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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/19/0416Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens und die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revisionen 1. der K J, und 2. der E B, beide vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 15. Oktober 2018,
1) W119 1424697-3/20E und 2) W119 1424698-3/13E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerberinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberinnen sind Staatsangehörige der Mongolei. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweitrevisionswerberin. Sie reisten gemeinsam mit dem Ehemann der Erstrevisionswerberin bzw. Vater der Zweitrevisionswerberin in das Bundesgebiet ein und stellten am 16. Dezember 2011 Anträge auf internationalen Schutz.
2 Mit Erkenntnissen jeweils vom 22. März 2012 wies der Asylgerichtshof die Anträge der Revisionswerberinnen im Beschwerdeverfahren als unbegründet ab.
3 Am 23. September 2013 stellten die Revisionswerberinnen neuerlich Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachten sie vor, der Ehemann der Erstrevisionswerberin bzw. Vater der Zweitrevisionswerberin sei psychisch krank, habe die Revisionswerberinnen geschlagen und misshandelt und versucht, die Erstrevisionswerberin umzubringen. Nachdem ihn diese bei den österreichischen Behörden angezeigt habe, sei er inhaftiert und in die Mongolei abgeschoben worden. Er habe daraufhin gedroht, die Revisionswerberinnen zu töten und die in der Mongolei aufhältige ältere Tochter der Erstrevisionswerberin zu verkaufen. Auch habe er die Erstrevisionswerberin in der Mongolei wegen Kindesentführung angezeigt, weswegen dort gegen sie gefahndet werde. Überdies bedrohe er ihre Mutter in der Mongolei. Bei einer Rückkehr hätten die Revisionswerberinnen Angst, von ihm getötet zu werden. Im Laufe des Verfahrens brachte die Erstrevisionswerberin auch vor, die Familie ihres Ehemannes sei in der Mongolei sehr einflussreich, sodass eine Anzeige gegen ihn bei den mongolischen Behörden aussichtslos sei.
4 Mit Bescheiden jeweils vom 16. November 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz ab, sprach jedoch aus, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei. Der Erstrevisionswerberin wurde gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 eine Aufenthaltsberechtigung, der Zweitrevisionswerberin gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt.
5 Gegen die Abweisung ihrer Anträge auf internationalen Schutz erhoben die Revisionswerberinnen Beschwerde.
6 Im Beschwerdeverfahren legten die Revisionswerberinnen mit Stellungnahme vom 3. September 2019 Informationen zu Gewalt in der Familie und gegen Frauen in der Mongolei vor, darunter eine nationale Studie über geschlechtsspezifische Gewalt vom Juni 2018. Danach hätten etwa 30 % der Frauen physische Gewalt durch ihre Partner erfahren; etwa 15 % sexuelle Gewalt durch Nicht-Partner. Nach einem in der Stellungnahme zitierten Bericht des US Department of State über die Menschenrechtssituation in der Mongolei im Jahr 2017 sei Gewalt in der Familie nach einem neuen Gesetz zwar erstmals strafbar, doch hinke die Strafverfolgung hinterher. Einstweilige Schutzmaßnahmen seien schwer zu erlangen und durchzusetzen.
7 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerden der Revisionswerberinnen - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - jeweils als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 8 Begründend führte das BVwG zur Beschwerde der Erstrevisionswerberin aus, die Übergriffe und Misshandlungen ihres Ehemannes sowie ihre Rückkehrbefürchtungen in Bezug auf dessen Drohungen seien glaubhaft. Nicht glaubhaft habe sie aber machen können, dass die Familie ihres Ehemannes Einfluss auf die mongolische Justiz nehmen könne, sodass eine Anzeige gegen ihn bei den mongolischen Behörden aussichtslos sei. Ausgehend von den Feststellungen zur Situation von Frauen in der Mongolei wäre es bei einer Gesamtbetrachtung für die Revisionswerberinnen "nicht aussichtslos", bei einer Rückkehr staatlichen Schutz vor dem Ehemann bzw. Vater zu erlangen. Die Misshandlungen der Erstrevisionswerberin durch ihren Ehemann seien auf Grund von dessen psychischer Krankheit und Alkoholabhängigkeit erfolgt; dieser Grund könne jedoch nicht unter die Verfolgungsgründe der GFK subsumiert werden. Die polizeiliche Fahndung in der Mongolei auf Grund der Anzeige ihres Mannes könne keine staatliche Verfolgung begründen, sondern stelle lediglich einen ersten behördlichen Schritt zur möglichen Einleitung eines Strafverfahrens dar. Die mittlerweile vierzehnjährige Zweitrevisionswerberin könne aber bestätigen, dass sie nicht von ihrer Mutter entführt worden sei, sodass auch insoweit keine Verfolgungsgefahr für die Erstrevisionswerberin bestehe. 9 Das BVwG traf Feststellungen zur Lage in der Mongolei in Form von Auszügen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation.
