TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/25 G310 2221489-1

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Veröffentlicht am 25.03.2020
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Entscheidungsdatum

25.03.2020

Norm

B-VG Art. 133 Abs4
FPG §67
FPG §70

Spruch

G310 2221489-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geboren am XXXX, StA. Slowakei, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 04.06.2019, Zl. XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid

ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF), dem am 27.08.2010 eine Anmeldebescheinigung (Familienangehöriger) ausgestellt wurde und der seit 21.09.2009 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet ist, wurde zweimal strafgerichtlich verurteilt. Zuletzt wurde gegen ihn mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX.2017, XXXX, eine für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Wochen verhängt.

Nach niederschriftlichen Einvernahmen des BF, seiner Mutter und seiner Ehefrau wurde der BF mit Schreiben des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 14.03.2019, nachweislich zustellt am 18.04.2019 nochmals davon in Kenntnis gesetzt, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbots beabsichtigt sei und aufgefordert, hierzu Stellung zu nehmen und auch Ausführungen zu seinen persönlichen Verhältnissen zu treffen. Der BF erstattete keine Stellungnahme.

Mit dem oben angeführten Bescheid wurde gegen den BF gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein für die Dauer von acht Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.) und ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat gewährt (Spruchpunkt II.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF begründet. Wegen der überwiegenden öffentlichen Interessen an Ordnung und Sicherheit sei damit kein unverhältnismäßiger Eingriff in sein Privat- und Familienleben verbunden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen, den angefochtenen Bescheid ersatzlos aufzuheben, in eventu die Dauer des Aufenthaltsverbotes zu verkürzen. Hilfsweise wird noch ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt. Zusammengefasst wird begründend vorgebracht, dass im Hinblick auf seine lange Aufenthaltsdauer, der Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der ersten Verurteilung, der Absolvierung einer Psychotherapie sowie eines Anti-Aggressionstraining und der Teilnahme an der Bewährungshilfe der erforderliche Gefährdungsmaßstab nicht erfüllt sei. Auch sei er hier stark verwurzelt. In Österreich leben seine Eltern, seine Geschwister, seine Ehefrau und seine beiden Kinder. Der BF verfüge über einen festen Wohnsitz und sei aufgrund seiner Erwerbstätigkeit selbsterhaltungsfähig. Es liege ein schützenswertes Privat- und Familienleben vor. Aufgrund der nunmehrigen Privatsituation sei nicht davon auszugehen, dass der BF eine gegenwärtige bzw. zukünftige Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle.

Das BFA legte die Beschwerde und die Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, wo sie am 22.07.2019 einlangten.

Feststellungen:

Der BF ist slowakischer Staatsbürger, verheiratet und hat zwei Kinder. Die Eheschließung mit einer österreichischen Staatsbürgerin erfolgte am XXXX.2018. Eine gemeinsame Wohnsitzadresse besteht seit XXXX.07.2017. Die gemeinsamen Kinder wurden 2017 und 2019 geboren. Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er verfügt seit XXXX.09.2009 über eine durchgehende Hauptwohnsitzmeldung in Österreich und wurde ihm am 27.08.2010 eine Anmeldebescheinigung (Familienangehöriger) ausgestellt. Den Kindergarten und die Volksschule besuchte der BF in der Slowakei. In Österreich besuchte der BF zunächst die Hauptschule und danach die polytechnische Schule. Der BF hat keinen Beruf erlernt. Den Hauptschulabschluss hat er nach seiner bedingten Entlassung nachgeholt. Er spricht Slowakisch und Deutsch. In der Slowakei leben sein ca. 75 Jahre alter Großvater und Tanten des BF. Seine Eltern, Geschwister, Großmutter und weitere Tanten leben in Österreich.

