Entscheidungsdatum
06.02.2020Index
41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
NAG §2 Abs1 Z14Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seinen Richter Dr. Schattauer über die Beschwerde der Frau A. B., geb.: 1989, StA: Türkei, Wien, C.-gasse, gegen Spruchpunkt 1.) des Bescheides des Landeshauptmannes von Wien, Magistratsabteilung 35, vom 26.11.2019, Zahl …, mit welchem der Zweckänderungsantrag vom 10.10.2019 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck "Daueraufenthalt EU" gemäß § 24 Abs. 4 iVm § 26 iVm § 45 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) idgF iVm Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (ARB 1/80) iVm § 45 NAG iVm DaueraufenthaltsRL 2003/109/EG abgewiesen wurde und 2.) der mit dem Zweckänderungsantrag einhergehende Verlängerungsantrag vom 10.10.2019 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck "Student (Jobsuche)" gemäß § 64 Abs. 4 iVm § 64 Abs. 5 NAG abgewiesen wurde,
zu Recht erkannt:
I. Die Beschwerde wird abgewiesen.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.
Entscheidungsgründe
Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin, zuletzt verfügte sie über eine Aufenthaltsbewilligung „Student“ mit Gültigkeit bis 11.10.2019, stellte am 10.10.2019 persönlich bei der belangten Behörde einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“, kombiniert mit einem Antrag auf Verlängerung der bisherigen Aufenthaltsbewilligung „Student“.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurden diese Anträge abgewiesen. Die Abweisung des Zweckänderungsantrages wurde, nach Darstellung des Sachverhaltes, im Wesentlichen mit Hinweisen auf die rezente Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bzw. die ständige Rechtsprechung des EUGH zu Art 6 Abs. 1 des ARB 1/80 begründet, ferner wurde dargelegt, dass sich der Anspruch auf Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels auch nicht aus der Daueraufenthaltsrichtlinie ableiten lasse. Bezüglich des Verlängerungsantrages hielt die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführerin nach Abschluss ihres Studiums bereits einmalig eine weitere Aufenthaltsbewilligung „Student“ gemäß § 64 Abs 4 NAG erteilt worden sei; eine nochmalige Verlängerung dieser Bewilligung sei rechtens nicht möglich.
Gegen diesen Bescheid wurde von der Beschwerdeführerin frist- und formgerecht Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Wien erhoben. Die Beschwerde richtet sich erkennbar ausschließlich gegen die Versagung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“ (Spruchpunkt 1 des behördlichen Bescheides), wohingegen die Versagung einer nochmaligen Aufenthaltsbewilligung „Student“ (Spruchpunkt 2 des behördlichen Bescheides) nicht weiter bekämpft wird. Inhaltlich tritt die Beschwerdeführerin den rechtlichen Erwägungen der belangten Behörde mit umfänglichen Ausführungen und gleichfalls unter Zitierung rezenter höchstgerichtlicher bzw. unionsrechtlicher Judikatur entgegen. Auf das Wesentliche zusammengefasst führt die Beschwerde aus, dass sich das Aufenthaltsrecht der Beschwerdeführerin auf die von ihr ausgeübte Beschäftigung stütze, diese Rechtstellung ermögliche ihr gemäß § 4 Abs 1 DaueraufenthaltsRL die Erlangung des Status einer langfristig Aufenthaltsberechtigten, was nach innerstaatlichem Recht in § 45 NAG umgesetzt worden sei. Bezüglich der innegehabten Aufenthaltsbewilligung verweist die Beschwerde auf Rechtsprechung des VwGH (19.4.2016, Ro 2015/22/0010); ferner wird die fehlende Auseinandersetzung der belangten Behörde mit der Stand-Still-Klausel des Art 13 ARB 1/80 gerügt (ausgeführt wird, dass nach dem Regime des FrG 1997 in dessen § 30 Abs 3 eine „Niederlassungsbewilligung“ als Aufenthaltstitel von assoziationsrechtserfassten türkischen Arbeitnehmern vorgesehen gewesen sei, was die belangte Behörde berücksichtigen hätte müssen). Die Beschwerdeführerin beantrage nicht die Ersichtlichmachung ihres aus dem Beschluss 1/1980 des Assoziationsrates EWG-Türkei bestehenden Rechts mittels eines Rechtsinstituts des NAG, das Begehr sei vielmehr auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“ gerichtet, da sie die Voraussetzungen der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (Daueraufenthaltsrichtlinie) erfülle. Gegenstand des Verfahrens sei ausschließlich die Rechtsfrage, ob die Voraussetzungen der Art. 4 und 5 der genannten Richtlinie erfüllt seien, was nach den Ausführungen der Beschwerdeführerin bejaht werden müsse.
