TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/31 W258 1426115-2

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Veröffentlicht am 31.07.2019
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Entscheidungsdatum

31.07.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §29 Abs5
VwGVG §31 Abs1

Spruch

W258 1426115-2/15E

Gekürzte Ausfertigung des am 19.06.2019 mündlich verkündeten Beschlusses und Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch Dr. Mario ZÜGER, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Seilergasse 16, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl XXXX in einer asylrechtlichen Angelegenheit nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.06.2019

A) den Beschluss gefasst:

Das Verfahren wird hinsichtlich der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. eingestellt.

B) zu Recht erkannt:

Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid abgeändert, dass es in seinen Spruchpunkten III. und IV. zu lauten hat:

III. Es wird gemäß § 9 Abs 3 iVm Abs 1 BFA-VG festgestellt, dass eine Rückkehr auf Dauer unzulässig ist.

IV. XXXX , geb XXXX , wird gem § 55 Abs 1 AsylG der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" bis zum 19.06.2020 erteilt.

C) Die Revision ist gem Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (in Folge kurz "BF") stellte am XXXX .2012 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag und in seiner Befragung durch die belangte Behörde am XXXX gab er im Wesentlichen an, er sei Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz: "Afghanistan"), gehöre der Volksgruppe der Paschtunen und dem Glaubensbekenntnis des Islam an. Aus Afghanistan sei er geflohen, weil sein älterer Bruder wollte, dass er sich in die Dienste der Taliban stelle.

Mit Bescheid vom XXXX wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen und der BF aus dem Österreichischem Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III.). Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit - dem unbekämpft gebliebenen - hg Beschluss, GZ W182 1426115-1/6E, vom XXXX stattgegeben, der bekämpfte Bescheid wegen fehlenden Länderfeststellungen, mangelhafter Beweiswürdigung und einem unvollständigen Ermittlungsverfahren behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an die belangte Behörde zurückverwiesen.

Im zweiten Rechtsgang legte der BF diverse Urkunden zum Nachweis seiner Integration in Österreich vor und wurde von der belangten Behörde am 29.11.2016 und am 10.03.2017 neuerlich befragt. Mit Bescheid vom XXXX wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) neuerlich ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

Gegen diesen Bescheid wendet sich die gegenständliche Beschwerde des BF vom 21.04.2017 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, Verfahrensmängeln und mangelhafter Beweiswürdigung, in der der BF beantragte, ihm den Status eines Asylberechtigten, in eventu eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, in eventu eine Rückkehr auf Dauer unzulässig zu erklären und ihm einen Aufenthaltstitel nach § 55 Asylgesetz 2005 zu erteilen sowie in eventu den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und die Angelegenheit zur Durchführung eines erneuten Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheids an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren legte der BF weitere Urkunden zum Nachweis seiner Integration in Österreich vor.

In der mündlichen Verhandlung vom 19.06.2019 zog der BF seine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. zurück, wurde der BF zu seinem Privat- und Familienleben ergänzend befragt, das Beschwerdeverfahren gegen die Spruchpunkte I. und II. mit mündlich verkündetem Beschluss eingestellt, mit mündlich verkündetem Erkenntnis ausgesprochen, dass eine Rückkehr des BF auf Dauer unzulässig sei und ihm ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" bis zum 19.06.2020 erteilt.

Mit Schriftsatz vom 09.07.2019 stellte die belangte Behörde einen Antrag auf Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

Beweise wurden aufgenommen durch Einvernahme des BF als Partei, Einsicht in den Akt des Verwaltungsverfahrens (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:

* ÖSD Zertifikat Deutsch B1 vom 21.12.2017;

* Bestätigung der Caritas Flüchtlingshilfe XXXX vom 11.07.2017 über die Tätigkeit des BF als Dolmetscher Dari/Paschtu auf Renumerationsbasis;

* Empfehlungsschreiben von Herrn XXXX vom 28.07.2018, Herrn XXXX vom 31.07.2018, Herrn XXXX vom 01.08.2018 und Herrn XXXX , undatiert;

* Anmeldebescheinigung von Frau XXXX , geb. 01.06.1993;

* Teilnahmebestätigung an einem Erste Hilfe Führerscheinkurs vom 16.04.2019;

* Teilnahmebestätigung über einen Werte- und Orientierungskurs vom 26.04.2019;

* Bestätigung über die Vormerkung für ein Arbeitsverhältnis von XXXX samt Beschäftigungszusage für den Fall der Erteilung einer Arbeitsberechtigung vom 07.06.2019;

