Entscheidungsdatum
27.11.2019Norm
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1Spruch
I405 1410722-2/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Nigeria, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.08.2019 zu Recht erkannt:
A) I. Dem Antrag auf Mängelheilung wird gemäß § 4 Abs. 1 Z. 2
AsylG-Durchführungsverordnung 2005 stattgegeben.
II. Der Beschwerde wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird gemäß § 55 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Nach seinem Aufgriff durch österreichische Sicherheitsbeamte am 07.03.2009 wurde der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) wegen des Verdachts des unrechtmäßigen Aufenthalts festgenommen und über ihn mit Bescheid vom selben Tag die Schubhaft verhängt. Mit Bescheid vom 10.03.2009 wurde der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.
2. Der BF stellte am 16.04.2009 aus dem Stande der Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher am 03.03.2010 rechtskräftig negativ entschieden wurde; auch die gegen den BF erlassene Ausweisung wurde rechtskräftig, doch kam der BF dieser nicht nach.
3. Am 23.10.2015 stellte der BF gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gem. § 55 AsylG 2005.
4. Mit angefochtenem Bescheid vom 25.02.2016, Zl. XXXX, wies die belangte Behörde den Antrag des BF vom 23.10.2015 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK ab und erteilte ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG (Spruchpunkt I., erster Teil). Zugleich wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I., zweiter Teil) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt II.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.). Ferner wurde der Antrag des BF auf Heilung vom 17.12.2015 gem. § 4 Abs 1 Ziffer 2 und 3 iVm Abs 2 Asyl-DV abgewiesen.
5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht durch seinen Rechtsvertreter erhobene Beschwerde des BF vom 12.03.2016.
6. Mit Schriftsatz vom 15.03.2016, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 17.03.2016, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
7. Am 21.08.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in welcher der BF im Beisein eines Dolmetschers als Partei sowie die Zeugin XXXX und der Zeuge XXXX einvernommen wurden. Der Rechtsvertreter des BF und der Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Seine Identität steht nicht fest.
Der BF reiste illegal aus Nigeria nach Österreich und hält er sich seit (mindestens) 16.04.2009 im Bundesgebiet auf.
Der BF hat keine Verwandten in Österreich. Er hat allerdings zum Entscheidungszeitpunkt seit zwei Jahren eine Lebensgefährtin, wobei er mit ihr nicht im gemeinsamen Haushalt lebt. Darüber hinaus verfügt der BF in Österreich über einen großen Bekannten- und Freundeskreis und waren diese Bekannten und Freunde auch bereit, Empfehlungsschreiben für den BF abzugeben.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig sowie arbeitswillig. Er verkauft in Österreich seit dem Jahr 2011 eine Straßenzeitung, wodurch er seinen Lebensunterhalt ohne staatliche Hilfe finanzieren kann, weshalb er keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezieht. Unter der Bedingung einer positiven Asylentscheidung kann der BF für 30 Stunden pro Woche in einem Reitstall arbeiten, wodurch er ca. EUR 900,00 ins Verdienen bringen würde.
Der BF hat die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 abgelegt. Er ist auch ehrenamtlich im Augustin Verein Sand & Zeit tätig und Kirchenmitglied.
Der BF ist in Österreich nicht vorbestraft.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" zu Nigeria; weiters durch Befragung des BF und durch Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 21.08.2019.
2.2. Zur Person des BF:
Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seiner Arbeitsfähigkeit, seiner Herkunft, seiner Glaubenszugehörigkeit sowie seiner Staatsangehörigkeit und Gesundheit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des BF vor dem Bundesverwaltungsgericht (Protokoll vom 21.08.2019).
Die Feststellung zur Integration des BF beruht auf den vorgelegten Unterlagen: So konnte aufgrund des Empfehlungsschreibens der Straßenzeitung Augustin festgestellt werden, dass der BF durch den Zeitungsverkauf ein Einkommen zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes erzielt und er auch ehrenamtlich tätig ist. Aus einer Anstellungszusage vom 12.08.2019 geht die Möglichkeit einer Jobzusage unter der Bedingung einer Arbeitserlaubnis des BF hervor. Dass der BF Kirchenmitglied ist und einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat, geht aus der Mitgliedschaftsbestätigung vom 02.08.2019 und einem Konvolut aus Unterstützungsschreiben sowie aus den übereinstimmenden Aussagen der beiden Zeugen vor dem BVwG am 21.08.2019 hervor.
Dass der BF die Sprachprüfung auf Niveau A2 bestanden hat, wird durch das ÖSD-Zertifikat vom 03.11.2015 belegt.
Da der BF den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen konnte, steht seine Identität nicht zweifelsfrei fest.
Die Feststellung über die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich vom 11.11.2019.
Die Feststellung, dass er keine Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ergibt sich aus dem ebenfalls am 11.11.2019 abgefragten Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
3.1.1. Zur Rechtslage:
§ 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) lautet:
"§ 52 (1) ...
