschläge des ISKP in der Provinz (CTC 12.2018).
Ein Bericht des UN-Sicherheitsrates zählte Zabul im Juni 2019 zu jenen Provinzen Afghanistans, wo zahlreiche ausländische terroristische Gruppierungen operieren und die Grenzregionen zu Pakistan als Rückzugsgebiet nutzen (UNSC 13.6.2019).
Die Provinz Zabul liegt in der Verantwortung des 205. ANA-Korps (USDOD 6.2019; KP 6.7.2019), das unter die NATO-Mission Train Advise Assist Command-South (TAAC-S), angeführt von US-Kräften, fällt (USDOD 6.2019).
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1.2.2. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung schränkt die Bewegung der Bürger gelegentlich aus Sicherheitsgründen ein [Anm.: siehe dazu auch Artikel 39 der afghanischen Verfassung] (USDOS 13.3.2019; vgl. MPI 27.1.2004, FH 4.2.2019). Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg (AA 2.9.2019). Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 13.3.2019, FH 4.2.2019). In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht (FH 4.2.2019, USDOS 13.3.2019). Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein (AA 2.9.2019).
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 2.9.2019).
Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu häufigerem Wohnortwechsel, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr" (AAN 19.3.2019).
Auch in größeren Städten erfolgt in der Regel eine Ansiedlung innerhalb von ethnisch geprägten Netzwerken und Wohnbezirken. Die Absorptionsfähigkeit der genutzten Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan bereits stark in Anspruch genommen. Dies schlägt sich sowohl in einem Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch in einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder (AA 2.9.2019).
Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen, für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangharhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen. Es gibt keinen öffentlichen Schienenpersonenverkehr (AA 2.9.2019).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig "gelbe Seiten" oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen (EASO 2.2018; vgl. BFA 13.6.2019). Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer (BFA 13.6.2019). Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 2.9.2019).
1.2.3. Sicherheitsbehörden
Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte (CIA 13.5.2019).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan's Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (USDOS 13.3.2019). Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanische bzw. Koalitionskräfte unterstützt (USDOD 12.2018).
Die autorisierte Truppenstärke der ANDSF wird mit 352.000 beziffert (USDOD 6.2019; vgl. SIGAR 30.7.2019): dies beinhaltet 227.374 Mitglieder der ANA und 124.626 Mitglieder der ANP. Die ALP zählt mit einer Stärke von 30.000 Leuten als eigenständige Einheit (USDOD 6.2019). Die zugewiesene (tatsächliche) Truppenstärke der ANDSF soll jedoch nur 272.465 betragen. Die Truppenstärke ist somit seit dem Beginn der RS-Mission im Jänner 2015 stetig gesunken. Der Rückgang an Personal wird allerdings auf die Einführung eines neuen Systems zur Gehaltsauszahlung zurückgeführt, welches die Zahlung von Gehältern an nichtexistierende Soldaten verhindern soll (SIGAR 30.7.2019; NYT 12.8.2019).
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Afghan National Police (ANP) und Afghan Local Police (ALP)
Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA (USDOD 6.2019; vgl. SIGAR 30.7.2019), jedoch ist es nach wie vor das Langzeitziel der ANP, sich in einen traditionellen Polizeiapparat zu verwandeln (USDOD 12.2018).
Dem Innenministerium (MoI) unterstehen die vier Teileinheiten der ANP: Afghanische Uniformierte Polizei (AUP), Polizei für Öffentliche Sicherheit (PSP, beinhaltet Teile der ehemaligen Afghanischen Polizei für Nationale Zivile Ordnung, ANCOP), Afghan Border Police (ABP), Kriminalpolizei (AACP), Afghan Local Police (ALP), und Afghan Public Protection Force (APPF). Das Innenministerium beaufsichtigt darüber hinaus drei Spezialeinheiten des Polizeigeneralkommandanten (GCPSU), sowie die Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA) (USDOD 12.2018). Der autorisierte Personalstand der ANP beträgt 124,626 (USDOD 6.2019), CSTC-A meldet dagegen eine Truppenstärke von 91.596.