Seit XXXX.10.2019 ist der BF bei einer XXXXfirma als Arbeiter beschäftigt. Bereits davor ging er von 18.04.2019 bis 02.10.2019 einer Beschäftigung bei einem XXXX nach. Seine Beschäftigungen in Österreich begann er 2015 nach seiner Entlassung aus der Strafhaft beim seiner damalige Unterkunft, dem XXXX, als Angestellter von 01.09.2015 bis 02.08.2016. Es folgte ein Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Notstandhilfe von 31.08.2016 bis 29.05.2017, gefolgt von einer Beschäftigung als Arbeiter von 01.06.2017 bis 13.11.2017 bei einem Arbeitgeber, bei welchem er nach einem Arbeitslosengeldbezug nochmals von 02.08.2018 bis 25.08.2018 beschäftigt war. Vom 09.10.2018 bis 17.04.2019 bezog er erneut Unterstützung vom Arbeitsmarktservice.

Der BF wurde im Bundesgebiet zweimal strafgerichtlich verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX.2014, XXXX, wurde der damals 15jährige BF wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs. 1 und Abs. 3 zweiter Fall StGB, des Vergehens der Blutschande nach § 211 Abs. 3 StGB und des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 zweiter Fall StGB unter Anwendung von § 28 Abs. 1 StGB und § 5 Z 4 JGG, ausgehend von einem herabgesetzten Strafrahmen von bis zu 7,5 Jahren Freiheitsstrafe, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, wobei der Vollzug eines Teiles der Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Für die Dauer der Probezeit wurde Bewährungshilfe angeordnet und die Weisung erteilt, für die Dauer von zumindest einem Jahr eine geeignete Therapie zu absolvieren sowie eine Betreuung durch die Jugendintensivbetreuung anzunehmen. Bei der Strafbemessung wurden der bisher ordentliche Lebenswandel und das reumütige Geständnis mildernd gewertet; erschwerend hingegen das Zusammentreffen zweier Verbrechen mit einem Vergehen und die doppelte Qualifikation bei § 205 StGB.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt zwischen XXXX.03.2014 und dem XXXX.03.2014 eine wehrlose Person, die zudem wegen einer geistigen Behinderung unfähig ist, die Bedeutung des Vorganges einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, nämlich seine aufgrund ihrer Blindheit, ihrer Taubheit, ihrer eingeschränkten Gehirnfunktion und ihrer eingeschränkten Bewegungs- und Artikulierungsfähigkeit willenlose Schwester, damals 21 Jahre alt, unter Ausnützung dieses Zustandes dadurch missbraucht hat, dass er sie auszog, ihre Beine spreizte, ihre Vagina streichelte und schließlich den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zur Ejakulation an ihr vollzog, wobei die Tat eine Schwangerschaft der missbrauchten Person zur Folge hatte. Des Weiteren hat er am XXXX.08.2014 eine männliche, namentlich im Urteil genannte Person dadurch der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt, dass er sie einer von Amts wegen zu verfolgenden, mit ein Jahr übersteigender Freiheitsstrafe bedrohten Handlung, nämlich des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs. 1 und Abs. 3 zweiter Satz StGB falsch verdächtigte, wobei er wusste, dass diese Verdächtigung falsch ist, indem er gegenüber einem Polizeibeamten sinngemäß äußerte, dass es einmal einen Vorfall mit der Person gegen habe, der ihn nachdenklich gestimmt habe, und zwar sei er einmal zum Duschen im Bad gewesen und bei seiner Rückkehr ins Zimmer habe diese Person seine Weste ausgezogen und die Schwester des BF plötzlich keine Hose mehr angehabt und ihre Windel sei geöffnet gewesen.

Aufgrund einer Empfehlung eines Ärztekuratoriums des AKH XXXX, sowie der Entscheidung der Mutter des BF als damalige Sachwalterin für seine Schwester, wurde am XXXX.08.2014 ein Schwangerschaftsabbruch bei der Schwester des BF eingeleitet.

Während der Zeit seiner Strafhaft bekam er wöchentlich Besuch von seinen Angehörigen.

Mit Beschluss des Landesgerichts XXXX vom XXXX.2015, XXXX, wurde der BF nach Verbüßung von fünf Monaten Strafhaft am XXXX.2015 bedingt entlassen. Der restliche Monat wurde unter Bestimmung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen. Für die Probezeit wurde die Bewährungshilfe angeordnet sowie die Weisung erteilt, die begonnene Psychotherapie und Jugendintensivbetreuung fortzusetzen und dies vierteljährlich ohne Aufforderung dem Gericht nachzuweisen sowie nicht im familiären Umfeld Wohnung zu nehmen.