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
...
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
..."
Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.
§ 55 AsylG 2005 lautet:
" (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen. "
§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:
"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre. "
Im Hinblick auf § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG (früher: § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 38/2011) ist festzuhalten, dass bei jeder Rückkehrentscheidung auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Asylwerbers nach Art. 8 Abs. 1 EMRK Bedacht zu nehmen ist, wobei in diesem Zusammenhang Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs erfordert und somit eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen verlangt (vgl. VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).
Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundene Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (vgl. EGMR Kroon sowie VfGH vom 28.06.2003, G 78/00). Der Begriff des Familienlebens ist nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (vgl. EGMR Marckx, EGMR vom 23.04.1997, X u.a.).
Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EuGRZ 2006, 554, Sisojeva ua. gegen Lettland). Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessensabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt.
Bei dieser Interessensabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007 sowie VwGH vom 03.04.2009, Zl. 2008/22/0592; vom 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216; vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479 und vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423).
3.1.2. Anwendung auf den Beschwerdefall:
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen sowie der in § 9 Abs. 2 BFA-VG normierten Integrationstatbestände, die bei der Beurteilung eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, ist im gegenständlichen Fall der Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF nicht durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen gerechtfertigt. Dies aus folgenden Gründen:
Wie sich aus den bisherigen Angaben des BF im Verfahren vor dem erkennenden Gericht ergibt, hält sich der BF seit seiner Asylantragstellung im Jahr 2009 durchgehend in Österreich auf und geht er hier auch seit dem Jahr 2011 einer Beschäftigung, nämlich dem Verkauf von Straßenzeitungen, nach; hierdurch finanziert er auch seinen Lebensunterhalt. Außerdem führt er seit zwei Jahren eine Beziehung mit einer ebenfalls in Österreich lebenden Nigerianerin und hat er sich im Laufe seiner Zeit in Österreich einen nicht unbeachtlichen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut und sich in einer Kirchengemeinschaft integriert. Des Weiteren hat er sich auch um seine sprachliche Integration bemüht. So hat er mehrere Sprachkurse besucht und verfügt über ein A2- ÖSD-Zertifikat vom 03.11.2015. Dass er sich im Zeitpunkt des Entstehens seines Privat- und Familienlebens seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, tritt angesichts des dargelegten Ausmaßes des tatsächlichen Bestehens des Privat- und Familienlebens in den Hintergrund. Eine Rückkehrentscheidung würde daher unbestritten in das gemäß Art. 8 EMRK geschützte Recht auf das Familienleben des BF eingreifen.
Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes im vorliegenden Fall die privaten Interessen des BF angesichts der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Eine Rückkehrentscheidung gegen den BF würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände dieses Beschwerdefalles zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den BF unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privatlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen den BF auf Dauer unzulässig ist.
Da die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG im Fall des BF gegeben sind, war der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids stattzugeben und dem BF eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen.
Zur Erteilung eines Aufenthaltstitels sind gemäß § 8 Abs. 1 AsylG-DV ein gültiges Reisedokument, eine Geburtsurkunde und ein Lichtbild vorzulegen. Der BF brachte keinen Reisepass ins Verfahren ein, stellte aber einen Antrag auf Mängelheilung.
Nach § 4 Abs. 1 Z. 2 der AsylG-DV kann die Behörde die Heilung eines Mangels nach § 8 AsylG-DV (unterbliebene Vorlage der dort genannten Urkunden) auf begründeten Antrag zulassen, wenn dies im Sinne des Art 8 EMRK zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens erforderlich ist. Letzteres ist freilich in jenen Konstellationen, in denen wie hier von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG zu erteilen ist, schon voraussetzungsgemäß der Fall. Daraus folgt, dass es unzulässig ist, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegens der hierfür erforderlichen Voraussetzungen wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (vgl. in diesem Zusammenhang zuletzt VwGH, 26.01.2017, Ra 2016/21/0168 sowie 17.11.2016, Ra 2016/21/0314 sowie 14.4.2016, Ra 2016/21/0077).
Das - durch § 8 AsylG-DV 2005 näher konkretisierte - Erfordernis der Klärung der Identität des Fremden wäre gegebenenfalls schon dann als erfüllt anzusehen, wenn (bloß) eine eindeutige "Verfahrensidentität" dergestalt besteht, dass es sich bei jener Person, der der Aufenthaltstitel erteilt bzw. ausgefolgt wird, mit Sicherheit um jene handelt, in Bezug auf die die dauerhafte Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung ausgesprochen wurde. Eine solche Verfahrensidentität liegt gegenständlich jedenfalls vor (VwGH, Erkenntnis vom 15.09.2016, Ra 2016/21/0187-5).
Entsprechend war dem Antrag auf Mängelheilung stattzugeben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
Aufenthaltsberechtigung plus, Aufenthaltstitel, befristeteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:I405.1410722.2.00Zuletzt aktualisiert am
22.05.2020