* Undatiertes Bestätigungs-/ Empfehlungsschreiben von XXXX , eine Mitarbeiterin von XXXX ;

* Personalbewerbungsbogen bei XXXX ;

* Bestätigung über die Teilnahme an einem Bewerbungsgespräch bei XXXX und XXXX ;

* Personalfragebogen der Firma XXXX ;

* Bewerbungsbogen des BF bei XXXX ;

* Lohn und Gehaltsabrechnung bzw Verdienstnachweis der PH-Gastro GmbH für Juli und September 2014;

* mit der Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung aufschiebend bedingter Dienstvertrag des Hotels "Das Grafengut" über 40 Stunden als Hilfskoch für EUR 1.700,00 brutto;

* mit der Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung aufschiebend bedingter Dienstvertrag der Pizzeria la Ruccola über 40 Stunden als Küchengehilfe für EUR 1.500,00 brutto vom 12.06.2019;

* Strafregisterauszug des BF.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Der folgende Sachverhalt steht fest:

1.1. Zum bisherigen Verfahren:

Der BF ist unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet Österreichs eingereist, wo er am XXXX .2012 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Mit Bescheid vom XXXX wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) neuerlich ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

In der mündlichen Verhandlung vom 19.06.2019 zog der anwaltlich vertretene BF seine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. zurück. Das Bundesverwaltungsgericht hatte zum Zeitpunkt der Zurückziehung über die Beschwerde des BF nicht entschieden.

1.2. Zur individuellen Situation der BF:

1.2.1. Allgemeines:

Der volljährige BF ist afghanischer Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Paschtunen an, ist sunnitischer Moslem und seine Muttersprache ist Paschtu.

Der BF wurde am XXXX in Afghanistan, in der Provinz Nangarhar, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und hat dort bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan Anfang 2012 gelebt.

Die Eltern des BF sind bereits verstorben. In Afghanistan leben von seiner engeren Familie noch zwei seiner Brüder; zu seinem jüngeren Bruder hat er etwa zwei Mal im Jahr telefonischen Kontakt. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise lebten noch mehrere seiner Onkel und Tanten in Afghanistan, zu denen er aber seither keinerlei Kontakt hatte. Der BF ist ledig, hat keine Kinder und wurde in seiner Abwesenheit mit einer ihm unbekannten Frau verlobt; die Verlobung ist für den BF bedeutungslos (BFA-Einvernahmeprotokoll vom 29.11.2016, S 11).

1.2.2. Zur Integration des BF in Österreich:

Der BF unterhält soziale Beziehungen mit mehreren Freunden, wie XXXX , XXXX ., XXXX , XXXX und XXXX , sowie seinen besten Freund XXXX , die er aus dem Fitnesscenter kennt, mit denen er gemeinsam trainiert, am Abend in diverse Lokale, wie Bars, Cafes oder Shisha-Bars, fortgeht und am Wochenende Fußball spielt.

Er hatte weiters eine Freundin namens XXXX mit der er in Geschlechtsgemeinschaft gelebt hat. Sie haben aber weder zusammengewohnt, noch ihr Leben gemeinsam finanziert. Seit drei bis vier Monaten hat er eine neue Freundin namens XXXX , die er am Wochenende trifft und mit der er in Geschlechtsgemeinschaft lebt. Sie wohnen weder zusammen, noch finanzieren sie ihr Leben gemeinsam.

Der BF besucht einmal wöchentlich ein Sprachcafe, in dem er verschiedene Leute aus verschiedenen Ländern kennenlernt und trifft. Er hat einen Werte- und Orientierungskurs sowie einen Erste-Hilfe-(Führerschein)Kurs absolviert.

Er unterstützt die lokalen Gemeindemitglieder bei diversen Tätigkeiten wie Entrümpelungen und schneidet - da er Friseur ist - seinen Freunden unentgeltlich die Haare.

Er ist seit vier bis fünf Jahren etwa ein bis zweimal pro Monat für die Caritas und Rechtsberater gegen Renumeration als Dolmetscher für die Sprachen Paschtu und Dari tätig.

