TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/30 I405 1311801-2

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Veröffentlicht am 30.09.2019
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Entscheidungsdatum

30.09.2019

Norm

AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §52
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I405 1311801-2/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, alias XXXX alias XXXX alias XXXX, geb. XXXX, StA. Nigeria, vertreten durch Mag. Egon Stöger, RA in 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, vom XXXX, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.08.2019 zu Recht erkannt:

A) I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen

Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 eine "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

II. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in Folge auch BF) stellte erstmals am 18.04.2006 einen Asylantrag, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX, Zl. XXXX, negativ entschieden wurde.

2. Die gegen den negativen Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX erhobene Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom XXXX, Zl. XXXX, abgewiesen. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom XXXX, Zl. XXXX, wurde der hiergegen erhobenen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, stattgegeben.

3. Letztendlich wurde die Behandlung der Beschwerde gegen den negativen Bescheid des Unabhängigen Bundesasylamtes vom XXXX mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom XXXX, Zl. XXXX abgelehnt.

4. Der BF stellte am 09.06.2015 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK.

5. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid vom XXXX, Zl. XXXX, wies die belangte Behörde diesen Antrag des BF vom 09.06.2015 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK ab und erließ gem. § 10 Abs 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs 3 FPG 2005 (Spruchpunkt I.). Weiters wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Nigeria gem. § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt II.) und wurde die Frist für die freiwillige Ausreise gem. § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt III.). Zudem wurde gegen den BF gem. § 53 Abs 1 iVm Abs 2 FPG ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.).

6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene vollumfängliche Beschwerde vom 16.06.2016 (bei der belangten Behörde eingelangt am selben Tag) wegen wesentlichen Verfahrensmängeln und Rechtswidrigkeit des Inhaltes der angefochtenen Entscheidung.

7. Mit Schriftsatz vom 20.06.2016, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 24.06.2016, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

8. Am 22.08.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht (in Folge auch BVwG) eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF als Partei einvernommen wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der volljährige BF ist ledig, hat keine Kinder, ist Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er gehört der Volksgruppe der Edo an. Seine Identität steht nicht fest.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig bzw. -willig.

Der BF reiste illegal mit gültigem Reisedokument aus Nigeria nach Österreich. Er hält sich seit (mindestens) 18.04.2006 in Österreich auf.

Der BF hat in Nigeria noch seine Mutter, mit der er auch Kontakt pflegt. In Österreich hat der BF eine Lebensgefährtin, mit welcher er allerdings nicht im gemeinsamen Haushalt lebt. Ihre Beziehung gestaltet sich so, dass der BF und seine Freundin sich regelmäßig und in häufigen Abständen gegenseitig besuchen und auch beieinander nächtigen, jedoch haben sie keine gemeinsame Wohnung.

Der BF besuchte in Nigeria die Schule. Er bestritt seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten. Aufgrund seiner Arbeitserfahrung in Nigeria hat er eine Chance auch hinkünftig am nigerianischen Arbeitsmarkt unterzukommen.

Der BF ist in Österreich vorbestraft. Er wurde insgesamt viermal rechtskräftig verurteilt. Zuletzt wurde er mit Urteil des BG XXXX, XXXX, vom XXXX, rechtskräftig mit 28.03.2014, wegen § 231 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je EUR 4,00 (insgesamt somit EUR 480,00), im Nichteinbringungsfall zu 60 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt. Trotz seiner mehrfachen Verurteilungen geht jedoch vom BF keine Gefahr mehr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus. Beim BF konnte ein positiver Gesinnungswandel attestiert werden.

Er ist seit dem Jahr 2011 als Zeitungsverkäufer tätig, dies auf selbständiger Basis, wodurch er wöchentlich zwischen EUR 100,00 und EUR 200,00 ins Verdienen bringt; er bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF hat seit 24.03.2015 durchgehend einen aufrecht gemeldeten Wohnsitz.

Der BF weist in Österreich folgende maßgebliche Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf:

Aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes in Österreich hat der BF einen beachtlichen Freundeskreis aufgebaut; in seiner Freizeit unternimmt er viel mit seinen Freunden und seiner Lebensgefährtin. Er ist auch Mitglied im Verein "XXXX", wo er als DJ und Schlagzeugspieler tätig ist. Der BF hat die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 mit "sehr gut" bestanden und hat er auch die Sprachkurse A2 1 Deutsch Grundstufe sowie A1 3 Deutsch Grundstufe besucht. Hinzu kommt, dass der BF von zwei Firmen eine Einstellungszusage bekommen hat, dies jeweils unter der aufschiebenden Bedingung der Erteilung eines Aufenthaltstitels.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz, sowie durch die Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 22.08.2019.

2.2. Zur Person des BF:

Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Herkunft, seiner Glaubens- und Volkszugehörigkeit sowie seiner Staatsangehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des BF vor der belangten Behörde und vor dem erkennenden Gericht (Protokoll vom 21.04.2006 und vom 22.08.2019). Die belangte Behörde hat diese Feststellungen korrekt und nachvollziehbar gewürdigt. Aus dem Beschwerdevorbringen sind keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des BF aufgekommen.

Die Feststellung bezüglich der Arbeitsfähigkeit bzw. Arbeitswilligkeit konnte aufgrund des Umstandes, dass der BF seit dem Jahr 2011 in Österreich als Zeitungsverkäufer tätig ist und der dementsprechenden Bestätigung der Tiroler Straßenzeitung "20er" vom 20.08.2019 getroffen werden.

