TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/18 W260 2167335-1

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Veröffentlicht am 18.09.2019
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Entscheidungsdatum

18.09.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W260 2167335-1/29E

Schriftliche Ausfertigung des am 29.01.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Markus BELFIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Österreichische Caritaszentrale, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, vom 02.08.2017, Zl. XXXX , nach der Durchführung mündlicher Verhandlungen zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigten bis zum 29.01.2020 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (im Folgenden "Beschwerdeführer"), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 19.06.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Bei der Erstbefragung am 20.06.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu an, dass er afghanischer Staatsangehöriger wäre, der Volksgruppe der Tadschiken angehören würde und sunnitischer Moslem wäre. Er hätte acht Jahre lang die Grundschule besucht und wäre Hilfsarbeiter gewesen. Die Eltern, drei Brüder und sechs Schwestern leben noch im Herkunftsstaat. Zu seinen Fluchtgründen befragt sagte der Beschwerdeführer, die Taliban hätten sie bedroht. Sein Bruder und er hätten für ein ausländisches Unternehmen namens " XXXX " gearbeitet. Sein Bruder wäre vor ungefähr einem Jahr von den Taliban entführt worden. Der Beschwerdeführer hätte sich daraufhin aus Angst in Kabul versteckt. Dann hätte er das Land verlassen.

3. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens wurde der Beschwerdeführer am 22.09.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge "belangte Behörde") im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und in Anwesenheit seines Rechtsberaters niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er unter anderem an, er würde an einer Hautkrankheit leiden.

4. Mit Schreiben vom 27.09.2016 legte der Beschwerdeführer namens seiner bevollmächtigten Rechtsberatung medizinische Befunde vor.

5. Einer gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren vom 04.12.2016 ist zu entnehmen, dass beim Beschwerdeführer der Verdacht auf Epilepsie bestehe und als therapeutische Maßnahme Antiepileptika am jeweiligen Aufenthaltsort anzuraten wären.

6. Am 19.06.2017 übermittelte der Beschwerdeführer ein Schreiben einer Psychologin vom 12.06.2017 an die belangte Behörde.

7. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 20.06.2017 vor der belangten Behörde im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und Paschtu und in Anwesenheit einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen. Er legte ein Konvolut an medizinischen Befunden vor und gab an, dass er gesundheitliche Probleme hätte. Er würde an Epilepsie leiden.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, sein Bruder und er hätten für eine Firma namens " XXXX " in XXXX gearbeitet. Die Taliban hätten nicht gewollt, dass sie für diese Firma arbeiten und den Bruder telefonisch bedroht. Dann wäre der Bruder verschwunden. Es hätte dann auch noch eine Explosion gegeben, bei der der Beschwerdeführer am Kopf getroffen worden wäre.

Aufgrund der gesundheitlichen Verfassung des Beschwerdeführers wurde die Einvernahme abgebrochen und ein neuer Termin vereinbart.

8. Am 19.07.2017 wurde der Beschwerdeführer erneut vor der belangten Behörde im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu und in Anwesenheit einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen. Zu seiner gesundheitlichen Situation befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er Medikamente einnehmen müsse und in ärztlicher Behandlung stehen würde. Er legte medizinische Unterlagen vor.

Er sei aus Afghanistan wegen seiner Hautkrankheit ausgereist. Die Leute glauben, dass er schwer krank und ansteckend wäre und würden ihn wie einen Verrückten behandeln. Sein Vater hätte außerdem Angst vor den Taliban bzw. dass die Taliban den Beschwerdeführer, ebenso wie dessen Bruder, mitnehmen würden. Deshalb hätte er den Beschwerdeführer hierhergeschickt. Der Beschwerdeführer hätte persönlich keinen Kontakt zu den Taliban gehabt. Hinsichtlich der Explosion gab er an, dass die Explosion bei einer Bank gewesen wäre und er zufällig vor Ort gewesen wäre und dabei verletzt worden wäre.

9. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 02.08.2017 wies die belangte Behörde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, der Beschwerdeführer habe eine Furcht vor Verfolgung durch die Taliban nicht glaubhaft gemacht. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Zudem bestehe für den Beschwerdeführer eine taugliche innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative. Die vorgebrachten Beleidigungen durch Mitmenschen in Afghanistan hinsichtlich seiner Hauterkrankung seien nicht relevant, da er in Afghanistan nicht kurzärmlich herumlaufe und die weißen Flecken am Unterarm daher unter Kleidung verstecken könne. Hinsichtlich der gesundheitlichen Situation des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass er an Epilepsie und Depressionen leide. Die Erkrankungen seien in Kabul behandelbar. Medikamente seien verfügbar.

10. Am 04.08.2017 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein. Der Beschwerdeführer legte ein Konvolut an medizinischen Befunden bei.

11. Der Beschwerdeführer erhob mit Schreiben vom 09.08.2017 fristgerecht Beschwerde, wiederholte im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und tätigte Ausführungen zur Sicherheitslage und zu Zwangsrekrutierungen durch die Taliban in Afghanistan. Er machte geltend, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan einen Job finden müsste. Dies wäre jedoch aufgrund seiner Hauterkrankung extrem schwer.

12. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 11.08.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

13. Mit Schreiben vom 28.08.2017 verwies der Beschwerdeführer namens seiner bevollmächtigen Vertretung auf seine Stellungnahme vom 04.08.2017, die fast zeitgleich mit dem angefochtenen Bescheid ergangen sei und daher nochmals beim nunmehr zuständigen Gericht eingebracht werde. Es werde daher ersucht, die Stellungnahme als Ergänzung der Beschwerde anzusehen und zu berücksichtigen.

14. Mit Schreiben vom 16.05.2018 wurde die Niederlegung der Vollmacht durch den Verein Menschenrechte Österreich übermittelt.

Mit Schreiben vom 18.05.2018 übermittelte der Beschwerdeführer die Vollmacht für die CARITAS, die keine Zustellvollmacht beinhaltet.

15. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 23.05.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seiner bevollmächtigten Rechtsberaterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt. Die Niederschrift wurde der entschuldigt ferngebliebenen belangten Behörde übermittelt.

Der Beschwerdeführer legte ein Konvolut an medizinischen Beweismitteln und Integrationsunterlagen vor.

In der Verhandlung wurde die Dolmetscherin mittels Beschluss gemäß § 39a iVm § 52 Abs. 4 AVG zur Sachverständigen bestellt und beeidet. Die Sachverständige wurde beauftragt im gegenständlichen Verfahren zu Fragen der Hauterkrankung ("Vitiligo") des Beschwerdeführers und etwaiger besonderer Stigmatisierung und einer besonderen Beeinträchtigung in seiner Lebensführung in Afghanistan gutachterlich Stellung zu nehmen.

Aufgrund der fortgeschrittenen Verhandlungsdauer konnte keine mündliche, gutachterliche Stellungnahme erstattet werden und wurde die Erstattung eines schriftlichen Gutachtens vereinbart.

16. Am 04.09.2018 langte das Gutachten der länderkundigen Sachverständigen vom 03.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

17. Mit Schreiben vom 17.09.2018 wurden die Verfahrensparteien vom Ergebnis der Beweisaufnahme verständigt und eine Stellungnahmefrist von zwei Wochen vorgeschrieben.

18. Der Beschwerdeführer gab mit Schreiben vom 05.10.2018 namens seiner bevollmächtigen Vertretung eine Stellungnahme ab und führte zum Gutachten vom 03.09.2018 aus, dass diesem vollinhaltlich zugestimmt werde. Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

19. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.01.2019 eine fortgesetzte öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seiner bevollmächtigten Rechtsberaterin und eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt. Die Niederschrift wurde der entschuldigt ferngebliebenen belangten Behörde übermittelt.

Das Bundesverwaltungsgericht legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 08.01.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018 und Auszüge aus den aktuellen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018, vor.

Der Richter gab dem Beschwerdeführer die Möglichkeit, in diese herkunftsstaatsbezogenen Berichte Einsicht zu nehmen, sowie zu den vom Richter dargelegten Feststellungen eine Stellungnahme abzugeben. Der Beschwerdeführervertreter verzichtete auf die Ausfolgung der erwähnten Berichte und gab eine mündliche Stellungnahme ab.

In der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 29.01.2019 wurde das Erkenntnis im gegenständlichen Verfahren mündlich verkündet. Der Beschwerdeführer gab namens seiner bevollmächtigten Vertreterin in der Verhandlung keine Erklärung ab.