Der BF kam nach seiner bedingten Entlassung von XXXX.2015 bis XXXX.2016 in XXXX unter. Er hatte danach nur im Jahr 2019 für nicht einmal zwei Monate einen gemeinsamen Wohnsitz mit seinen Eltern, und zwar von 19.03.2019 bis 09.05.2019.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX.2017, XXXX, wurde der BF wegen des Vergehens der versuchten Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1 StGB unter Anwendung von § 5 JGG zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Wochen verurteilt. Das Gericht erteilte die Weisungen, die Jugendintensivbetreuung fortzustehen und sich einem Anti-Aggressionstraining zu unterziehen und darüber bis XXXX.10.2017 dem Gericht Bericht zu erstatten. Mildernd wurde das teilweise Geständnis gewertet. Die Begehung während offener Probezeit und die einschlägigen Vorstrafen wurden als erschwerende Umstände herangezogen.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF Mitte August 2016 in XXXX eine männliche Person durch Versetzen wiederholter Faustschläge in den Kopf- und Nackenbereich vorsätzlich am Körper zu verletzen versucht hat.

2018 hat der BF die Jugendintensivbetreuung abgeschlossen und 2019 die Psychotherapie. Die Bewährungshilfe wurde ebenfalls 2019 aufgehoben.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG. Entscheidungswesentliche Widersprüche bestehen nicht.

Die Feststellungen zur Identität des BF und zu seinen persönlichen Verhältnissen beruhen auf den entsprechenden Angaben in den Einvernahmen. Darüber hinaus liegen sein slowakischer Personalausweis und sein slowakischer Reisepass in Kopie im Akt auf.

Der durchgehende Aufenthalt des BF im Bundesgebiet wird durch die Wohnsitzmeldungen laut dem Zentralen Melderegister (ZMR) belegt. Dem ZMR ist auch zu entnehmen, dass er nach seiner bedingten Entlassung nicht wieder bei seinen Eltern wohnte. Weiters geht auch der gemeinsame Haushalt mit seiner Ehefrau und seinen Kindern sowie deren österreichische Staatsbürgerschaft daraus hervor.

Der Zeitpunkt der Eheschließung ist der in Kopie im Akt aufliegenden Heiratsurkunde zu entnehmen. Auch die Geburtsurkunde des ältesten Kindes liegt in Kopie im Akt auf. Dass der BF mittlerweile zweifacher Vater ist, geht aus den Angaben seiner Ehefrau und des BF vor dem BFA und den Ausführungen in der Beschwerde hervor.

Die Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit und zum Gesundheitszustand des BF beruhen darauf, dass er einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht und keine Hinweise auf erhebliche gesundheitliche Probleme hervorgekommen sind.

Slowakischkenntnisse sind aufgrund der Herkunft des BF plausibel. Deutschkenntnisse können aufgrund des langjährigen Aufenthalts, des Schulbesuchs und der Erwerbstätigkeit im Inland festgestellt werden.

Seine Beschäftigungsverhältnisse im Inland und die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe sind im Versicherungsdatenauszug dokumentiert.

Die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF und die zugrundeliegenden Taten werden anhand der Strafurteile und des Strafregisters festgestellt. Seinen Angaben folgend, konnte der Abschluss der Psychotherapie, der Bewährungshilfe und der Jugendintensivbetreuung festgestellt werden. Dem im Akt aufliegenden Abschlussbericht ist der Schwangerschaftsabbruch zu entnehmen. Es gibt keine Indizien für weitere strafrechtliche Verurteilungen des BF oder andere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Gemäß § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen den BF als EWR-Bürger (§ 2 Abs. 4 Z 8 FPG), der sich schon mehr als zehn Jahre lang kontinuierlich in Österreich aufhält, zulässig, wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.

Der Vollzug des sechsmonatigen unbedingten Strafteils lässt die hier geknüpften Integrationsbande nicht abreißen, sodass der durchgehende Aufenthalt dadurch nicht unterbrochen wird (vgl. EuGH 17.04.2018, C-316/16, C-424/16).

Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (siehe zuletzt etwa VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0091).

