TE Bvwg Beschluss 2019/11/12 W258 2015102-2

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Veröffentlicht am 12.11.2019
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Entscheidungsdatum

12.11.2019

Norm

AsylG 2005 §12a Abs2
AsylG 2005 §22 Abs10
BFA-VG §22
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W258 2015102-2/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT in dem von Amts wegen eingeleiteten Verfahren über die durch den mündlich verkündeten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.11.2019, AZ XXXX , erfolgte Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes betreffend XXXX , geb. XXXX , StA.

Afghanistan:

A)

Die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes ist gemäß § 12a Abs 2 und § 22 Abs 10 AsylG 2005 iVm § 22 BFA-Verfahrensgesetz nicht rechtmäßig.

Der Bescheid wird aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

Zum Erstverfahren:

Der Fremde (in Folge kurz als "BF" bezeichnet), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 22.12.2013 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. In seiner Ersteinvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am nächsten Tag gab der BF ua an, er sei mit seiner Familie aus Afghanistan geflohen, weil er eines Tages auf dem Schulweg eine Landmine entdeckt und das der örtlichen Polizei gemeldet habe; deshalb sei seine Familie von unbekannten Personen bedroht worden.

Nachdem der BF durch das Bundesamt für Fremdenrecht und Asyl (kurz "BFA") am 13.05.2014 einvernommen worden war, wies das BFA mit Bescheid vom 30.10.2014 den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Unter einem erteilte das Bundesamt dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 und erließ gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG. Gemäß § 52 Abs 9 FPG stellte es fest, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist, und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt III.).

Die dagegen erhobene Beschwerde des BF wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.06.2018 mit hg Erkenntnis vom 29.06.2018, GZ W186 2015102-1/15E, abgewiesen und es wurde ausgesprochen, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Begründend wurde ausgeführt, dass das individuelle Fluchtvorbringen des BF nicht glaubhaft sei und aus der allgemeinen Lage in seinem Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung abgeleitet werden könne. Eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz des BF sei nicht möglich, er könne aber auf eine innerstaatliche Fluchtalternative, nämlich die Hauptstadt Kabul, verwiesen werden. Ein im Sinne des Art 8 EMRK geschütztes Familienleben mit seiner Freundin, seinem ungeborenen Kind und seinem Stiefkind liege nicht vor; ein Eingriff in sein Privatleben läge zwar vor, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung wiege aber schwerer; dies, weil der BF erst viereinhalb Jahre im Bundesgebiet aufhältig gewesen sei und sich schwach integriert habe. Die Beziehung zu seiner Freundin und ihrem Kind, dh seinem Stiefkind, sei abgeschwächt, weil sie zu einem Zeitpunkt entstanden sei, zu dem sich der BF seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst hätte sein müssen. Bei einer tatsächlichen Eheschließung stünde dem BF der Weg für einen dauernden Aufenthalt in Österreich in Form des Aufenthaltsrechts für Angehörige von EWR-Bürgern zu Verfügung; bis dahin könne er den Kontakt per Telefon und Internet aufrechterhalten und seinen Unterhaltspflichten per Auslandsüberweisung nachkommen. Der BF habe nach wie vor eine Beziehung zu Afghanistan. Der Eingriff in sein Privatleben sei aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zu neun Monaten Freiheitsstrafe, davon drei Monate bedingt, wegen § 15, 28a Abs 1, fünfter Fall SMG und § 28a Abs 1, vierter Fall SMG, gerechtfertigt. Seine zwischenzeitlich aufgenommene Tätigkeit als Vertrauensperson für das Bundeskriminalamt sei keine "Wiedergutmachung" und erhöhe - da sich der BF daher nach wie vor im Drogenmilieu aufhalte - das Risiko eines Rückfalls.

Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 25.09.2018, GZ E 3255/2018-8, ab; der Verwaltungsgerichthof hat die dagegen erhobene Revision mit Beschluss vom 10.09.2018, GZ Ra 2018/20/0427-4, zurückgewiesen.

Zum Folgeverfahren:

Der BF wurde am 18.09.2019 wegen des Verdachts auf Ladendiebstahl festgenommen und stellte daraufhin am 23.09.2019 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Begründen führte er zusammengefasst an, er sei seit einem Jahr Vater. Da seine Frau zwischenzeitlich verstorben sei, habe seine Schwiegermutter das Sorgerecht für das Kind. Er sei nunmehr verfolgt, weil er mit der Polizei als Vertrauensmann zusammengearbeitet und in diesem Zusammenhang in Gerichtsverfahren ausgesagt habe. Deswegen seien etwa 30 Personen verurteilt worden; davon würden sechs bis sieben aus Afghanistan stammen. Zwei dieser Afghanen hätten ihn wegen seiner Aussage mit dem Tode bedroht. Da sie Familie und Verwandte in Afghanistan hätten, sei sein Leben bei einer etwaigen Rückkehr bedroht.