Die belangte Behörde nahm von der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung Abstand und legte dem Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde und den Bezug habenden Verwaltungsakt (einlangend mit 9.1.2020) zur Entscheidung vor.
Sachverhalt:
Das Verwaltungsgericht Wien geht von folgendem entscheidungswesentlichem Sachverhalt aus:
Die Beschwerdeführerin ist eine 1989 geborene türkische Staatsangehörige; sie ist seit 3.11.2008 ununterbrochen in Wien hauptwohnsitzgemeldet. Ihr Reisepass ist bis 26.9.2020 gültig.
Der Beschwerdeführerin wurde erstmalig ein Aufenthaltstitel mit dem Zweck „Student“ mit einer Gültigkeit von 13.10.2008 bis 13.10.2009 erteilt und wurde diese Aufenthaltsbewilligung in weiterer Folge im Jahresabstand verlängert. Die zuletzt erteilte Aufenthaltsbewilligung „Student“ (gem. § 64 Abs 4 NAG) hat bis 11.10.2019 gegolten.
Die Beschwerdeführerin war bis 16.11.2015 als Studentin … an der Fachhochschule Wien eingeschrieben. Am 16.11.2015 wurde ihr der akademische Grad „Bachelor …“ verliehen. Der Abschluss des Masterstudiums erfolgte am 6.11.2018.
Die Beschwerdeführerin weißt folgende Beschäftigungszeiten im Bundesgebiet auf: von 01.12.2015 bis 30.04.2016, von 20.06.2016 bis 31.05.2018, von 01.10.2018 bis laufend. Dienstgeber seit der erstmaligen Beschäftigung ist unverändert der D.. Im Zeitraum 1.6.2018 bis 30.9.2018 bezog die Beschwerdeführerin Weiterbildungsgeld nach dem AlVG 1977. Die genannten Beschäftigungen korrespondieren mit Beschäftigungsbewilligungen für die Ausübung dieser Erwerbstätigkeit bei dem genannten Dienstgeber im Zeitraum: 26.11.2015 - 25.11.2016, 16.06.2016 - 15.06.2017, 01.02.2017 - 31.01.2018, 01.02.2018 - 31.01.2019 (im Ausmaß von 30 Wochenstunden), 12.10.2018 – 11.10.2019 (im Ausmaß von 38 Wochenstunden), 08.07.2019 - 07.07.2020 (im Ausmaß von 30 Wochenstunden).
Beweiswürdigung:
Das Verwaltungsgericht Wien hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt (darin die von der Beschwerdeführerin im verwaltungsbehördlichen Verfahren vorgelegten Urkunden und Nachweise), sowie Würdigung des Beschwerdevorbringens und Abfrage von Registerdaten (zentrales Fremdenregister, Strafregister, zentrale Melderegister, Versicherungsdatenauszug). Der entscheidungserhebliche Sachverhalt ist aus der Aktenlage unzweifelhaft feststellbar und nicht weiter strittig.