Der BF hat sich mehrfach um Arbeit, so bei diversen Gastronomiebetrieben, bemüht; scheiterte doch mangels einer Beschäftigungsbewilligung. Dennoch hat er vier Monate legal und entgeltlich, teils in der Gastronomie, teils als Zeitungskolporteur, gearbeitet. Der BF hat - jeweils unter der Voraussetzung einer Arbeitserlaubnis - am 07.06.2019 eine Beschäftigungszusage von XXXX bekommen und einen Dienstvertrag des Hotels "Das Grafengut" über 40 Stunden als Hilfskoch für EUR 1.700,00 brutto und am 12.06.2019 einen Dienstvertrag der Pizzeria la Ruccola über 40 Stunden als Küchengehilfe für EUR 1.500,00 brutto abgeschlossen. Der BD lebt derzeit von der Grundversorgung.

Der BF hat die OSD-Sprachprüfung Deutsch Niveau A2 am 09.04.2016 und die OSD-Sprachprüfung Deutsch Niveau B1 am 21.12.2017 erfolgreich absolviert und spricht alltagstaugliches Deutsch, wobei sein Verständnis deutlich über dem Sprachniveau B1 liegt.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2. Die Feststellungen ergeben sich aus der folgenden Beweiswürdigung:

Die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Verwaltungsakt, den vorgelegten Urkunden und der damit im Wesentlichen übereinstimmenden schlüssigen und glaubhaften Aussagen des BF in der Beschwerdeverhandlung vom 19.06.2019. Die Feststellungen der strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF stützen sich auf seinem Strafregisterauszug. Die Feststellung zum Sprachniveau ergibt sich aus dem vorgelegten Sprachzertifikat und aus der Beschwerdeverhandlung vom 19.06.2019, der der BF ohne Zuhilfenahme eines Dolmetschers trotzt teils komplexer Fragestellungen ohne Schwierigkeiten folgen konnte.

3. Rechtlich folgt daraus:

3.1. Zu A), Einstellung des Verfahrens hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II.:

Gemäß § 13 Abs 7 AVG, der gemäß § 17 VwGVG auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anzuwenden ist, können Anbringen in jeder Lage des Verfahrens zurückgezogen werden. Eine Zurückziehung eines Anbringens ist grundsätzlich bis zur Entscheidung der Behörde möglich (VwGH 7.11.1997, 96/19/3024). Dies bedeutet, dass eine Antragszurückziehung im Fall einer Berufung bis zur Erlassung des Berufungsbescheides möglich ist (vgl etwa VwGH 29.3.2001, 2000/20/0473 sowie VfGH 30.11 1999, B 2098/98). Diese zum früheren Berufungsverfahren vor den Verwaltungsbehörden ergangene Rechtsprechung ist auf das seit 1. Jänner 2014 bestehende Beschwerdeverfahren vor den Verwaltungsgerichten zu übertragen (vgl VwGH 6.7.2016, Ra 2016/08/0041).

Die Zurückziehung eines Anbringens führt aus Sicht der Behörde zum Erlöschen der Entscheidungspflicht (zB VwGH 10.10.1997, 96/02/0144) und damit aus der Sicht des Beschwerdeführers zum Verlust des Erledigungsanspruchs. Geht der Erledigungsanspruch verloren, ist das Verfahren mit Beschluss einzustellen (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013) § 28 VwGVG Anm 5; VwGH 29.04.2015, Fr 2014/20/0047).

Der anwaltlich vertretene BF zog seine Beschwerde gegen Spruchpunkte I. und II. des bekämpften Bescheids in der Beschwerdeverhandlung vom 19.06.2019 zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Bundesverwaltungsgericht noch nicht über die Beschwerde entschieden. Damit erlosch der Erledigungsanspruch des BF, weshalb das Verfahren hinsichtlich der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des bekämpften Bescheids mit Beschluss einzustellen war.

3.2. Zu B), Feststellung der Unzulässigkeit einer Rückkehr, Erteilung eines "Aufenthaltstitel Plus":

3.2.1. Zur Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG:

Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 Asylgesetz 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

Gemäß § 52 Abs 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.

Würde durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Zum Eingriff in das Privat- und Familienleben:

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann ua Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung - nunmehr Rückkehrentscheidung - nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei dieser Interessenabwägung sind - wie in § 9 Abs 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - die folgenden Kriterien zu berücksichtigen (vgl VfSlg 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423): Erstens die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, zweitens das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, drittens die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, viertens der Grad der Integration, fünftens die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, sechstens die strafgerichtliche Unbescholtenheit, siebentens Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, achtens die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren und schließlich neuntens die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Zum Eingriff in das Familienleben des BF:

Der BF verfügt in Österreich über keine Familienangehörigen, faktischen Familienbindungen oder sonstigen vergleichbaren engen Nahebeziehungen in Österreich. So ist seine aktuelle Beziehung auf Grund ihrer kurzen Dauer bzw mangels Wirtschaft- und Wohngemeinschaft nicht als außerhalb des Ehestandes bestehende faktische Familienbindung zu sehen (siehe zB VwGH 20.01.2011, 2007/01/1400 unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des EGMR). Ein Eingriff in sein Recht auf Familienleben iSd Art 8 EMRK ist daher auszuschließen.