Mit Schreiben vom 24.09.2019 bestätigte das Bundeskriminalamt die erfolgreiche Tätigkeit des BF als Vertrauensperson.

Am 01.10.2019 wurde der BF vom BFA zu seinen Nachfluchtgründen und einem allfällig in Österreich bestehenden Familienleben befragt sowie Länderberichte zu Afghanistan ausgefolgt und eingeräumt, zu ihnen bis zum 14.10.2019 Stellung zu nehmen.

Mit Stellungnahme vom 11.10.2019 brachte der BF vor, dass die vom Bundesverwaltungsgericht im abweisenden Erkenntnis angenommene innerstaatliche Fluchtalternative in der Hauptstadt Kabul nicht mehr verfügbar sei; der maßgebliche Sachverhalt habe sich nach dem Erkenntnis geändert, weil er als Vertrauensmann bedroht worden sei. Einer Abschiebung würde sein Recht auf Kontakt mit seinem Kind und das Rechts des Kindes auf Kontakt zu ihm verletzten und er müsse, weil seine Tochter polnische Staatsbürgerin sei, einen Aufenthaltstitel erhalten. Mit Stellungnahme vom 15.10.2019 (irrtümlich mit 14.10.2019 datiert) stellte er den Antrag auf seine neuerliche Einvernahme und auf Einholung eines Gutachtens zur Feststellung der Vaterschaft zur Tochter seiner verstorbenen Lebensgefährtin.

Mit Schreiben vom 04.11.2019 teilte die Großmutter der angeblichen Tochter des BF dem BFA mit, dass ihr ein persönliches Erscheinen nicht möglich sei, weil sich ihre Enkelin einer Herzoperation unterziehen musste. Sie könne die Vaterschaft des BF, den sie persönlich nicht kenne und der sich seit dem Tod ihrer Tochter um seine Enkelin nicht gekümmert hätte, nicht bestätigen.

Am 05.11.2019 wurde der BF vom BFA ergänzend einvernommen und das BFA hob mit mündlich verkündetem Bescheid den faktischen Abschiebeschutz des BF auf. Eine Gefährdung des BF sei durch seine Tätigkeit als Vertrauensperson in Afghanistan nicht entstanden, weil er - nach seinen Aussagen - anonym ausgesagt hätte. Der BF könne sich um seine angebliche Tochter, die bei ihrer Großmutter lebe, zu der er nur wenig Kontakt habe und keine Alimente zahle, nicht kümmern und könne kein Familienleben zu ihr festgestellt werden. Durch das Fehlverhalten des BF, insbesondere seine strafrechtliche Verurteilung, wiege das öffentliche Interesse an einer Abschiebung schwerer, als das persönliche Interesse des BF an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet.

Die belangte Behörde hat den Verwaltungsakt von Amts wegen am 06.11.2019, hg eingelangt am 08.11.2019, dem Bundesverwaltungsgericht zur Überprüfung der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes vorgelegt.

Beweise wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, in den Verwaltungs- und Gerichtsakt des Erstverfahrens zur hg AZ W186 2015102-1 und einen Strafregisterauszug des BF vom 08.11.2019.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Der folgende Sachverhalt steht fest:

1.1. Der BF, ein Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistans, stellte am 23.12.2013 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 30.10.2014 abgelehnt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit hg Erkenntnis vom 29.06.2018 zur AZ W186 2015102-1 abgewiesen. Begründend wurde ua ausgeführt, das Fluchtvorbringen des BF sei nicht glaubhaft und es stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Kabul zur Verfügung; eine Verletzung in seinem Recht auf Privat- und Familienleben läge weder hinsichtlich seiner Lebensgefährtin noch hinsichtlich seines ungeborenen Kindes vor. Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der Beschwerde gegen das hg Erkenntnis mit Beschluss vom 25.09.2018, GZ E 3255/2018-8 ab und der Verwaltungsgerichtshof wies die Revision gegen das hg Erkenntnis mit Beschluss vom 10.09.2018, GZ Ra 2018/20/0427-4, zurück.

