TE Bvwg Beschluss 2019/11/29 W241 2219468-1

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Veröffentlicht am 29.11.2019
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Entscheidungsdatum

29.11.2019

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz 2

Spruch

W241 2219468-1/9E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hafner über die Beschwerde des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gesetzlich vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.04.2019, Zl. 1096790308/151872025, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

1. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 26.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er zuvor unrechtmäßig ins österreichische Bundesgebiet eingereist war. Als Grund für seine Einreise ins Bundesgebiet gab der BF bei der Erstbefragung am selben Tag zusammengefasst an, sein Vater sei bei einem Selbstmordanschlag in Herat ums Leben gekommen. Die Familie sei daraufhin in den Iran geflüchtet, wo die Lebensbedingungen sehr schlecht seien.

Zu einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) am 11.01.2018 erschein der BF nicht.

Im Zuge des Verfahrens stellte sich heraus, dass der BF an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung leidet.

Eine weitere Einvernahme am 24.04.2018 wurde von der gesetzlichen Vertretung des BF unter Verweis auf dessen Einvernahmeunfähigkeit abgesagt. Hierzu wurde eine fachärztliche Stellungnahme vom 03.05.2018 nachgereicht, aus der hervorgeht, dass der BF bei Gesprächen über Belastungsfaktoren (Familie, Krieg, Flucht, Gewalterfahrungen) schwere Belastungsreaktionen wie kognitive Blockaden, Übelkeit, Schwindel, Zeitgitterstörungen, Erinnerungsblockaden und Gedächtnisbeeinträchtigungen zeige. Diese Symptome zeigten sich in einem "gesicherten" Gespräch, im Rahmen einer Einvernahme vor dem BFA sei eine deutliche Verschlechterung zu erwarten.

Der BF wurde am 11.06.2018 wegen Raufhandels zu sechs Wochen bedingter Freiheitsstrafe verurteilt.

Der BF wurde am 20.06.2018 wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu drei Monaten bedingter Freiheitsstrafe verurteilt.

Im Rahmen der strafrechtlichen Verfahren gegen den BF bestanden keine Zweifel an der Einvernahmefähigkeit des BF und wurden auch keine psychischen Erkrankungen seitens der gesetzlichen Vertretung geltend gemacht.

Aus einer fachärztlichen Stellungnahme vom 07.09.2018 geht hervor, dass der BF derzeit nicht einvernahmefähig sei. Eine Einvernahme berge das Risiko einer erneuten Traumatisierung, eine ausreichende Stabilisierung sei noch nicht gegeben.

Am 17.12.2018 wurde der BF wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Einer Berufung gegen dieses Urteil wurde am 13.09.2019 teilweise Folge gegeben und die Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen.

In einem vom BFA eingeholten jugendneuropsychiatrischen Sachverständigengutachten vom 08.02.2019 wurden die Diagnosen Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, Z. n. Posttraumatischer Belastungsstörung und Cannabismissbrauch gestellt. Der BF nehme erst seit kurzem eine psychiatrische Behandlung in Anspruch, eine Stabilisierung könne innerhalb eines Jahres ab Untersuchungsdatum durch psychiatrische, psychotherapeutische und sozialpädagogische Maßnahmen und vor allen eine begleitete Drogenabstinenz erreicht werden. Der BF sei als prinzipiell einvernahmefähig zu beurteilen, es müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass es ihm aufgrund einer starken Misstrauenshaltung schwerfalle, über emotional belastende Themen zu sprechen.

Aus einer ergänzenden Stellungnahme der Fachärztin, die das Gutachten erstellt hatte, vom 19.03.2019 geht hervor, dass der BF aus psychiatrischer Sicher einvernahmefähig sei, ein spezielles "Setting" sei nicht erforderlich.

Im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA am 20.03.2019 wurde der BF familiären und persönlichen Verhältnissen in Afghanistan befragt. Zur Frage nach den Gründen für das Verlassen des Herkunftslandes gaben der BF und sein gesetzlicher Vertreter an, dass er derzeit nicht in der Lage sei, seine Fluchtgründe detailliert darzulegen, und er um eine neuerliche Einvernahme in etwa einem Monat, nach psychologischer Vorbereitung, ersuche. Der Einvernahmeleiter des BFA verwies auf das eingeholte Gutachten und belehrte den BF darüber, dass anhand der Aktenlage entschieden werde, wenn er keine weiteren Angaben zu seinem Fluchtvorbringen mache. Der BF wurde über seine Mitwirkungspflicht belehrt.

Am 26.03.2019 wurde der BF wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zehn Wochen verurteilt.

Die gesetzliche Vertretung übermittelte am 03.04.2019 eine Stellungnahme zu den Länderberichten. Die Stellungnahme enthält keine Ausführungen zu den Fluchtgründen. Es wurde jedoch festgehalten, dass der BF im Iran geboren und aufgewachsen sei und nie im Afghanistan gelebt habe.

2. Das BFA hat mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid, zugestellt am 25.04.2019, den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde ausgeführt, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 18 Abs. 1 Z 5 BFA-VG wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.). Gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 u 2 AsylG habe der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 05.10.2016 verloren (Spruchpunkt VIII.) Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, da der BF keine konkrete, individuelle Verfolgung vorgebracht habe. Der BF könne seine medizinische Behandlung auch in Afghanistan fortsetzen, zumal er die ärztliche Unterstützung im Bundesgebiet nur sporadisch wahrgenommen habe. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG geltend gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, dass die Begründung des Antrages keine Deckung in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) finde. Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan nicht drohe. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Zu seinem in Österreich aufhältigen Bruder bestehe kein Kontakt. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan.