Zum Eingriff in das Privatleben des BF:

Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen eines Menschen zu verstehen (vgl EGMR 15.01.2007, Sisojeva ua gegen Lettland, Appl 60654/00). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Angewendet auf den Sachverhalt bedeutet das:

Der BF verfügt über ein Privatleben, dass primär aus Freunden besteht, die er im Fitnesscenter und beim Fussballspielen kennengelernt hat. Mit ihnen geht er neben den sportlichen auch anderen Aktivitäten nachgeht, wie "Fortgehen" in Bars und Cafés, was unter Berücksichtigung des jungen Alters des BF, ein altersadäquates Privatleben darstellt. Er unterhält dabei auch intensivere freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern, wie XXXX oder XXXX ., und er hat auch einen mit C. einen Österreicher als "besten Freund". Er hat eine Ex-Freundin und seit drei bis vier Monaten eine neue Freundin in Österreich, mit denen er jeweils in Geschlechtsgemeinschaft, nicht aber in Wohn- oder Wirtschaftsgemeinschaft gelebt hat.

Für die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts des BF im Bundesgebiet, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf, sprechen die folgenden Aspekte:

Der ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte in weiterer Folge insgesamt einen - letztlich nicht erfolgreichen Antrag - auf internationalen Schutz. Der BF durfte sich in Österreich bisher nur auf Grund seines Antrags auf internationalen Schutz aufhalten, der zu keinem Zeitpunkt berechtigt war (vgl zB VwGH 20.02.2004, 2003/18/0347; 26.2.2004, 2004/21/0027; 27.04.2004, 2000/18/0257; sowie EGMR 08.04.2008, Nnyanzi, Appl 21.878/06). In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013; vgl auch VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216, mwN).

Der Verstoß des BF gegen die öffentliche Ordnung, nämlich auf Grund seiner Einreise unter Umgehung der Grenzkontrollen im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- bzw Einwanderungsrechts, begründet grundsätzlich ein gewichtiges Interesse der Öffentlichkeit an einer Beendigung des Aufenthalts des BF im Bundesgebiet. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass dieser Verstoß bereits über sieben Jahre zurückliegt und sich der BF seither wohlverhalten hat.

Auf der anderen Seite bestehen aber gewichtige Interessen des BF, sein Privatleben in Österreich fortsetzen zu können:

Der BF ist seit mehr als sieben Jahren - und damit fast ein Drittel seines Lebens - in Österreich aufhältig; zu berücksichtigen ist allerdings, dass er lediglich im vorübergehenden Aufenthaltsrecht im letztlich unbegründeten Asylverfahren gründet und damit relativiert wird (vgl VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216, mwN).

Der Grad seiner Integration ist grundsätzlich als gut zu bezeichnen. Er hat einen Freundeskreis von Österreichern. Er führt regelmäßig Hilfstätigkeiten für die Caritas und für Rechtsberater als Übersetzer durch, unterstützt Freunde und Gemeindemitglieder, indem er Freunden auf Grund seiner Ausbildung als Friseur regelmäßig die Haare schneidet oder Entrümpelungstätigkeiten durchführt, er unterhält Sozialkontakte mit Österreichern, besucht regelmäßig ein Sprachcafe, spricht alltagstaugliches Deutsch auf Niveau B1, wobei sein Sprachverständnis deutlich darüber liegt. Er hat - trotz der für ihn auf Grund der arbeitsrechtlichen Beschränkungen für Asylwerber bestehende Hindernisse - insgesamt etwa vier Monate legal als Zeitungszusteller und in der Gastronomie gearbeitet und diverse weitere Arbeitsplatzzusagen bekommen und auch aktuell eine Arbeitsplatzzusage, die er lediglich auf Grund seines Aufenthaltsstatus nicht annehmen konnte. Es ist davon auszugehen, dass er aufgrund dieser Arbeitszusage im Falle der Erteilung eines Aufenthaltstitels selbsterhaltungsfähig sein würde: Zwar ist der Wert dieser Zusage aufgrund der eingeräumten Probezeit, mit der das Arbeitsverhältnis jederzeit, innerhalb des ersten Monats, auflösbar ist, reduziert, und ihnen kommt - für sich allein stehend - damit keine besondere Bedeutung zu, aber da er im Verfahren bereits zwei Bestätigungen von verschiedenen Arbeitgebern vorgelegt hat und auch im Laufe des Verfahrens mehrere Monate aufgrund einer Beschäftigungsbewilligung beschäftigt war, ist - auch unter Berücksichtigung seiner alltagstauglichen Deutschkenntnisse - davon auszugehen, dass der BF mit einer Arbeitserlaubnis umgehend und langfristig eine Beschäftigung nachgehen könnte, mit der er sein Leben finanzieren könnte.