1.2. Am 23.09.2019 stellte der BF einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Begründend führte er in den Einvernahmen vom 23.09.2019, 01.10.2019 und 05.11.2019 ua aus, er habe nunmehr eine etwa einjährige Tochter in Österreich, die polnische Staatsbürgerin sei. Eine Abschiebung würde in sein Recht auf Privat- und Familienleben eingreifen und das Kontaktrecht seiner Tochter verletzen.

1.3. Im Zuge der Einvernahmen hat das BFA den BF rudimentär zu seiner Beziehung zu seiner angeblichen Tochter befragt. Zur Frage, inwiefern sich die Abschiebung des BF das Wohl des Kindes auswirken würde, hat es nicht ermittelt.

1.4. Mit Bescheid vom 05.11.2019 hob das BFA den faktischen Abschiebeschutz des BF auf. In der Begründung geht es nicht darauf ein, inwiefern sich die Abschiebung des BF auf das Wohl des Kindes auswirken würde.

1.5. Zum Vorbringen im Folgeverfahren bzw zum Familienleben des BF in Österreich:

Frau XXXX , eine polnische Staatsangehörige, (in Folge "Kindsmutter") hat am 24.09.2018 ein Mädchen namens XXXX (in Folge "Mädchen" oder "Kind") geboren. In ihrer Geburtsurkunde vom 02.10.2018 (Verwaltungsakt, OZ 1, S 92) ist kein Vater eingetragen. Die Kindsmutter ist am 29.05.2019 verstorben (Verwaltungsakt, OZ 1, S 109). Die Obsorge für das Mädchen hat die leibliche Großmutter und Mutter der Kindesmutter, Frau XXXX , (in Folge "Obsorgeberechtigte") übernommen. Das Kind ist in Österreich aufenthaltsberechtigt und aufhältig. Das Kind wurde am 14.10.2019 am Herzen operiert (Verwaltungsakt, OZ 1, S 223 ff). Der BF hat seit dem Tod der Kindsmutter mit dem Kind nicht zusammengewohnt. Der BF zahlt für das Kind keine Alimente.

Der BF brachte im Erstverfahren vor, er lebe seit Mitte 2015 mit der Kindsmutter in Lebensgemeinschaft, sie sei von ihm schwanger (hg Verhandlungsprotokoll vom 06.06.2019, OZ 12 zur AZ W186 2015102-1 S 8). Im Folgeverfahren brachte er ergänzend vor, er habe mit der Kindsmutter von Mitte 2015 bis zu ihrem Tod in einer Lebensgemeinschaft gelebt; sie hätten traditionell, dh nach schiitischem Ritus, geheiratet. Eine standesamtliche Hochzeit sei nicht möglich gewesen, weil der BF über keine Geburtsurkunde verfüge (Verwaltungsakt, OZ 1, S 68). Bei dem Mädchen handle es sich um seine leibliche Tochter. Von der Geburt seiner Tochter bis zum Tod seiner Lebensgefährtin hätten sie gemeinsam gewohnt. Er habe sich um seine Tochter bis zum Tod ihrer Kindsmutter gekümmert; beispielsweise habe er sie in den Kindergarten gebracht. Nach dem Tod der Mutter sei es dem BF psychisch sehr schlecht gegangen, weshalb er sich um seine Tochter nicht kümmern hätte können. Er habe sie aber nach wie vor regelmäßig besucht. Zu seiner Schwiegermutter habe er Kontakt, sie unterstütze ihn auch gelegentlich (Verwaltungsakt, OZ 1, 68, 231).

Mit Stellungnahme ihres Rechtsvertreters vom 04.11.2019 (Verwaltungsakt, OZ 1, S 221 f) bringt die Obsorgeberechtigte sinngemäß vor, sie könne die Vaterschaft des Kindes zu ihrer Enkelin nicht bestätigen; er "dürfte zwar wohl mehrere Monate in der Wohnung der Kindesmutter zugebracht haben", ihre Tochter habe den Namen des Kindesvaters aber nie genannt; nach dem Tod der Kindesmutter sei der BF verschwunden und er habe sich nicht um das Kind gekümmert. Erstmals im Oktober habe die Diakonie hinsichtlich einer Bestätigung der Vaterschaft Kontakt aufgenommen und sie habe eine SMS von einer unbekannten Nummer bekommen, aus der hervorgegangen sei, dass der BF ihre Enkelin sehen möchte. Dies sei aber nicht möglich, weil das Kind am Herzen operiert worden und rekonvaleszent sei und sie den BF nicht kenne.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 26.02.2016 wurde der BF wegen dem Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 15 StGB, § 28a Abs 1, fünfter Fall SMG und dem Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 vierter Fall SMG unter Anwendung des § 28 StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 9 Monaten verurteilt, wobei sieben Monate für eine Probezeit in der Dauer von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden. Der unbedingte Teil der Freiheitsstrafe wurde mit Ablauf des 04.02.2016 vollzogen.