Die Feststellungen zu den persönlichen Daten der Beschwerdeführerin, zur aktuellen Aufenthaltssituation und den bisher erteilten Aufenthaltstiteln ergeben sich aus dem Verwaltungsakt und dem zentralen Fremdenregister. Die Feststellungen zu den Inskriptionszeiten und zum Studienabschluss ergeben sich aus den vorgelegten studienrechtlichen Urkunden, jene zu den Beschäftigungszeiten beruhen auf dem eingeholten Sozialversicherungsdatenauszug sowie den aktenkundigen Beschäftigungsbewilligungen.
Im Beschwerdeverfahren ist vorrangig eine Rechtsfrage zu klären, insoweit die Rechtsauffassungen der belangten Behörde und der Beschwerdeführerin entscheidungserheblich divergieren.
Rechtsgrundlagen:
Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes – NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF, lauten auszugsweise:
Begriffsbestimmungen
§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist
1. […]
14. unionsrechtliches Aufenthaltsrecht: das auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie gewährte Recht eines EWR-Bürgers und seiner Angehörigen sich im Bundesgebiet für mehr als drei Monate oder auf Dauer aufzuhalten;
[…]
(2) Niederlassung ist der tatsächliche oder zukünftig beabsichtigte Aufenthalt im Bundesgebiet zum Zweck
1. der Begründung eines Wohnsitzes, der länger als sechs Monate im Jahr tatsächlich besteht;
2. der Begründung eines Mittelpunktes der Lebensinteressen oder
3. der Aufnahme einer nicht bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit.
(3) Der rechtmäßige Aufenthalt eines Fremden auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung (§ 8 Abs. 1 Z 12) gilt nicht als Niederlassung im Sinne des Abs. 2.
[…]
Arten und Form der Aufenthaltstitel
§ 8. (1) Aufenthaltstitel werden erteilt als:
1. […]
12. „Aufenthaltsbewilligung“ für einen vorübergehenden befristeten Aufenthalt im Bundesgebiet zu einem bestimmten Zweck (§§ 58 bis 69).
[…]
Zweckänderungsverfahren
§ 26. Wenn der Fremde den Aufenthaltszweck während seines Aufenthalts in Österreich ändern will, hat er dies der Behörde im Inland unverzüglich bekannt zu geben. Eine Zweckänderung ist nur zulässig, wenn der Fremde die Voraussetzungen für den beantragten Aufenthaltstitel erfüllt und ein gegebenenfalls erforderlicher Quotenplatz zur Verfügung steht. Sind alle Voraussetzungen gegeben, hat der Fremde einen Rechtsanspruch auf Erteilung dieses Aufenthaltstitels. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, ist der Antrag abzuweisen; die Abweisung hat keine Auswirkung auf das bestehende Aufenthaltsrecht.
Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“
§ 45. (1) Drittstaatsangehörigen, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen tatsächlich niedergelassen waren, kann ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ erteilt werden, wenn sie
1. die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
2. das Modul 2 der Integrationsvereinbarung (§ 10 IntG) erfüllt haben.
(2) Zur Niederlassung berechtigten Drittstaatsangehörigen ist die Zeit eines unmittelbar vorangehenden rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung (§ 8 Abs. 1 Z 12) oder eines Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ (§ 57 AsylG 2005) zur Hälfte auf die Fünfjahresfrist gemäß Abs. 1 anzurechnen. Zur Niederlassung berechtigten Drittstaatsangehörigen ist die Zeit eines unmittelbar vorangehenden rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet aufgrund einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ (§ 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005) oder einer „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 54 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005) zur Gänze auf die Fünfjahresfrist anzurechnen.
(3) bis (10) […]
(11) Abs. 1 gilt auch für Drittstaatsangehörige, denen in den letzten fünf Jahren ununterbrochen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zugekommen ist, eine Aufenthaltsbeendigung trotz Verlusts dieses Aufenthaltsrechts jedoch unterblieben ist.