3.650 Frauen dienen in der ANP (SIGAR 30.7.2019).
Im Gegensatz zur ANA bietet die ANP keine finanziellen Anreize für die Fortführung des Dienstes - eine mögliche Erklärung dafür, warum die ANA die ANP-Verbleibquoten übertrifft. Durch den Law and Order Trust Fund for Afghanistan (LOTFA), der die Mehrheit der ANP-Gehälter finanziert, wird ermöglicht die ANP-Gehälter an die steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen (USDOD 12.2019).)
Die ALP wird ausschließlich durch die USA finanziert (USDOD 6.2019) und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (USDOD 6.2019; vgl. SIGAR 30.7.2019). Die Mitglieder werden von Dorfältesten oder lokalen Anführern zum Schutz ihrer Gemeinschaften vor Angriffen Aufständischer ausgewählt (SIGAR 30.7.219; vgl. USDOD 6.2019). Die ALP untersteht dem Innenministerium, der Personalstand wird jedoch nicht den ANDSF zugerechnet (SIGAR 30.4.2019). Die Stärke der ALP, deren Mitglieder auch als "Guardians" bezeichnet werden, auf rund 30.000 Mann stark geschätzt (USDOD 6.2019; vgl. SIGAR 30.7.2019; vgl.) - davon waren rund 23.500 voll ausgebildet (SIGAR 30.7.2019).
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Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 13.3.2019).
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1.2.4. Wehrdienst und Rekrutierungen durch verschiedene Akteure
In Afghanistan gibt es keine Wehrpflicht. Das vorgeschriebene Mindestalter für die freiwillige Meldung beträgt 18 Jahre (CIA 7.5.2019; vgl. AA 2.9.2019). Da die Tätigkeit als Soldat oder Polizist für den großen Teil der jungen männlichen Bevölkerung eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten darstellt, besteht grundsätzlich kein Anlass für Zwangsrekrutierungen zu staatlichen Sicherheitskräften. Soldaten oder Polizisten, die ihre Truppe vorübergehend unerlaubt verlassen, um zu ihren Familien zurückzukehren, werden schon aufgrund ihrer sehr hohen Zahl nach Rückkehr zu ihrem ursprünglichen Standort wieder in die ANDSF aufgenommen (AA 2.9.2019).
Gemäß dem afghanischen Militärstrafgesetzbuch (Afghanistan Penal Code on Military Crimes) von 2008 wird eine Abwesenheit von mehr als 24 Stunden als unerlaubt definiert (absent without official leave, AWOL) (DFJP/SEM 31.3.2017). In der Praxis werden Fälle von Desertion in Afghanistan nicht strafrechtlich verfolgt, insbesondere wenn die desertierten Personen innerhalb Afghanistans ausgebildet wurden (RA KBL 6.3.2019; vgl. DFJP/SEM 31.3.2017). Unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst, bzw. Desertion wird gemäß Artikel 10 Anhang 1 des Militärstrafgesetzbuchs nicht bestraft, wenn die Abwesenheit weniger als ein Jahr dauert. Eine Abwesenheit von mehr als einem Jahr kann mit sechs Monaten Freiheitsentzug oder einer Geldstrafe von 20,000 AFN (ca. 237 Euro) bestraft werden (RA KBL 6.3.2019). Die permanente Desertion ist mit einer Haftstrafe von zwei bis fünf Jahren bedroht. Bei Desertionen während einer Sondermission beträgt die maximale Haftstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren (DFJP/SEM 31.3.2019).
Für Offiziere, in deren Ausbildung der Staat mehr Ressourcen investiert hat, gelten bei unerlaubter Abwesenheit oder Desertion strengere Regeln. Gemäß Artikel 52 des Dienstrechts für Offiziere, Leutnante und Wachtmeister werden unerlaubte Abwesenheiten von weniger als 30 Tagen geringfügig bestraft, beispielsweise durch Lohnabzug oder andere Disziplinierungsmaßnahmen. Eine unerlaubte Abwesenheit von mehr als 30 Tagen wird gemäß dieser Bestimmung strafrechtlich verfolgt (RA KBL 6.3.2019). So müssen Offiziere, die zur Ausbildung ins Ausland entsandt wurden und dort verbleiben, mit Strafmaßnahmen rechnen. Die Bestimmungen sehen Kompensationszahlungen nach der Rückkehr oder durch einen Bürgen vor (RA KBL 6.3.2019).