Da der BF den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen konnte, steht seine Identität nicht zweifelsfrei fest.

Die Feststellung über die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF ergibt sich aus einer Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich vom 20.09.2019.

Die Feststellungen zu seinem gegenwärtigen Wohnsitz und seinem Bezug der Grundversorgung ergeben sich aus dem dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden, am 20.09.2019 abgefragten Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem.

Die Feststellungen im Zusammenhang mit seinen Integrationsbemühungen ergeben sich aus den diesbezüglich vorgelegten und im Akt einliegenden Unterlagen, nämlich den zahlreichen Unterstützungsschreiben von Bekannten und Freunden des BF, den glaubhaften Aussagen des BF, dass er Mitglied des Vereins "XXXX" ist; dem ÖSD-Zertifikat vom 26.09.2012 über die bestandene Sprachprüfung auf Niveau A2; den Bestätigungen des BFI vom 30.10.2014 und 29.01.2015 über die weiteren besuchten Sprachkurse des BF sowie den Bestätigungen von XXXX vom 22.08.2019 und von XXXX vom 27.03.2019 über die möglichen Einstellungszusagen.

Dass der BF in Österreich eine Lebensgefährtin hat, ergibt sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 22.08.2019.

2.4. Zum Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Nigeria samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen. Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie bspw. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der BF trat diesen Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsland nicht substantiiert entgegen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgebung der Beschwerde

3.1. Zur Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

3.1.1. Rechtslage

§ 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) lautet:

"§ 52 (1) ...

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,

2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

...

(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

..."

Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,

3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.

§ 55 AsylG 2005 lautet:

" (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen. "

§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:

"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre. "

Im Hinblick auf § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG (früher: § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 38/2011) ist festzuhalten, dass bei jeder Rückkehrentscheidung auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Asylwerbers nach Art. 8 Abs. 1 EMRK Bedacht zu nehmen ist, wobei in diesem Zusammenhang Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs erfordert und somit eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen verlangt (vgl. VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundene Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (vgl. EGMR Kroon sowie VfGH vom 28.06.2003, G 78/00). Der Begriff des Familienlebens ist nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (vgl. EGMR Marckx, EGMR vom 23.04.1997, X u.a.).

Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EuGRZ 2006, 554, Sisojeva ua. gegen Lettland). Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessensabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt.

Bei dieser Interessensabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007 sowie VwGH vom 03.04.2009, Zl. 2008/22/0592; vom 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216; vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479 und vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423).

3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen sowie der in § 9 Abs. 2 BFA-VG normierten Integrationstatbestände, die bei der Beurteilung eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, ist im gegenständlichen Fall der Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF nicht durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen gerechtfertigt. Dies aus folgenden Gründen:

Wie sich aus den bisherigen widerspruchsfreien Angaben des BF vor dem erkennenden Gericht ergibt, führt der BF seit dem Jahr 2016 eine Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsangehörigen. Er ist seit dem Jahr 2011 als Zeitungsverkäufer selbständig tätig und finanziert daraus seinen Lebensunterhalt. Wie oben festgestellt, verfügt der BF über einen beachtlichen Freundeskreis, ist in einem Verein aktiv tätig und hat auch eine Deutschsprachprüfung absolviert und mehrere Sprachkurse besucht. Eine Rückkehrentscheidung würde daher unbestritten in das gemäß Art. 8 EMRK geschützte Recht auf das Privat- und Familienleben des BF eingreifen.

Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes im vorliegenden Fall die familiären Interessen des BF angesichts der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Eine Rückkehrentscheidung gegen den BF würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.

Die erkennende Richterin verkennt auch unter keinen Umständen die strafrechtlichen Verurteilungen des BF. In diesem Zusammenhang ist auszuführen, dass seine Straffälligkeit jedenfalls öffentliche Interessen berührt und diese keinesfalls zu verharmlosen sind. Jedoch ist auszuführen, dass die letzte Verurteilung des BF im Jahr 2014 und somit fünfeinhalb Jahre zurückliegt. Der BF hat sich seither wohlverhalten, für seinen Lebensunterhalt selbst gesorgt und zahlreiche Integrationsbemühungen unternommen. Er ist in Österreich mittlerweile über das durchschnittliche Maß hinaus integriert und zeigt große Bemühungen auf, sein Leben hier wohlverhalten und den österreichischen Regeln und Gesetzen entsprechend zu gestalten, was ihm seit dem Jahr 2014 auch nachweislich gelungen ist.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände dieses Beschwerdefalles zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den BF unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen den BF auf Dauer unzulässig ist.

Da die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs 1 AsylG im Fall des BF gegeben sind, war der Beschwerde stattzugeben und dem BF eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen.

4. Zur Aufhebung der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides:

Da dem BF gem. § 55 Abs 1 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen war, waren in Erledigung der Beschwerde die Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus, Aufenthaltstitel, befristete
Aufenthaltsberechtigung, ersatzlose Teilbehebung, Integration,
Interessenabwägung, Kassation, mündliche Verhandlung, öffentliche
Interessen, Privat- und Familienleben, private Interessen,
Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig, Spruchpunktbehebung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:I405.1311801.2.00

Zuletzt aktualisiert am

22.05.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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