10 Gegen diese Erkenntnisse richten sich die vorliegenden (außerordentlichen) Revisionen. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Die Revisionen bringen zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, es sei auf Grund der Länderfeststellungen nicht nachvollziehbar, wie das BVwG zur Einschätzung der Schutzfähigkeit des mongolischen Staates gelange. Das BVwG habe diesbezüglich auch seine Ermittlungspflicht verletzt. Außerdem habe das BVwG den Antrag der Zweitrevisionswerberin nicht gesondert geprüft und in ihrem Fall das Kindeswohl nicht berücksichtigt.
13 Die Revisionen sind zulässig. Sie sind auch begründet.
14 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes
kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.11.2019, Ra 2018/19/0203, mwN).
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch ausgesprochen, dass die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen ist, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0119 bis 0121).
16 Wenn das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gelangt, es wäre für Frauen in der Mongolei im Allgemeinen und für die Erstrevisionswerberin in Bezug auf ihren Ehemann im Besonderen "nicht aussichtslos", staatlichen Schutz zu erlangen, genügt dies nach der zitierten Rechtsprechung für die Annahme einer wirksamen staatlichen Schutzfähigkeit nicht (vgl. auch VwGH 24.3.2011, 2008/23/0176, wonach es für effektiven staatlichen Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt darauf ankommt, ob dieser Schutz ausreichend ist, um im konkreten Fall den Eintritt eines asylrelevante Intensität erreichenden Nachteils "mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu verhindern").
17 Auch aus den vom BVwG zitierten Länderberichten lässt sich die Annahme, die Erstrevisionswerberin könnte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Fall einer Rückkehr in die Mongolei wirksamen staatlichen Schutz vor häuslicher Gewalt durch ihren Ehemann finden, nicht ableiten.
18 So stellte das BVwG u.a. fest, die schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen in der Mongolei seien Korruption und weit verbreitete häusliche Gewalt. Gewalt gegen Frauen, insbesondere im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch, sei laut Berichten von Nichtregierungsorganisationen im Zunehmen begriffen. Zwar stellte das BVwG fest, es gebe ein Gesetz gegen häusliche Gewalt aus dem Jahr 2004. Zugleich traf das BVwG aber die Feststellung, dass häusliche Gewalt weiterhin ein schwerwiegendes und weit verbreitetes Problem darstelle. Kindesmissbrauch sei ein bedeutendes Problem und bestehe hauptsächlich aus häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch. Häusliche Gewalt gegen Kinder werde oft nicht gemeldet, weil Kinder entweder Angst hätten oder nicht in der Lage seien, dies den zuständigen Behörden zu melden. Nach den Angaben der Polizei würden Kinder von misshandelnden Eltern in Schutzhäuser gebracht, einige Beobachter meinten jedoch, dass viele Jugendliche wieder zu ihren misshandelnden Eltern gebracht würden.
19 Diese Feststellungen tragen somit die Beurteilung des BVwG, die Erstrevisionswerberin könnte staatlichen Schutz gegen die festgestellten Übergriffe und Misshandlungen des Ehemannes finden, nicht.
20 Überdies hat sich das BVwG auch nicht mit den von den Revisionswerberinnen im Beschwerdeverfahren vorgelegten Länderinformationen über Gewalt in der Familie und gegen Frauen und über die mangelnde Effektivität staatlicher Schutzmechanismen in der Mongolei auseinandergesetzt.
21 Daran ändert fallbezogen auch nichts, dass die Mongolei gemäß § 1 Z 3 Herkunftsstaaten-Verordnung, BGBl. II Nr. 177/2009, in der Fassung BGBl. II Nr. 47/2016, als sicherer Herkunftsstaat gilt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes spricht die Festlegung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat für die Annahme einer grundsätzlich bestehenden staatlichen Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der Behörden dieses Staates. Es bleibt aber diesfalls einem Fremden unbenommen, fallbezogen spezifische Umstände aufzuzeigen, die ungeachtet dessen dazu führen können, dass geschützte Rechte im Fall seiner Rückführung in nach dem AsylG 2005 maßgeblicher Weise verletzt würden. Die Aufnahme eines Staates in die Liste sicherer Herkunftsstaaten führt demnach nicht zu einer gesetzlichen Vermutung, die nicht widerlegbar wäre (vgl. VwGH 26.6.2019, Ra 2019/20/0050). 22 Im Revisionsfall wurden solche spezifischen Umstände wie dargestellt durch die Revisionswerberinnen im Verfahren in hinreichend konkreter Weise geltend gemacht, sodass eine Auseinandersetzung mit diesen Umständen erforderlich gewesen wäre. 23 Das die Erstrevisionswerberin betreffende Erkenntnis war daher wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
24 Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf die Zweitrevisionswerberin durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidung (vgl. etwa VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0293, mwN). Das die Zweitrevisionswerberin betreffende Erkenntnis war daher ebenfalls gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
25 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 10. April 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190415.L00Im RIS seit
26.05.2020Zuletzt aktualisiert am
26.05.2020