Fahnenflucht kann gemäß Gesetz mit bis zu fünf Jahren Haft, in besonders schweren Fällen mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen es zu einer strafrechtlichen Verurteilung oder disziplinarischen Maßnahmen allein wegen Fahnenflucht gekommen ist (AA 2.9.2019). Im Jahr 2016 wurde ein Soldat wegen Desertion in erster Instanz zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt; Berichten zufolge wurde dies zu einem Medienfall, was u.a. auf die Seltenheit solcher Verurteilungen hinweist und auf die Absicht schließen lässt, ein Exempel zu statuieren (DFJP/SEM 31.3.2017).
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1.2.5. Dokumente
Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist gravierende Mängel auf und stellt aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden werden oft erst viele Jahre nachträglich, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kommen sehr häufig vor (AA 2.9.2019). Sämtliche Urkunden in Afghanistan können problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhalten werden (ÖB 28.11.2018).
Des Weiteren kommen verfahrensangepasste Dokumente häufig vor. Im Visumverfahren werden teilweise gefälschte Einladungen oder Arbeitsbescheinigungen vorgelegt. Medienberichten zufolge sollen insbesondere seit den Parlamentswahlen 2018 zahlreiche gefälschte Tazkiras im Rahmen der Wählerregistrierung in Umlauf sein (AA 2.9.2019).
Die Beschaffung verschiedener Dokumente erfolgt dezentral auf Provinzebene und die Dokumentation weist in der Regel keine zuverlässigen Sicherheitsmerkmale auf (DFAT 18.9.2017). Personenstands- und weitere von Gerichten ausgestellte Urkunden werden zentral vom Afghan State Printing House (SUKUK) ausgestellt (ÖB 28.11.2018).
Auf Grundlage bestimmter Informationen können echte Dokumente ausgestellt werden. Dafür notwendige unterstützende Formen der Dokumentation wie etwa Schul-, Studien- oder Bankunterlagen können leicht gefälscht werden. Dieser Faktor stellt sich besonders problematisch dar, wenn es sich bei dem primären Dokument um eine Tazkira handelt, welches zur Erlangung anderer Formen der Identifizierung verwendet wird. Es besteht ein Risiko, dass echte, aber betrügerisch erworbene Tazkiras zur Erlangung von Reisepässen verwendet werden (DFAT 18.9.2017).
Die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland hat das Legalisationsverfahren von öffentlichen Urkunden aus Afghanistan wegen der fehlenden Urkundensicherheit eingestellt (DV 8.1.2019).
Tazkira
Das afghanische Bevölkerungsgesetz von 2014 beinhaltet u.a. Regelungen zur Bürgerregistrierung. Gemäß Artikel 9 des Gesetzes sollen nationale Personalausweise [Anm.: Tazkira] zum Zwecke des Identitätsnachweises und der Bevölkerungsregistrierung ausgestellt werden (NLB/NA 2014). Eine Tazkira wird benötigt, um sich als Wähler registrieren zu lassen. Erstmals in der Geschichte des Landes wurden für die Parlamentswahlen 2018 wahlberechtigte Bürger für ein bestimmtes Wahllokal registriert. Die Bestätigung der Registrierung als Wähler, die auf der Tazkira angebracht wird, beinhaltet Informationen zum Wohnort (Provinz und Distrikt) sowie zum Wahllokal. Kutschi sind nicht an ein fixes Wahllokal gebunden (AAN 27.5.2018).
Ein Personenstandsregisterauszug (Tazkira) wird nur afghanischen Staatsangehörigen nach Registrierung und dadurch erfolgtem Nachweis der Abstammung von einem Afghanen ausgestellt. In der Regel erfolgt der Nachweis der Abstammung durch die Vorlage der Tazkira eines Verwandten 1. Grades oder durch Zeugenerklärungen in Afghanistan (AA 2.9.2019). Einer Quelle zufolge können Frauen Tazkiras und Pässe für sich und ihre Kinder ohne die Anwesenheit eines männlichen Zeugen beantragen (RA KBL 9.5.2018).