20. Die Niederschrift vom 29.01.2019 samt bezughabender Belehrung gemäß § 29a Abs. 2a VwGVG wurden der belangten Behörde mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.01.2019 übermittelt.

21. In der Folge stellte der Beschwerdeführer bevollmächtigt vertreten durch seine Rechtsberaterin fristgemäß den Antrag auf schriftliche Ausfertigung des am 29.01.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

22. Mit Schreiben vom 02.08.2019 gab der Beschwerdeführer seine neue Meldeadresse bekannt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , in der Stadt XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Nangarhar, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, ist sunnitischer Moslem und ledig. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.

Der Beschwerdeführer wuchs - unterbrochen durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Pakistan - in XXXX in Afghanistan auf und lebte dort bis zu seiner Ausreise ins Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer besuchte mehrere Jahre lang Schulen in Pakistan und in Afghanistan und arbeitete als Hilfsarbeiter.

Die Eltern und die Geschwister des Beschwerdeführers leben in Afghanistan. Der Beschwerdeführer hat derzeit keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen im Herkunftsstaat.

Ob der Bruder des Beschwerdeführers, der ihm einen Job als Schweißer verschafft hat, noch am Leben ist, kann nicht festgestellt werden.

Die Verwandten des Beschwerdeführers sind mittellos. Die wirtschaftliche Situation seiner Verwandten in Afghanistan ist dahingehend zu beschreiben, dass eine Unterstützung des Beschwerdeführers durch seine Verwandten in Form von Zurverfügungstellung von Wohnraum, bei der Arbeits- und Wohnungssuche oder durch finanzielle Beiträge bei einer Rückkehr nach Afghanistan bzw. Neuansiedelung in Afghanistan, nicht zu erwarten ist.

Der Beschwerdeführer ist Zivilist.

Der Beschwerdeführer leidet an einer Hauterkrankung namens "Vitiligo" (Weißfleckenkrankheit), welche am gesamten Körper ausgeprägt ist. Er leidet auch an Epilepsie und an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Der Beschwerdeführer reiste Ende 2015 aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge illegal ins Bundesgebiet und stellte am 19.06.2016 verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung und es scheinen im Strafregister der Republik Österreich keine Vormerkungen auf. Der Beschwerdeführer hat das ÖSD Zertifikat A1 am 03.04.2018 bestanden. Eine verfestigte Integration des Beschwerdeführers kann nicht erkannt und nicht festgestellt werden.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Das vom Beschwerdeführer dargelegte Fluchtvorbringen, sein Bruder und er hätten für ein ausländisches Unternehmen gearbeitet und wären deshalb von den Taliban bedroht und der Bruder entführt worden, ist nicht glaubhaft.

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, Religion, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische und/oder physische Gewalt von staatlicher Seite, und/oder von Aufständischen, und/oder von sonstigen privaten Verfolgern in seinem Herkunftsstaat.

Auch sonst haben sich im gesamten Verfahren keine Hinweise für eine dem Beschwerdeführer in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Nangarhar. Dies ist eine Provinz, in welcher willkürliche Gewalt ein derart hohes Ausmaß erreicht, dass im Einzelfall nur geringe Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um berechtigten Grund für die Annahme zu liefern, dass Zivilisten, welche in die betreffende Provinz rückgebracht würden, eine reelle Gefahr, ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15c der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen, zu gewärtigen hätte.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist nicht möglich und im gegenständlichen Fall nicht zumutbar:

Der Beschwerdeführer leidet an einer Hauterkrankung ("Vitiligo", "Weißfleckenkrankheit"), welche am gesamten Körper ausgeprägt ist. Der Beschwerdeführer ist in seinem Herkunftsstaat aufgrund dieser Erkrankung stigmatisiert und willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Die Stigmatisierung des Beschwerdeführers aufgrund seiner ausgeprägten Hauterkrankung betrifft sämtliche Lebensbereiche, wie unter anderem der Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben wie Bildung, Arbeitssuche, Heirat bzw. Gründung einer Familie. Der Beschwerdeführer leidet zudem an Epilepsie, die immer wieder Anfälle hervorruft, und an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seinen Eltern in Afghanistan. Die Verwandten des Beschwerdeführers in seinem Herkunftsstaat sind mittellos.