Die Richtlinie 2003/109/EG vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. Nr. L 16, vom 23. Jänner 2004 S. 44, lautet auszugsweise:
Artikel 1
Gegenstand
Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung
a) der Bedingungen, unter denen ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen oder entziehen kann, sowie der mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte und
[…]
Artikel 3
Anwendungsbereich
(1) Diese Richtlinie findet auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten.
(2) Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf Drittstaatsangehörige,
a) die sich zwecks Studiums oder Berufsausbildung aufhalten;
[…]
e) die sich ausschließlich vorübergehend wie etwa als Au-pair oder Saisonarbeitnehmer, als von einem Dienstleistungserbringer im Rahmen der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen entsendete Arbeitnehmer oder als Erbringer grenzüberschreitender Dienstleistungen aufhalten oder deren Aufenthaltsgenehmigung förmlich begrenzt wurde;
[…]
Artikel 4
Dauer des Aufenthalts
(1) Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.
(1a) […]2) In die Berechnung des Zeitraums gemäß Absatz 1 fließen die Zeiten nicht ein, in denen sich der Drittstaatsangehörige aus den in Artikel 3 Absatz 2 Buchstaben e) und f) genannten Gründen im betreffenden Mitgliedstaat aufgehalten hat.
In den in Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Fällen, in denen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel gewährt wurde, auf dessen Grundlage ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt werden kann, fließen die Zeiten, in denen er sich zwecks Studiums oder Berufsausbildung in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, nur zur Hälfte in die Berechnung des Zeitraums gemäß Absatz 1 ein.
[…].“
Art. 6 Abs. 1 und 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des – durch das (am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG vom 23. Dezember 1963, ABl. Nr. 217/1964, S. 3685, im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte) Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (64/733/EWG) geschaffenen – Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) lautet:
Artikel 6. (1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
– nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
– nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
– nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.
Rechtliche Beurteilung:
Die Beschwerdeführerin stützt den Zweckänderungsantrag auf Erteilung des „Daueraufenthaltes – EU“ darauf, dass sie durch ihre Arbeitnehmereigenschaft ein Niederlassungsrecht, gegründet auf Art. 6 Abs 1 ARB 1/80, erlangt habe. Sie sei daher seit 20.6.2017, nach dem ersten Jahr der seit dem 20.6.2016 unverändert beim selben Dienstgeber durchgehend ausgeübten Beschäftigung, „niedergelassen“. Die Aufenthaltszeiten auf Grundlage einer Aufenthaltsbewilligung „Studierender“ seien entsprechend Art 4 Abs. 2 2. Satz RL 2003/109/EG sowie § 45 Abs 2 erster Halbsatz NAG zur Hälfte und die Zeiten nach dem ersten Jahr Erwerbstätigkeit zur Gänze auf die vorgesehene Fünfjahresfrist anzurechnen. Die Wartezeit gemäß Art 4 Abs 1 RL 2003/109/EG bzw. § 45 Abs 1 NAG habe sie daher zum Zeitpunkt der Antragstellung erfüllt gehabt.
Nach den getroffenen Feststellungen verfügt die Beschwerdeführerin seit 13.10.2008 über eine Aufenthaltsbewilligung als „Student“ und kann derzeit eine seit 20.06.2016 andauernde, ununterbrochene – während der Bildungskarenz in der Zeit zwischen 1.6.2018 bis 30.9.2018 hat das Beschäftigungsverhältnis fortgedauert – sowie rechtmäßige Beschäftigung von bereits mehr als drei Jahren bei demselben Arbeitgeber vorweisen. Damit erfüllt sie – zum jetzigen Zeitpunkt – die Voraussetzungen des zweiten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 und ihr steht implizit ein aus dem ARB 1/80 direkt ableitbares Aufenthaltsrecht zu (VwGH 23.6.2015, Ro 2014/22/0038).
Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 45 Abs. 1 NAG ist nach dem Gesetzeswortlaut zunächst, dass die Antragstellerin im Zeitpunkt der Entscheidung über ihren Antrag in Österreich „niedergelassen“ ist (vgl. auch Peyrl in Abermann/Czech/Kind/Peyrl (Hrsg.), NAG [2016] § 45 Rz 7). Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Wien liegt diese Voraussetzung im Beschwerdefall nicht vor:
Mit der Regelung des § 45 NAG werden die diesbezüglichen Bestimmungen der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (im Folgenden: RL 2003/109/EG) innerstaatlich umgesetzt. Aus diesem Grund ist für die Interpretation des § 45 NAG die maßgebliche Richtlinie 2003/109/EG heranzuziehen (VwGH 11.11.2013, 2011/22/0202).
Die Bestimmung des § 45 NAG unterscheidet zwischen Niederlassungsbewilligung und Aufenthaltsbewilligung, wobei Drittstaatsangehörige mit einer Aufenthaltsbewilligung keinen direkten Wechsel auf einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ nach § 45 NAG vornehmen können. Da der rechtmäßige Aufenthalt eines Fremden auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung (§ 8 Abs. 1 Z 12) gemäß § 2 Abs. 3 NAG nicht als Niederlassung im Sinne des Abs. 2 leg. cit. gilt, ist ein direkter Umstieg von einer Aufenthaltsbewilligung auf einen Daueraufenthalt-EU daher grundsätzlich nicht möglich (vgl. auch die Erläuternden Bemerkungen zu § 45 Abs. 1a idF BGBl. I Nr. 122/2009, RV 330 BlgNR 24. GP 48 f).
Die Richtlinie 2003/109/EG dagegen differenziert hinsichtlich des Erfordernisses des ununterbrochenen Aufenthalts von mindestens fünf Jahren nicht zwischen Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligung.
Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG findet diese auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates aufhalten. Hingegen werden Aufenthalte von Drittstaatsangehörigen, die zwar rechtmäßig und gegebenenfalls ununterbrochen sind, aber a priori nicht den Willen dieser Personen widerspiegeln, im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten langfristig ansässig zu sein, durch Art. 3 Abs. 2 der RL 2003/109/EG in Anbetracht der genannten Ziele, nämlich die Integration von langfristig ansässigen Drittstaatsangehörigen und die Annäherung ihrer Rechtsstellung von Mitgliedstaatsangehörigen, von deren Anwendungsbereich ausgeschlossen (EuGH 18. Oktober 2012, C-502/10 Mangat Singh, Rz 45 und 47).
Die Beschwerdeführerin hatte bisher unstrittig noch keinen Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz inne, der sie zur Niederlassung berechtigt haben würde. Eine Aufenthaltsbewilligung zum Zweck des Studiums (§ 64 NAG) berechtigt Fremde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gemäß § 8 Abs. 1 Z 12 NAG zu einem vorübergehenden befristeten Aufenthalt, jedoch – anders als die in den Z 1 bis 11 dieser Bestimmung geregelten Titel – nicht zur Niederlassung (vgl. zB. VwGH 17. Dezember 2013, 2012/09/0137; 13.11.2007, 2006/18/0301). Auch Art. 3 Abs. 2 lit. a der RL 2003/109/EG sieht eine Ausnahme für Aufenthalte zum Zwecke des Studiums oder eine Berufsausbildung vor, sodass die Beschwerdeführerin sich hinsichtlich ihrer bisher innegehabten Aufenthaltsbewilligungen für den Zweck Student auch nicht auf die RL 2003/109/EG berufen kann.
Zudem schließt die Richtlinie 2003/109/EG in Art. 3 Abs. 2 lit. e Drittstaatsangehörige von ihrem Anwendungsbereich aus, deren Aufenthaltsgenehmigungen „förmlich begrenzt“ wurden.