In der Tazkira sind Informationen zu Vater und Großvater, jedoch nicht zur Mutter enthalten. Erst seit ca. 2014 gibt es die Möglichkeit, eine Birth Registration Card zu beantragen, in der ein konkretes Geburtsdatum und die Mutter eines Kindes genannt werden. Diese kann aber auch jederzeit nachträglich für Personen ausgestellt werden, die vor 2014 geboren wurden. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ausstellung daher ohne weitere Prüfung vorgenommen wird (AA 2.9.2019).
Tazkiras können sowohl in der Hauptstadt Kabul als auch dem jeweiligen Geburtsort in Afghanistan, nicht jedoch von afghanischen Auslandsvertretungen ausgestellt werden (AA 2.9.2019). Sie können jedoch über eine afghanische Auslandsvertretung beim afghanischen Innenministerium beantragt werden (AA 2.9.2019; vgl. AFB BER 22.10.2018), wobei ein Vertreter des Antragstellers die Tazkira in Kabul entgegennehmen und beglaubigen lassen muss, um sie dann an den Antragsteller ins Ausland zu schicken (AFB BER 22.10.2018).
Eintragungen in der Tazkira sind oft ungenau. Geburtsdaten werden häufig lediglich in Form von "Alter im Jahr der Beantragung", z. B. "17 Jahre im Jahr 20xx" erfasst, genauere Geburtsdaten werden selten erfasst und wenn, dann meist geschätzt (AA 2.9.2019). Insgesamt sind in Afghanistan sechs Tazkira-Varianten im Umlauf (AAN 22.2.2018). Es gibt keine einheitlichen Druckverfahren oder Sicherheitsmerkmale für die Tazkiras in A4- Format. Im Februar 2018 wurde die e-Tazkira (elektronischer Personalausweis) mit der symbolischen Beantragung u. a. durch Präsident Ghani gestartet (AAN 22.2.2018). Seit 3. Mai 2018 werden e-Tazkiras (auch electronic Tazkira) in Form einer Chipkarte ausgestellt, die Einführung läuft jedoch nur sehr schleppend (AA 2.9.2019).
Die Vorlage einer Tazkira ist Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses. Es sind Fälle bekannt, in denen afghanische Auslandsvertretungen Reisepässe nach nur oberflächlicher Prüfung ausstellten, ohne Vorlage einer Tazkira und ggf. aufgrund der Aussage zweier Zeugen. Ein derart ausgestellter Reisepass stellt daher im Gegensatz zur Tazkira nur bedingt einen Nachweis der Staatsangehörigkeit dar (AA 2.9.2019). Einige afghanische Bürger, insbesondere Frauen im ländlichen Raum, besitzen keine Tazkira (AAN 27.5.2018).
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2. Beweiswürdigung:
2.1. Die Feststellungen zur Person des Bf, sohin zu seiner Staatsangehörigkeit, Herkunftsprovinz und Volksgruppenzugehörigkeit, seinem Religionsbekenntnis, seinen familiären Hintergründen und seinem Werdegang in Afghanistan, beruhen auf seinen eigenen, Angaben. Das BVwG hat keine Veranlassung, an diesen - im gesamten Verfahren gleich gebliebenen - Aussagen zu zweifeln. Die Identität des Bf steht mit für das Verfahren ausreichender Sicherheit fest.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Bf ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.
2.2. Die Feststellung, dass der Bf in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer gegen ihn gerichteten Verfolgung durch die Taliban aufgrund einer ihm zumindest unterstellten politischen Gesinnung ausgesetzt war und eine solche im Falle seiner Rückkehr auch wieder zu erwarten hat, resultiert aus den glaubwürdigen Angaben des Bf in Zusammenschau mit den ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen zu Afghanistan. Hierzu ist Folgendes auszuführen:
Das Fluchtvorbringen des Bf lautet auf das Wesentliche zusammengefasst, dass ihm in Afghanistan wegen seiner Eigenschaft als Polizist und insbesondere aufgrund seiner Tätigkeit als Fahrer und Leibwächter für seinen Vorgesetzten infolge der Verweigerung einer Zusammenarbeit mit den Taliban eine Verfolgung durch die Taliban aufgrund einer ihm zumindest unterstellten politischen Gesinnung drohe. Darüber hinaus sei der Bf eine dreijährige Verpflichtung gegenüber der afghanischen Polizei eingegangen und habe durch seine Desertation ein Verbrechen begangen, aufgrund dessen er nunmehr eine Verfolgung bzw jedenfalls eine fehlende Schutzgewährung durch den afghanischen Staat befürchte.