Es kann nicht festgestellt werden, ob der Bruder des Beschwerdeführers, dem es möglich war dem Beschwerdeführer für kurze Zeit eine Arbeit zu verschaffen, noch am Leben ist.

Aufgrund einer Zusammenschau dieser Umstände steht im gegenständlichen Fall fest, dass dem gesellschaftlich stigmatisierten, mittellosen, kranken Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer Verletzung nach Art. 3 EMRK drohen würde und eine innerstaatliche Fluchtalternative z. B. nach Mazar-e Sharif nicht möglich ist, da sich die Gefahr im gesamten Staatsgebiet verwirklichen könnte.

1.4. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat Afghanistan:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 08.01.2019, in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.4.1. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

1.4.2. Nangarhar

Die Provinz Nangarhar liegt im Osten von Afghanistan. Im Norden grenzt sie an die Provinzen Kunar und Laghman, im Westen an die Hauptstadt Kabul und die Provinz Logar und an den Gebirgszug Spinghar im Süden. Die Provinzhauptstadt Jalalabad ist 120 Kilometer von Kabul entfernt. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf

1.573.973 geschätzt.

Die Provinz Nangarhar besteht, neben der Hauptstadt Jalalabad aus folgenden Distrikten: Ghani Khil/Shinwar, Sherzad, Rodat, Kama, Surkhrod, Khogyani, Hisarak/Hesarak, Pachiragam/Pachir Wa Agam, DehBala/Deh Balah/Haska Mina, Acheen/Achin, Nazyan, Mohmand Dara/Muhmand Dara, Batikot, Kot, Goshta, Behsood/Behsud, Kuz Kunar/Kuzkunar, Dara-e Noor/Dara-e-Nur, Lalpora/Lalpur, Dur Baba/Durbaba und Chaparhar.

Nangarhar zählte 2017 zu den Provinzen mit der höchsten Opium-Produktion.

Allgemeine Information zur Sicherheitslage

In den letzten Jahren hat sich die Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar verschlechtert; Nangahar war seit dem Sturz des Taliban-Regimes eine der relativ ruhigen Provinzen im Osten Afghanistans, jedoch versuchen bewaffnete Aufständische in den letzten Jahren ihre Aktivitäten in der Provinz auszuweiten. Begründet wird das damit, dass seit dem Fall des Talibanregimes von weniger Vorfällen berichtet worden war. In den letzten Jahren versuchen Aufständische der Taliban und des IS in abgelegenen Distrikten Fuß zu fassen. Befreiungsoperationen, in denen auch Luftangriffe gegen den IS getätigt werden, werden in den unruhigen Distrikten der Provinz durchgeführt. Angriffe auch auf lokale Beamte und Sicherheitskräfte in der Provinz werden regelmäßig von Aufständischen der Taliban und dem IS durchgeführt.

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 795 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert

Nangarhar war die Provinz mit den meisten im Jahr 2017 registrierten Anschlägen.

Im gesamten Jahr 2017 wurden in Nangarhar 862 zivile Opfer (344 getötete Zivilisten und 518 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 1% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.

Militärische Operationen in Nangarhar

In der Provinz werden regelmäßig militärische Operationen ausgeführt, um gewisse Distrikte von Aufständischen zu befreien. Ebenso werden Luftangriffe durchgeführt; in manchen Fällen wurden Aufständische getötet; darunter auch IS-Kämpfer.

Regierungsfeindliche Gruppierungen in Nangarhar

Anhänger der Taliban, als auch des IS haben eine Präsenz in gewissen Distrikten der Provinz; zu diesen werden mehrere südliche Distrikte gezählt. Nachdem die Grausamkeit des IS ihren Höhepunkt erreicht hat, sind die Taliban in Nangarhar beliebter geworden und haben an Einfluss gewonnen. Auch ist es dem IS nicht mehr so einfach möglich, Menschen zu rekrutieren.

Obwohl militärische Operationen durchgeführt werden, um Aktivitäten der Aufständischen zu unterbinden, sind die Taliban in einigen Distrikten der Provinz aktiv. In Nangarhar kämpfen die Taliban gegen den IS, um die Kontrolle über natürliche Minen und Territorium zu gewinnen; insbesondere in der Tora Bora Region, die dazu dient, Waren von und nach Pakistan zu schmuggeln. Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und IS fanden statt, dabei ging es um Kontrolle von Territorium. In einem Falle haben aufständische Taliban ihren ehemaligen Kommandanten getötet, da ihm Verbindungen zum IS nachgesagt wurden.