Bei der aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfließenden Aufenthaltsberechtigung handelt es sich nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Wien um eine solche förmlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung im Sinne des Art. 3 Abs. 2 lit. e RL 2003/109/EG.
So ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, dass der erste und der zweite Spiegelstrich dieser Bestimmung lediglich die Voraussetzungen regeln, unter denen ein türkischer Arbeitnehmer, der rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mietgliedstaats eingereist ist und dort die Erlaubnis erhalten hat, eine Beschäftigung auszuüben, seine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat ausüben kann. Nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung darf er weiterhin bei demselben Arbeitgeber arbeiten (erster Spiegelstrich) und nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung kann er sich – vorbehaltlich des den Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs – für den gleichen Beruf auf ein Stellenangebot eines anderen Arbeitgebers bewerben (zweiter Spiegelstrich). Der dritte Spiegelstrich (nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung) verleiht dem türkischen Arbeitnehmer nicht nur das Recht, sich auf ein vorliegendes Stellenangebot zu bewerben, sondern auch uneingeschränkten Zugang zu jeder von ihm frei gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Somit kann generell ein Recht nach Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht allein aufgrund der Tatsache geltend gemacht werden, dass ein türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat mehr als vier Jahre lang rechtmäßig eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, wenn er nicht mehr als ein Jahr bei demselben Arbeitgeber und zwei weitere Jahre für diesen gearbeitet hat (VwGH 21.3.2017, Ra 2016/22/0098).
Mit anderen Worten vermittelt Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 über die (schrittweise erweiterte) Zugehörigkeit zum inländischen Arbeitsmarkt ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Dieses abgeleitete Aufenthaltsrecht verlangt die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt und die Ausübung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung. Es handelt sich also um kein "zeitlich unbeschränktes und unbedingtes Aufenthaltsrecht". Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht gemäß Art. 6 besteht grundsätzlich nur so lange, so lange man dem regulären Arbeitsmarkt angehört. Lediglich bei einer vorübergehenden Unterbrechung der Beschäftigung bleibt die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt bestehen (vgl. EuGH 23. Jänner 1997, Rs C-171/95, Tetik). Art. 6 ARB 1/80 verleiht türkischen Staatsangehörigen daher – selbst wenn diese dem regulären Arbeitsmarkt angehörten – nicht das Recht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben, wenn sie den Arbeitsmarkt endgültig verlassen haben (vgl. VwGH 9. 8.2018,, Ra 2017/22/0111, mwH auf die Rechtsprechung des EuGH).
Auch § 45 Abs. 11 NAG gilt nur für Drittstaatsangehörige, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zugekommen ist. Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht wird in § 2 Abs. 1 Z 14 NAG definiert und bezieht sich lediglich auf das auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie gewährte Recht eines EWR-Bürgers und seiner Angehörigen sich im Bundesgebiet für mehr als drei Monate oder auf Dauer aufzuhalten. Die Beschwerdeführerin ist aber weder EWR-Bürgerin noch Angehörige eines solchen, weshalb diese Bestimmung für sie nicht zur Anwendung gelangen kann.
Aufgrund des Zusammenspiels der inhaltlichen und zeitlichen Befristung des der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts ist der Sachverhalt nicht mit jenem betreffend das in der Beschwerde angesprochene Urteil des EuGH vom 18. Oktober 2012, Rs C-502/10, Mangat Singh, vergleichbar, in welchem es ausschließlich um zeitliche Befristungen ging.
Dass die Beschwerdeführerin nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ erfüllt, ergibt sich nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Wien auch aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach ein Inhaber des Aufenthaltstitels „Studierender“, der die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster oder zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt, daraus kein Recht auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ ableiten kann, weil dieser Aufenthaltstitel einen über die Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 hinausgehenden unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt (VwGH 9. August 2018, Ro 2017/22/0015 und VwGH 6. September 2018 Ro 2018/22/0008 zu Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich und VwGH 6. September 2018, Ro 2018/22/0008 zu Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich). Auch Inhaber eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ erhalten gemäß § 17 AuslBG unbeschränkten Arbeitsmarktzugang. Auch aus diesem Grund ist – im Hinblick auf die zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes – der Beschwerdeführerin der begehrte Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ nicht zu erteilen.