Der Bf konnte eine persönliche Bedrohung oder Verfolgung seiner Person in seinem Herkunftsstaat durch die Taliban im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan glaubhaft machen.
Der Bf hat seine Tätigkeit als Polizist für die afghanische Polizei mit geeigneten Mitteln glaubhaft dargelegt. Seine Angaben, die er sowohl in den diversen schriftlichen Eingaben als auch in der mündlichen Verhandlung an drei Verhandlungstagen machte, sind frei von gröberen Widersprüchen, das Vorbringen im Beschwerdeverfahren stimmt mit jenen sowohl in der Erstbefragung als auch in der Einvernahme vor der belangten Behörde ausführlich getätigten Angaben überein. Hinsichtlich des persönlichen Eindrucks des Bf, von welchem sich der erkennende Richter im Zuge der mündlichen Verhandlung an drei Verhandlungstagen ein umfassendes Bild machen konnte, ist weiters festzuhalten, dass der Bf idR spontan und ohne Überlegungsdauer auf die ihm gestellten Fragen rund um sein Fluchtvorbringen antwortete. Der Bf erstattete sein Vorbringen betreffend seine Tätigkeit bei der Polizei und seine damit im Zusammenhang stehende Verfolgung durch die Taliban ohne die Notwendigkeit von Nachfragen ausreichend detailliert, im Wesentlichen konsistent und substantiiert. Der Bf war in der Lage, Details über seine Ausbildung, über sein Bataillon, über die Ableistung seines Diensteides und seine Aufgaben als Polizist (sowohl im Wahllager als auch als Leibwächter und Fahrer seines - namentlich genannten - Vorgesetzten) anzuführen, die in dieser Detailfülle und Konsistenz nur eine Person wissen kann, die diese Sachverhalte tatsächlich selbst erlebt hat.
Anhand der in der fortgesetzten mündlichen Verhandlung im Oktober 2019 vorgelegten Luftbildaufnahme von Qalat und der darin vorgenommenen Einzeichnungen des Bf (insbesondere des ehemaligen und nunmehrigen Wahllagers, der Polizeiakademie, der Polizeidirektion und der Polizeibasis in Qalat) konnte der Bf durch seine hiermit unter Beweis gestellten Ortskenntnisse zudem anschaulich darlegen, dass er sich an den von ihm genannten Orten in Qalat tatsächlich aufgehalten hat. Darüber hinaus legte der Bf eine Bestätigung der afghanischen Nationalpolizei vor, aus welcher hervorgeht, dass er den Basisbildungskurs absolviert hat. Diese wurde seitens der belangten Behörde nicht substantiiert bestritten.
Auch die Begründung des Bf, weshalb gerade er (und nicht ein anderer seiner Kollegen) in den Fokus der Taliban geraten ist, war durchaus plausibel. So legte der Bf schlüssig und in sich stimmig dar, dass er nach seinem Eintritt in den Polizeidienst zunächst für die Bewachung des Wahllagers in Qalat eingesetzt wurde und hierbei Bekanntschaft mit seinem Vorgesetzten gemacht habe. Der Bf konnte die Motivation seines Vorgesetzten, gerade den Bf als seinen Chauffeur und insbesondere Leibwächter einzusetzen, schlüssig darlegen, erklärte er dies doch damit, dass er (der Bf) - im Vergleich zu seinen Kollegen - nicht nur des Lesens und Schreibens mächtig sei, sondern - ebenso wie sein Vorgesetzter - der Volksgruppe der Hazara angehöre und deshalb aufgrund der Historie der Hazara nach Meinung seines Vorgesetzten nicht mit den Taliban zusammenarbeiten würde.