Seit dem Jahr 2014 tauchen immer mehr Berichte zu einem Anstieg von Aktivitäten des IS in manchen abgelegenen Teilen der Provinz - dazu zählt auch der Distrikt Achin. Der IS zeigte weiterhin große Widerstandsfähigkeit, wenngleich die afghanischen und internationalen Kräfte gemeinsame Operationen durchführten. Die Gruppierung führte mehrere Angriffe gegen die zivile Bevölkerung und militärische Ziele aus - insbesondere in Kabul und Nangarhar.

Eine Anzahl Aufständischer der Taliban und des IS haben sich in der Provinz Nangarhar dem Friedensprozess angeschlossen.

Im Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden in der Provinz Nangharhar IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen Zivilisten, Auseinandersetzungen mit den Streitkräften und Gewalt) gemeldet.

Bei der Herkunftsprovinz Nangarhar handelt es sich laut den EASO Leitlinien vom Juni 2018 um einen jener Landesteile Afghanistans, wo willkürliche Gewalt ein derart hohes Ausmaß erreicht, dass im Einzelfall nur minimale Teilvoraussetzungen erfüllt sein müssen, um berechtigten Grund für die Annahme zu liefern, dass Zivilisten, welche in die betreffende Provinz rückgebracht würden, eine reelle Gefahr, ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen, zu gewärtigen hätten. Die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers gilt als volatil.

1.4.3. Mazar-e Sharif

Die Stadt Mazar- e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher.

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen, diese sind auch am meisten armutsgefährdet.

In Mazar- e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Als Alternative dazu stehen ferner günstige Unterkünfte in "Teehäusern" zur Verfügung. Generell besteht in Mazar- e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keinerlei Lebensmittelknappheit.

In Mazar- e Sharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu besseren Sanitäreinrichtungen.

1.4.4. Medizinische Versorgung

Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung.

In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen. Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht. Gründe dafür waren u. a. eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw.. Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert.

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren.

Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel. In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 - 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt. Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonders von Polio gefährdeten Provinzen wie Kunduz, Faryab und Baghlan wurden zusätzliche Kampagnen durchgeführt.

Krankenkassen und Gesundheitsversicherung

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an: das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden. Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die

Kosten nicht ausreichend decken. Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden.

Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewährleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenhäuser operieren in den größeren Dörfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenhäusern getragen. In urbanen Gegenden bieten städtische Kliniken, Krankenhäuser und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in ländlichen Gebieten erbringen. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen.

Beispiele für Behandlung psychischer erkrankter Personen in Afghanistan

In der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch ist der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul sind dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden genauso wie Kranke und Alte gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gemeinschaftliche Unterstützung sicherstellen.

Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. So existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Einige dieser NGOs sind die International Psychological Organisation (IPSO) in Kabul, die Medica Afghanistan und die PARSA.

Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es wird ihnen durch eine "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben. Beispielweise wurde in der Provinz Badakhshan durch internationale Zusammenarbeit ein Projekt durchgeführt, bei dem konventionelle und kostengünstige e-Gesundheitslösungen angewendet werden, um die vier häufigsten psychischen Erkrankungen zu behandeln: Depressionen, Psychosen, posttraumatische Belastungsstörungen und Suchterkrankungen. Erste Evaluierungen deuten darauf hin, dass in abgelegenen Regionen die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden.

Trotzdem findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt.

Krankenhäuser in Afghanistan

Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos. Dennoch ist es üblich, dass Patienten Ärzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw. schnellere medizinische Versorgung zu bekommen. Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich. In öffentlichen Krankenhäusern in den größeren Städten Afghanistans können leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfälle behandelt werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Beeinträchtigungen wie Herz-, Nieren-, Leber- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, die eine komplexe, fortgeschrittene Behandlung erfordern, wegen mangelnder technischer bzw. fachlicher Expertise nicht behandelt werden können. Chirurgische Eingriffe können nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen. Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht möglich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Türkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten können, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung.

Es gibt zahlreiche private Kliniken, die auf verschiedene medizinische Fachbereiche spezialisiert sind.