Die Bindung zu seinem Herkunftsstaat wäre zwar grundsätzlich stark, weil er dort 20 Jahre aufgewachsen und sozialisiert worden ist. Sie ist aber relativiert durch seine knapp siebeneinhalbjährige Abwesenheit - dh er hat knapp ein Drittel seines Lebens nicht in Afghanistan verbracht - bzw seinen mehr als siebenjährigen Aufenthalt in Österreich. Seine Eltern sind bereits verstorben, er hat keine Kinder. Seine Verlobung ist ohne Zustimmung des BF mit einer Frau, die er noch nie gesehen hat, zustande gekommen, für den BF ohne Bedeutung und ist daher nicht besonders zu werten. Er hat als engere Verwandte lediglich zwei Brüder, zu denen er seit 7,5 Jahren nur mehr zu einem lediglich halbjährlich telefonischen Kontakt hat; zu weiteren - entfernteren Verwandten - hat er seit seiner Ausreise keinerlei Kontakt. Die Bindung zu seinem Heimatstaat ist daher als reduziert zu betrachten.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten; hat durch seine Einreise unter Umgehung der Grenzkontrollen aber gegen fremdenpolizeiliche Vorschriften verstoßen, sich seither aber wohlverhalten.

Zu Gunsten des BF ist weiters die überlange Verfahrensdauer zu werten die - auch durch den erforderlichen zweiten Rechtsgang - zum Teil den Behörden zurechenbar ist.

In einer Gesamtabwägung überwiegen damit die Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet den öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung des BF im Bundesgebiet. Es wäre dem BF nicht möglich, dieses Privatleben - das sich primär auf in Österreich wohnhaften Personen gründet - außerhalb des Bundesgebiets fortzusetzen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG würde sohin eine - nicht bloß vorübergehende - Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG iVm Art 8 EMRK darstellen, weshalb festzustellen war, dass die Rückkehr des BF nach Afghanistan auf dauerhaft unzulässig ist.

3.2.2. Zur Erteilung eines Aufenthaltstitels:

Gemäß § 55 Abs 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" ua dann zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl I Nr 68/2017, erfüllt hat.

Gemäß § 81 Abs 36 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) gilt dabei das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG dann als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl I Nr 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl I Nr 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren.

Demnach war das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a Abs 4 Z 2 NAG erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs 2 Z 1 NAG vorlegt. § 14 Abs 2 Z 1 NAG legt dabei fest, dass Modul 1 dem Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache zur vertieften elementaren Sprachverwendung dient; hinsichtlich der näheren Ausgestaltung des "Modul 1" verweist § 14 Abs 3 NAG auf eine zu erlassende Verordnung. In § 9 Abs 4 Integrationsvereinbarungs-Verordnung wird dementsprechend festgelegt, dass als Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß §§ 14a Abs 4 Z 2 NAG Zeugnisse des ÖIF nach erfolgreichem Abschluss einer Prüfung auf A2-Niveau oder B1-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen gelten.

Da die Erteilung eines Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privatlebens in Österreich erforderlich war und der BF seine A2-Sprachprüfung des ÖIF Deutsch A2 am 09.04.2016, dh vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl I Nr 68/2017 am 09.06.2017 (§ 82 Abs 22 NAG), bestanden hat, weshalb ihm diese als Erfüllung des Modul 1 der Integrationsvereinbarung anzurechnen war, war ihm eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen.

Zu C) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Eine - wie hier - im Rahmen der vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw Grundsätze vorgenommene und vertretbare Interessenabwägung im Sinn des Art 8 EMRK ist nicht reversibel (vgl jüngst VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0049).

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus, gekürzte Ausfertigung, Integration,
Integrationsvereinbarung, Interessenabwägung, Privat- und
Familienleben, Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W258.1426115.2.00

Zuletzt aktualisiert am

19.05.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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