Hinsichtlich des (nicht vorhandenen) afghanischen Führerscheins erläuterte der Bf - im Hinblick auf seine Tätigkeit als Chauffeur - nachvollziehbar, dass er in Afghanistan eine Fahrschule besucht und dort gelernt, jedoch keinen Führerschein besessen habe. Dies habe aber keine Rolle gespielt, da es in Afghanistan keine derartigen Gesetze gebe. Diese Ausführungen erscheinen plausibel, ist den Länderfeststellungen diesbezüglich doch zu entnehmen, dass sämtliche Urkunden in Afghanistan problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhalten werden können und einen dementsprechend geringen Beweiswert haben. Es erscheint daher nicht abwegig, dass bei der Auswahl eines Chauffeurs vielmehr auf dessen tatsächliche Fahrkenntnisse als auf das Vorhandensein eines entsprechenden Dokuments abgestellt wird. Hierbei wird nicht übersehen, dass der Bf eingangs der (fortgesetzten) mündlichen Verhandlung am 29.11.2019 über Rückfrage des Richters - entgegen seinen ursprünglichen Schilderungen - angab, in Afghanistan einen Führerschein gehabt zu haben. Diese Unstimmigkeit vermochte die Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens jedoch nicht zu erschüttern, erklärte der Bf über Vorhalt dieses Widerspruchs doch, dass er nervös gewesen und dies eine der ersten Fragen gewesen sei. In Anbetracht der augenscheinlichen Anspannung des Bf am Tag der (zweiten fortgesetzten) mündlichen Verhandlung und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Frage nach dem Besitz eines afghanischen Führerscheins außerhalb des Kontext zum Fluchtvorbringen gestellt wurde, ist diese Unstimmigkeit in den - sonst konsistenten - Angaben des Bf vernachlässigbar.
Vermeint die belangte Behörde, dass die Tätigkeit des Bf als Leibwächter eine Risikoübernahme und den Einsatz seines Lebens zum Schutz seines Vorgesetzten indiziere, weshalb die Begründung des Bf, er habe den Polizeidienst verlassen, da ihm sein Chef keine Sicherheit vor den Taliban garantieren konnte, gänzlich unglaubwürdig sei, überzeugt dies nicht. Dass sich ein Leibwächter entsprechend seinem Berufsbild einem potentiellen Risiko aussetzt, zum Schutz einer anderen Person körperlich verletzt oder gar getötet zu werden, steht keineswegs im Widerspruch zu dem Verhalten des Bf, den Polizeidienst infolge einer tatsächlichen und gezielt gegen seine Person gerichteten Bedrohung zu verlassen, zumal das im LIB zu Afghanistan vom 13.11.2029, wie der Behörde als eigenes Dokument bekannt im afghanischen dz oft ineffektiven Staatswesen Korruption nachhaltig verbreitet ist und insoweit ein effektiver Schutz des Bf durch die eigene staatliche Organisation mehr als fragwürdig, maW eben nicht effektiv gegeben erscheint.
Ebenso überzeugend war die Schilderung des Bf rund um den Verlust bzw die Entwendung seines Dienstausweises und die daraufhin eingesetzten Drohanrufe eines Talibanmitglieds. So erklärte der Bf, dass er stets im Wahllager genächtigt habe, dies gemeinsam mit zwölf weiteren Polizisten, nämlich sieben anderen Hazara, drei Tadschiken und zwei Paschtunen und er davon ausgehe, dass ihm sein Dienstausweis eines nachts aus seiner Brieftasche entwendet worden sei. Wird dem Bf seitens der belangten Behörde vorgehalten, dass dies bedeute, dass die Taliban bereits Spione bei der Polizei hätten, wenn der Dienstausweis des Bf von einem anderen Polizisten gestohlen worden sei, erklärte der Bf dies überzeugend damit, dass der Spion, den es möglicherweise unter ihnen gegeben habe, nicht diese Möglichkeiten gehabt habe, wie er (der Bf), denn dieser sei - anderes als der Bf - gerade nicht bei den Sitzungen dabei gewesen und habe nicht alles gewusst. Es kann also mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon aus