Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S***** O*****, vertreten durch Dr. Ägidius Horvatits Rechtsanwalts GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei ÖBB-Personenverkehr AG, Am Hauptbahnhof 2, Wien 10, vertreten durch die Finanzprokuratur, sowie die Nebenintervenienten auf Seiten der beklagten Partei 1. ÖBB-Infrastruktur AG, Praterstern 3, Wien 2, vertreten durch Vavrovsky Heine Marth Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, 2. Stadtgemeinde S*****, vertreten durch Zumtobel Kronberger Rechtsanwälte OG in Salzburg, und 3. E*****, vertreten durch Dr. Karlheinz De Cillia und Mag. Michael Kalmann, Rechtsanwälte in Klagenfurt, wegen 10.000 EUR sA und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 21. März 2019, GZ 22 R 386/18w-39, womit das Urteil des Bezirksgerichts Salzburg vom 28. September 2018, GZ 12 C 686/17h-27, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 717,15 EUR, sowie der Zweitnebenintervenientin die mit 860,58 EUR (darin enthalten 143,43 EUR USt) bestimmten Kosten der jeweiligen Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen. Die Drittnebenintervenientin hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Text
Begründung:
Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).
Der Kläger kam am 18. 1. 2017 auf einer schnee- und eisbedeckten Treppe, über die er eine Bahnhaltestelle erreichen wollte, zu Sturz und zog sich einen offenen Bruch des linken Oberarms zu. Er war im Besitz einer gültigen Monatskarte für die Bahnfahrt auf jener Strecke, zu der die Haltestelle gehört.
Der Kläger macht, gestützt auf den Beförderungsvertrag, Schmerzengeldansprüche geltend und begehrt die Haftung der Beklagten für zukünftige Schäden.
Die Beklagte bestritt ihre Passivlegitimation sowie jegliches von ihr zu vertretendes Fehlverhalten.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren teilweise statt, das Berufungsgericht wies es zur Gänze ab. Es ließ die ordentliche Revision im Wesentlichen zur Frage zu, „über welche konkrete räumliche Nähe im Umkreis einer Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels sich eine (vor)vertragliche Haftung eines Verkehrsunternehmens“ erstrecke.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision nicht zulässig. Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:
1. Die in erster Instanz obsiegende Partei ist gehalten, primäre Verfahrensmängel und ihr nachteilige Feststellungen in der Berufungsbeantwortung zu rügen, sofern sich der Berufungswerber – wie im vorliegenden Fall – ausdrücklich auf Feststellungen des Erstgerichtes bezieht (2 Ob 286/05f; RS0119339 [T1]). Dies hat der Kläger unterlassen. Die geltend gemacht Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt daher nicht vor. Auf die erstmals mit der Revision vorgelegten Lichtbilder ist wegen des Neuerungsverbots (§ 504 Abs 2 ZPO) nicht einzugehen.
2. Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält sich im Rahmen der Rechtsprechung:
2.1 Beim Abschluss eines Beförderungsvertrags (bei Fahrausweisen im Vorverkauf mit deren Erwerb; vgl 2 Ob 206/11z) richten sich die Verkehrssicherungspflichten des Betreibers des Verkehrsmittels in erster Linie nach Vertragsrecht (4 Ob 121/18z). Sie bestehen unabhängig davon, ob die in Frage stehende Fläche im Eigentum des Beförderungsunternehmens steht oder dieser Halter iSd § 1319a ABGB ist (2 Ob 139/08t; 4 Ob 121/18z) und treten nicht anstelle, sondern neben die Verpflichtung des Anliegers (RS0023578). Ob daher auch andere Personen eine Verpflichtung zur Räumung oder Instandhaltung der Unfallstelle trifft, ist nicht von Belang (2 Ob 139/08t; 4 Ob 121/18z). Der Verkehrssicherungspflichtige wird auch nicht dadurch von seiner Pflicht befreit, dass ein anderer die Gefahr verursacht (RS0023578). Auch dass das Bundesbahngesetz und die in diesem Gesetz angeführten Aufgabenbereiche der neuen Bahngesellschaften nichts an den vertraglichen Verkehrssicherungspflichten des mit der Personenbeförderung beschäftigten Betreibers einer Eisenbahn ändert, hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 2 Ob 139/08t bereits klargestellt.
2.2 Für das Beförderungsunternehmen besteht somit jedenfalls die vertragliche Nebenpflicht, die Sicherheit der Fahrgäste und ihre körperliche Unversehrtheit zu wahren (RS0023575; RS0021735; 8 Ob 84/12d; 4 Ob 121/18z). Diese Schutz- und Sorgfaltspflichten beziehen sich auch darauf, Zugänge oder Abgänge zu bzw von den Verkehrsmitteln in einem Zustand zu erhalten, der die gefahrlose Benützung durch die Fahrgäste erlaubt (RS0021735 [T34]; 2 Ob 35/97d; 4 Ob 121/18z). Dazu zählt die Aufgabe, bei Auftreten von Glatteis entsprechende Maßnahmen zur Beseitigung der daraus für die Fahrgäste erwachsenden Gefahren zu treffen und vor allem für die Säuberung von Eis und Schnee zu sorgen (RS0023578; 2 Ob 139/08t).
2.3 Nach ständiger Judikatur gilt dies nicht nur für den Bereich von Haltestellen oder Bahnsteigen, sondern für die gesamten den Fahrgästen zur Verfügung gestellten Anlagen und Flächen, die von diesen bestimmungsgemäß benützt werden und die funktionell zum Bahnhofsbereich gehören (RS0023578 [T3, T10]; 2 Ob 35/97d; vgl 5 Ob 145/07w zu Eisengittern, die im Ausgangsbereich einer U-Bahn zwangsläufig überschritten werden müssen). Die Verkehrssicherungspflichten des Beförderungsunternehmens beschränken sich nicht auf den Zugangsbereich des Bahnsteigs oder den unmittelbaren Eingangsbereich des Bahnhofs, sondern können zB auch den Zugangsweg zum Bahnhofsparkplatz betreffen (4 Ob 121/18z).
2.4 Die ständige Rechtsprechung macht demnach die räumliche Ausdehnung der Verkehrssicherungspflichten davon abhängig, ob die betreffende Fläche funktionell noch zum Bahnhofsbereich gehört. Dies ist jedoch keiner allgemeinen Aussage zugänglich, sondern regelmäßig eine Frage des Einzelfalls. Das Berufungsgericht hat den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten, wenn es die Verkehrssicherungspflicht der Beklagten mit der Begründung verneinte, dass die Treppe zunächst nur zu einer nicht zum Bahnhofsgelände gehörenden öffentlichen Verkehrsfläche führt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte und die Zweitnebenintervenientin in ihren Revisionsbeantwortungen auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen haben, dienten ihre Schriftsätze zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung. Dagegen hat die Drittnebenintervenientin auf die Unzulässigkeit nicht hingewiesen, sodass ihr kein Kostenersatz gebührt.
Textnummer
E128130European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00108.19Z.0227.000Im RIS seit
20.05.2020Zuletzt aktualisiert am
24.06.2021