2. Die Feststellungen gründen auf der folgenden Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zum Verfahrensgang und zu den persönlichen Daten des BF gründen auf dem unbedenklichen Verwaltungsakt bzw dem hg Akt zum Erstverfahren bzw den daraus zitierten Beweismitteln. Die Feststellung zu den Vorstrafen aus einem Strafregisterauszug des BF vom 08.11.2019.

3. Rechtlich folgt daraus:

Zu A)

3.1. Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen lauten:

Gemäß § 68 Abs 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 leg cit die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 bis 4 dieser Bestimmung findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

§ 12 Abs 1 AsylG 2005 ("Faktischer Abschiebeschutz") lautet:

"Ein Fremder, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, kann, außer in den Fällen des § 12a, bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung, bis zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens oder nach einer Einstellung bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 24 Abs. 2 nicht mehr zulässig ist, weder zurückgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben werden (faktischer Abschiebeschutz); § 32 bleibt unberührt. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet ist zulässig. Ein auf Grund anderer Bundesgesetze bestehendes Aufenthaltsrecht bleibt unberührt. § 16 Abs. 4 BFA-VG gilt."

Der mit "Faktischer Abschiebeschutz bei Folgeanträgen" überschriebene § 12a AsylG 2005 lautet (auszugsweise):

"(1) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) nach einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG gestellt, kommt ihm ein faktischer Abschiebeschutz nicht zu, wenn

[...]

(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn

1. gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,

2. der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und

3. die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. [...]"

§ 22 BFA-VG, der die Überprüfung der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes regelt, lautet:

"(1) Eine Entscheidung des Bundesamtes, mit der der faktische Abschiebeschutz eines Fremden aufgehoben wurde (§ 12a Abs. 2 AsylG 2005), ist vom Bundesverwaltungsgericht unverzüglich einer Überprüfung zu unterziehen. Das Verfahren ist ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. § 20 gilt sinngemäß. § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG ist nicht anzuwenden. [...]"

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art 8 Abs 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32], ÖJZ 1996, 593). Das Zusammenleben zwischen einem Elternteil und dem Kind ist dabei keine unabdingbare Voraussetzung für das Vorhandensein eines Familienlebens iSv Art 8 Abs 1 EMRK. Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist (vgl EGMR 24.4.1996, Fall Boughanemi, Appl 22.070/93 [Z33 und 35], ÖJZ 1996, 834; VfSlg 16.777/2003; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

Davon ausgehend kann nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art 8 EMRK führen (vgl VfSlg 19.362/2011 mwN; VfGH 28.2.2012, B1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99, newsletter 2006, 26 = ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562, sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09, newsletter 3/2011, 169; zum Ganzen siehe VfGH 12.06.2019, E3528/2018).

3.2. Angewendet auf den konkreten Sachverhalt bedeutet das:

Der maßgebliche Sachverhalt hat sich seit der hg Entscheidung im Erstverfahren geändert.

Die dreizehneinhalb Monate alte XXXX ist in Österreich aufhältig und aufenthaltsberechtigt. Der BF bringt vor, sie sei seine leibliche Tochter, mit der er seit ihrer Geburt bis zum Tod ihrer Mutter, dh für acht Monate, zusammengelebt und sich um sie gekümmert habe.