Mit der Bestimmung des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG soll Art 28 Abs. 3 lit. a der Unionsbürger-Richtlinie (§ 2 Abs. 4 Z 18 FPG) umgesetzt werden. Demnach darf gegen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat hatten, eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden. Nach dem Erwägungsgrund 24 dieser Richtlinie sollte gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben, nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit eine Ausweisung verfügt werden. Der EuGH hat bereits judiziert, dass hierauf gestützte Maßnahmen auf "außergewöhnliche Umstände" begrenzt sein sollen; es ist vorausgesetzt, dass die vom Betroffenen ausgehende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit einen "besonders hohen Schweregrad" aufweist, was etwa bei bandenmäßigem Handeln mit Betäubungsmitteln der Fall sein kann (vgl. EuGH 23.11.2010, C-145/09; EuGH 22.5.2012, C-348/09, wo überdies darauf hingewiesen wurde, dass es "besonders schwerwiegende(r) Merkmale" bedarf.)

Es ist dem BFA zwar dahin zuzustimmen, dass das Fehlverhalten des BF im Jahr 2014 und die erneute Straffälligkeit trotz einer teilbedingten Freiheitsstrafe und während offener Probezeit, eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Der qualifizierte Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG ("nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich") ist jedoch trotz der Schwere der Straftat - auch bei Bedachtnahme auf den besonders hohen sozialen Störwert von Sexualstraftaten - nicht erfüllt.

Obwohl der BF wegen sexuellen Missbrauchs seiner Schwester verurteilt wurde, weist die von ihm begangene Tat - insbesondere unter Berücksichtigung, dass im Strafverfahren mit einer teilbedingten Freiheitsstrafe das Auslangen gefunden wurde - nicht eine solche Schwere auf, dass der anzuwendende Gefährdungsmaßstab erfüllt ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Tat bereits im Jahr 2014 erfolgte, der BF bedingt entlassen werden konnte und den Weisungen des Gerichts nachkam. Auch unter Einbeziehung der darauffolgenden Verurteilung wegen versuchter Körperverletzung im Jahr 2017 wird nicht der in § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG festgelegten Schweregrad erreicht. Trotz aller Aspekte kann noch nicht von "außergewöhnlichen Umständen" mit "besonders hohem Schweregrad" bzw. von "besonders schwerwiegenden Merkmalen" der von ihm begangenen Straftaten gesprochen werden (vgl. VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0248).

Auch wenn die Begehung von Straftaten, den Schluss auf eine gegenüber rechtlich geschützten Werten ablehnende oder gleichgültige Einstellung des Täters zulässt, darf nicht übersehen werden, dass sich der BF seit seiner letzten Verurteilung strafrechtlich unauffällig in Österreich aufhält, eine Familie gegründet und es geschafft hat, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Daher ist davon auszugehen, dass der strafgerichtliche Schuldspruch ausgereicht hat, um eine hinreichend deutliche Abkehr von dem in der Vergangenheit gezeigten Verhalten erkennen zu können.

Überdies ist gemäß § 9 BFA-VG angesichts des jahrelangen Inlandsaufenthalts des BF und seiner Beziehung zu seinen Eltern, Schwestern, seiner Ehefrau und zu seinen 2017 und 2019 geborenen Kindern (die aufgrund des Alters der Kinder nicht durch moderne Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden kann, vgl. VwGH 17.04.2013, 2013/22/0088) von einem unverhältnismäßigen Eingriff in sein Privat- und Familienleben iSd Art 8 EMRK durch das Aufenthaltsverbot auszugehen.

Da die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen den BF somit derzeit nicht vorliegen, ist der angefochtene Bescheid in Stattgebung der Beschwerde aufzuheben. Dies bedingt auch die Gegenstandslosigkeit des dem BF gewährten Durchsetzungsaufschubs.

Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:

Da bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist, kann eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Die bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel (VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0033). Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose (VwGH 11.05.2017, Ra 2016/21/0022; 20.10.2016, Ra 2016/21/0284). Die Revision war nicht zuzulassen, weil sich das BVwG dabei an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs. 4 B-VG zu lösen war.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Voraussetzungen, Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G310.2221489.1.00

Zuletzt aktualisiert am

22.05.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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