Nach der Rechtsprechung des EuGH bezieht sich Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die von den Mitgliedstaaten eingeführten Beschränkungen, ohne anzugeben, durch welche Art Rechtsakt solche Beschränkungen eingeführt werden (EuGH 09.12.2010, Toprak und Oguz, C-300/09 und C-301/09, Rz 31). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits erkannt, dass derartige Beschränkungen unter Bezugnahme auf § 4c AuslBG auch aus niederlassungsrechtlicher Sicht nicht angenommen werden können. Nach der Rechtsprechung des VwGh stehen daher die innerstaatlichen Regelungen, die (implizit) den aufenthaltsrechtlichen Status türkischer Staatsangehöriger, die in den Anwendungsbereich des Assoziierungsabkommens fallen, nicht in Widerspruch zur Stillhalteklausel. Nichts anderes kann für den gegenständlich zu beurteilenden Fall gelten. Die Beschwerdeführerin ist, zumal sie bereits Rechte aus Art 6 Abs 1 ARB 1/80 erworben hat, in ihrer insoweit garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht beschränkt (vgl. insoweit auch VwGH 7.12.2016, Ra 2016/22/0033). Wie der EuGH außerdem ausgesprochen hat, dient die Stillhalteklausel auch nicht dazu, die schon in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen zu schützen. Vielmehr soll sie gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigungen und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 des ARB 1/80 genießen (vgl. wiederum EuGH 09.12.2010, Toprak und Oguz, C-300/09 und C-301/09, Rz 45). Da die Beschwerdeführerin ihrerseits die durch Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 garantierten Rechte genießt, ist nicht zu ersehen, dass sie in der ihr garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit mit dem dieser inhärenten Aufenthaltsberechtigung nach der geltenden Rechtslage in ihrem Recht auf Aufenthalt bzw. auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Vergleich zur Rechtslage nach dem FrG 1997 schlechter gestellt wäre. Auch § 30 Abs. 3 FrG 1997 verlangt im Übrigen das Vorliegen einer „Niederlassung“, was, wie bereits dargestellt wurde, im Falle der Beschwerdeführerin aber nicht zutrifft.
Somit wurde der Zweckänderungsantrag von der belangten Behörde zu Recht abgewiesen, weshalb die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde als unbegründet abzuweisen war.
Da der durch die belangte Behörde festgestellte Sachverhalt zu keinem Zeitpunkt bestritten wurde und dieser sich klar nach der Aktenlage feststellen ließ und im Beschwerdeverfahren lediglich die von der Beschwerdeführerin angesprochene Rechtsfrage betreffend ihre „Niederlassung“ iSd Art 4 und 5 der RL 2003/109/EG zu beurteilen war, konnte das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG, ungeachtet des Parteienantrages von einer mündlichen Verhandlung absehen.
Die ordentliche Revision ist zulässig, weil eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Es fehlt an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob türkische Staatsangehörige, die unter Art. 6 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 fallen, als niedergelassen im Sinne des § 45 Abs. 1 und Abs. 2 NAG gelten.
Schlagworte
Verlängerungsantrag; Zweckänderungsantrag; Daueraufenthaltsrichtlinie; Richtlinie 2003/109/EG; Niederlassung; Niederlassungsbewilligung; Aufenthaltsbewilligung; förmlich begrenzte AufenthaltsgenehmigungAnmerkung
VwGH v. 24.6.2020, Ro 2020/22/0006; ZurückweisungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2020:VGW.151.059.510.2020Zuletzt aktualisiert am
07.07.2020