Das BFA trifft im gegenständlichen Bescheid keine Ausführungen dazu, welche Auswirkungen die Abschiebung des BF auf das Wohl des Kindes hätte. Die von ihm gemäß § 12a Abs 2 Z 3 AsylG 2005 vorgenommene Interessensabwägung nach Art 8 EMRK, Verletzung im Recht auf Privat- und Familienleben, ist daher fehlerhaft. Insbesondere kann angesichts der Tatsache, dass der BF bereits in seiner hg Einvernahme in seinem Erstverfahren davon gesprochen hat, dass er mit der Kindesmutter eine Beziehung führe, sie von ihm schwanger sei, ihre Hochzeit geplant gewesen sei und auch die Großmutter des Kindes über ihren Rechtsvertreter ausführt, dass der BF wohl einige Monate bei der Kindesmutter gelebt hat, nicht darauf geschlossen werden, dass das Kind nicht die leibliche Tochter des BF sein könne und die Erforderlichkeit einer Interessensabwägung verneint werden. Dass die Großmutter die Vaterschaft des BF - mangels eigener Wahrnehmung - nicht bestätigt hat, schadet vor diesem Hintergrund ebenso wenig, wie der Umstand, dass die Geburtsurkunde des Kindes hinsichtlich des Vaters keinen Eintrag enthält. Zwar ist dem BFA zuzustimmen, dass der BF über den Gesundheitszustand seiner Tochter, die - wie er vermeint - eine Augenoperation, tatsächlich jedoch eine Herzoperation gehabt hat, - wenn überhaupt - nur beschränkt Bescheid weiß, sich derzeit - wie er angibt, wegen der Trauer über den Tod der Kindesmutter - abgesehen von angeblichen regelmäßigen Besuchen nicht um das Kind kümmert und auch keine Alimente zahlt; dass damit jegliche familiäre Bindung im Sinne der zuvor zitierten Rechtsprechung gelöst wäre, folgt daraus allerdings nicht. Auch aus der strafrechtlichen Verurteilung des BF folgt nicht zwangsläufig, dass die Interessensabwägung zu seinen Ungunsten bzw zu Ungunsten des Kindes auszugehen hat.

Im gegenständlichen Fall ist das Kindeswohl in Bezug auf eine etwaige Trennung vom angeblichen Vater besonders sorgfältig zu prüfen, weil das Kind bereits eine Bezugsperson, nämlich seine Mutter, verloren hat, die verstorben ist, als das Kind acht Monate alt war. Weiters kann dem Kind bei der Interessensabwägung nicht vorgeworfen werden, dass seine familiäre Bindung zu einem Zeitpunkt entstanden ist, zu dem es sich des unsicheren Aufenthaltsstatus des Vaters bewusst sein hätte müssen. Auch kann das Familienleben auf Grund des Alters des Kindes nicht mittels Telekommunikationsmitteln von der Ferne aus aufrechterhalten werden (VfGH 12.06.2019, E3528/2018, Rz 2.2.).

Es ist dem erkennenden Gericht aus der Aktenlage nicht mit maßgeblicher Sicherheit möglich, die erforderlichen Feststellungen zu treffen, um eine fehlerfreie Interessensabwägung durchführen zu können.

So finden sich nur rudimentäre Aussagen des BF zur Frage, wie er sich vor dem Tod der Kindsmutter um das Kind gekümmert hat. Welche Beziehung das Kind zum BF in diesen sieben Monaten aufgebaut hat, bleibt völlig unklar.

Unklar bleibt weiters, inwieweit sich der BF nach dem Tod seiner Frau um das Kind gekümmert hat und inwieweit nach wie vor eine Beziehung des Kindes zum BF besteht. Hier steht die Aussage des BF der - lediglich schriftlichen - Stellungnahme des Rechtsvertreters der mit der Obsorge des Kindes betrauten Großmutter gegenüber.

Da die Beziehung des Kindes zum BF unklar bleibt, können auch hinsichtlich der Auswirkungen der Trennung des Kindes von seinem angeblichen Vater keine Feststellungen getroffen werden.

Um die erforderlichen Feststellungen zur Beurteilung der Abschiebung des BF auf das Kindeswohl treffen zu können, sind daher weitere Ermittlungen erforderlich, die im Rahmen des Prüfverfahrens nach § 22 BFA-VG nicht möglich sind, etwa - sobald es der Gesundheitszustand des Kindes zulässt - die Einvernahme der Obsorgeberechtigten, die Beiziehung des Jugendwohlfahrtsträgers oder eines Kinderpsychologen und die ergänzende Einvernahme des BF.

3.3. Da somit nicht ausgeschlossen werden kann, dass durch die Abschiebung des BF nach Afghanistan ein etwaiges Familienleben iSd Art 8 EMRK zwischen ihm und seiner angeblichen Tochter verletzt werden würde, wurde der faktische Abschiebeschutz des BF zu Unrecht aufgehoben.

3.4. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gegen die gegenständliche Entscheidung gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig; nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung ist das - in diesem Fall unberücksichtigt gebliebene - Kindeswohl bei einer Interessensabwägung nach Art 8 EMRK von wesentlicher Bedeutung (vgl jüngst VfGH 12.06.2019, E3528/2018).

Schlagworte

Einvernahme, Ermittlungen, faktischer Abschiebeschutz - Aufhebung
nicht rechtmäßig, gesundheitliche Beeinträchtigung, Kindeswohl,
Obsorge, Prüfungsumfang, Psychotherapeut

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W258.2015102.2.00

Zuletzt aktualisiert am

26.05.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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