Beispiele für Nichtregierungsinstitutionen vor Ort Ärzte ohne Grenzen (MSF)

Médecins sans Frontières (MSF) ist in verschiedenen medizinischen Einrichtungen in Afghanistan tätig: im Ahmad Shah Baba Krankenhaus und im Dasht-e Barchi Krankenhaus in Kabul, in der Entbindungsklinik in Khost, im Boost Krankenhaus in Lashkar Gah (Helmand) sowie im Mirwais Krankenhaus und anderen Einrichtungen in Kandahar.

Das Komitee des internationalen Roten Kreuz (ICRC)

Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. Für den Zeitraum von Dezember 2017 bis März 2018 wurden Berichten zufolge insgesamt 48 Zwischenfälle in 13 Provinzen registriert. Nach mehreren Angriffen mit Todesfolge auf Mitarbeiter des ICRC, hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes 2017 einen erheblichen Teil seines Personals im Land abgezogen. Trotzdem blieb im Laufe des Jahres 2017 das ICRC landesweit aktiv. Tätigkeiten des Komitees zur Förderung der Gesundheitsfürsorge waren z.B. der Transport von Kriegsverwundeten in nahe liegende Krankenhäuser für weitere medizinische Versorgung, die Bereitstellung von Medikamenten und medizinischer Ausstattung zur Unterstützung einiger staatlicher Krankenhäuser, die Bereitstellung von medizinischer Unterstützung für das Mirwais Krankenhauses in Kandahar, die Unterstützung von Gesundheitsdienstleistungen in zwei Gefängnissen.

International Psychosocial Organization (IPSO) in Kabul

IPSO bietet landesweit psychosoziale Betreuung durch Online-Beratung und Projektfeldarbeit mit insgesamt 280 psychosozialen Therapeuten, wovon die Hälfte Frauen sind. Die Online-Beratung steht von 8-19 Uhr kostenfrei zur Verfügung; angeboten werden ebenso persönliche Sitzungen in Beratungszentren der Krankenhäuser. Einige der Dienste dieser Organisation sind auch an Universitäten und technischen Institutionen verfügbar. Unter anderem ist IPSO in den Provinzen Nangarhar, Kabul, Herat, Bamyan, Badakhshan, Balkh, Jawzjan und Laghman tätig.

PARSA Afghanistan

Parsa ist seit 1996 als registrierte NGO in Afghanistan tätig. Die Organisation spezialisiert sich u.a. auf psychologische Leistungen und Ausbildung von afghanischem Fachpersonal, das in sozialen Schutzprogrammen tätig ist und mit vulnerablen Personen arbeitet. Zu diesen Fachkräften zählen Mitarbeiter in Zentren für Binnenvertriebene, Frauenhäusern und Waisenhäusern sowie Fachkräfte, die in lokalen Schulen am Projekt "Healthy Afghan Girl" mitarbeiten und andere Unterstützungsgruppen.

Weitere Projekte

Das Telemedizinprojekt des Mobilfunkanbieters Roshan, verbindet Ärzte in ländlichen Gegenden mit Spezialisten im französischen Kindermedizininstitut in Kabul und dem Aga Khan Universitätskrankenhaus in Pakistan. Durch eine Hochgeschwindigkeits-Videoverbindung werden mittellose Patienten auf dem Land von Fachärzten diagnostiziert. Unter anderem bietet die von Roshan zur Verfügung gestellte Technologie afghanischen Ärzten die Möglichkeit, ihre medizinischen Kenntnisse zu erweitern und auf den neuesten Stand zu bringen.

1.4.5. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken, zu denen der Beschwerdeführer zählt, ist die zweitgrößte; und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan. Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten: In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

1.4.6. Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten, wie es auch der Beschwerdeführer ist.

1.4.7. Rückkehrer

In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.

Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Großfamilie ist für Zuürckkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

1.4.8. Terroristische und aufständische Gruppierungen

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte grundsätzlich vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus. Die Taliban haben hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet. Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans. Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten.

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Kollaborateure der afghanischen Regierung - praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Im Grunde steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein "Übeltäter" ist, und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können.

Die Taliban haben ein Netzwerk an Spitzeln in Afghanistan, allein in der Stadt Kabul sind drei verschiedene Taliban Nachrichtendienste nebeneinander aktiv. Es heißt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste der Taliban in Kabul über 1.500 Spione in allen 17 Stadtteilen haben. Selbst die, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden. Die Taliban behaupten, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, regelmäßig Berichte darüber zu erhalten, wer neu ins Land einreist.

Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr.

1.4.9. Auszug aus dem Gutachten zum gegenständlichen Asylverfahren, erstellt von Mag. Zerka MALYAR am 03.09.2018:

"Fragen und Antworten

1. Ist im gegenständlichen Verfahren der BF aufgrund seiner Hauterkrankung ("Vitiligo") einer besonderen Stigmatisierung und einer besonderen Beeinträchtigung in seiner Lebensführung ausgesetzt?

Antwort:

Nachdem bei dem Beschwerdeführer die weißen Flecken ersichtlich sind, wird er sowohl von der Gesellschaft als auch von seiner Umgebung und von seiner eigenen Familie stigmatisiert.

Der Beschwerdeführer hat bei seinen Angaben vor dem Gericht - nämlich dass er heiraten wollte, aber niemand bereit gewesen sei, ihm seine Tochter zu geben, er als kleines Kind gelitten habe, weil die anderen Kinder nicht ihm gespielt hätten, die Eltern ihre Kinder davor gewarnt hätten, mit ihm zu spielen, weil sie dachten, er könnte sie anstecken, dass außer seiner Mutter niemand mit ihm aus einem Teller gegessen habe, niemand mit ihm in einem Zimmer schlafen wollte, und wenn jemand mit ihm in einem Zimmer geschlafen habe, er ganz weit weg in der anderen Ecke des Zimmers geschlafen habe, dass niemand bereit war, seine Wäsche und Bettwäsche zu waschen - sehr klar zu seinen ihm betreffenden Diskriminierungen Bezug genommen. Auch zu seinem Leben in Österreich sagte er aus, dass er Probleme mit anderen Flüchtlingen in der Unterkunft gehabt habe, die sich vor ihm geekelt hätten. Jetzt habe er ein eigenes Zimmer, in dem er alleine wohne. Seine Ausführungen stimmen mit dem Gesamtbild der gesellschaftlichen Ansichten weltweit betreffend "Vitiligo" überein.

2. Ist diese Beeinträchtigung auch in Großstädten wie in Kabul oder Mazar-e-Scharif für den BF mit erheblichen Nachteilen in seiner Lebensführung verbunden?

Die Diskriminierung von mit Vitiligo erkrankten Personen ist in Afghanistan nicht nur auf ländlichem Gebiet oder kleinen Städten beschränkt, sondern betrifft auch urbane Zentren und Großstädte wie Kabul, Mazar-e-Scharif und Herat. Obwohl der Bildungsgrad in den Großstädten relativ höher ist als im ländlichen Raum, fehlt dennoch das allgemeine Verständnis für solche Krankheiten. Damit sind alle Krankheiten, die den Betroffenen sichtbar von anderen Menschen unterscheiden, gemeint. Hinzu kommt, dass Afghanistan medizinisch dermaßen unterversorgt ist, dass viele Menschen einfach keinen Arzt finden. Nach UN-Angaben gibt es statistisch einen einzigen Mediziner für jeweils 10.000 Menschen. Eine Alternative sind Heiler. Aufgrund dieser Tatsache sind die Betroffenen den kulturellen, traditionellen und religiösen (Strafe Gottes, Tilgung der Sünden etc.) Vorurteilen ausgesetzt.

3. Welcher Art sind die Beeinträchtigungen?

In diesem speziellen Fall kann davon ausgegangen werden, dass der BF aufgrund seiner sichtbaren Hauterkrankung und dem daraus entstanden psychischen Leiden relevante Gründe vorweist, die ihm die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zusprechen. Der BF ist daher von sozialer Ausgrenzung betroffen. Seine Leiden beeinflussen alle seine Lebensbereiche, darunter gesellschaftliche Akzeptanz und Selbstwertgefühl, Integration im Bildungsbereich, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie Heirat.

Die an Weißfleckenkrankheit erkrankten Menschen werden von der Gesellschaft systematisch ausgestoßen bzw. ausgegrenzt. Da ihre Krankheit als Strafe Gottes für die eigenen Sünden oder die Sünden der Eltern betrachtet wird, werden diese Personen von der Gesellschaft für ihre Krankheit verantwortlich gemacht. Die Feindseligkeit von der Gesellschaft drückt sich auch in beleid

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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