Die aufschiebende Wirkung der Beschwerde werde aberkannt, da der BF eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle und keine Verfolgungsgründe vorgebracht habe. Aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilungen habe er sein Aufenthaltsrecht verloren. Das verhängte Einreiseverbot wurde ebenfalls mit der Straffälligkeit des BF und seiner Mittellosigkeit begründet.

3. Gegen den oben genannten Bescheid des BFA richtet sich die beim BFA fristgerecht eingebrachte und mit 22.05.2019 datierte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG). Angefochten wurden alle Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids und es wurde beantragt, der Beschwerde stattzugeben und den Bescheid im angefochtenen Umfang aufzuheben oder abzuändern sowie der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. In der Beschwerde wurde unter anderem vorgebracht, dass der BF auf der Flucht sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen sei. Der BF sei zwar prinzipiell, nicht jedoch zu seinem Fluchtgrund einvernahmefähig.

Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 29.05.2019 vorgelegt.

4. Mit Beschluss des BVwG vom 05.06.2019 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Der BF wurde am 12.06.2019 wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu sieben Monaten Freiheitsstrafe, davon fünf Monate bedingt, verurteilt.

Am 24.10.2019 wurde über den BF die Untersuchungshaft verhängt. Am 13.11.2019 wurde er wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu acht Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.

2. Rechtliche Beurteilung:

2.1. Anzuwendendes Recht:

Gegenständlich sind die Verfahrensbestimmungen des AVG, des BFA-VG, des VwGVG und jene im AsylG enthaltenen sowie die materiellen Bestimmungen des AsylG in der geltenden Fassung samt jenen Normen, auf welche das AsylG verweist, anzuwenden.

Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der geltenden Fassung) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 in der geltenden Fassung, entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 in der geltenden Fassung geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes - AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

§ 28 VwGVG lautet:

(1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. (3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 1 BFA-Verfahrensgesetz - BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, in der geltenden Fassung bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem BFA, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem BVwG gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG bleiben unberührt.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, in der geltenden Fassung, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das BVwG. § 16 Abs. 6 und § 18 Abs. 7 BFA-VG bestimmen für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, dass §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden sind.

2.2. Rechtlich folgt daraus:

2.2.1. Die gegenständliche, zulässige und rechtzeitige Beschwerde wurde am 22.05.2019 beim BFA eingebracht und ist beim BVwG am 29.05.2019 eingegangen.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des BVwG zuständigen Einzelrichter.

Zu Spruchteil A):

2.2.2. Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht (VwG) den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, sofern die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat.

Zur Anwendung der Vorgängerbestimmung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat - an dessen Stelle als Rechtsmittelinstanz in Asylsachen mit 01.07.2008 der Asylgerichtshof und mit 01.01.2014 das BVwG getreten ist - hat der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mit Erkenntnis vom 21.11.2002, 2002/20/0315, ausgeführt:

"Im Berufungsverfahren vor der belangten Behörde ist gemäß § 23 AsylG und Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG (unter anderem) § 66 AVG anzuwenden. Nach § 66 Abs. 1 AVG in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998 hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen. Außer dem in § 66 Abs. 2 AVG erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, gemäß § 66 Abs. 4 AVG immer in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. dazu unter dem besonderen Gesichtspunkt der Auslegung der Entscheidungsbefugnis der belangten Behörde im abgekürzten Berufungsverfahren nach § 32 AsylG die Ausführungen im Erkenntnis vom 23.07.1998, 98/20/0175, Slg. Nr. 14.945/A, die mehrfach vergleichend auf § 66 Abs. 2 AVG Bezug nehmen; zu diesem Erkenntnis siehe auch Wiederin, ZUV 2000/1, 20 f.)"

Mit Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, hat der VwGH einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluss eines VwG aufgehoben, weil das VwG in der Sache selbst hätte entscheiden müssen. In der Begründung dieser Entscheidung führte der VwGH unter anderem aus, dass die Aufhebung eines Bescheides durch ein VwG nicht in Betracht kommt, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies werde jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen werde insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gelte, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen ließen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hätte, damit diese dann durch das VwG vorgenommen werden.

Der VwGH hat zuletzt weitere Entscheidungen getroffen, in denen er diese Grundsätze weiter ausgebildet hat. So hat er im Erkenntnis vom 19.04.2016, Ra 2015/01/0010, ausgesprochen, dass auch wenn das Verwaltungsgericht die beweiswürdigenden Erwägungen einer Verwaltungsbehörde nicht teilt, dies allein noch nicht dazu führt, dass von einem Unterlassen gebotener Ermittlungsschritte im Sinne des § 28 Abs. 3 VwGVG gesprochen werden könnte (vgl. etwa auch das Erkenntnis vom 20.05.2015, Ra 2014/20/0146).

2.2.3. Im vorliegenden Fall war es die primäre Aufgabe der belangten Behörde zu klären, ob der BF zum einen eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen konnte, und in weiterer Folge, ob darüber hinaus menschen- bzw. asylrechtliche Gründe einer Rücküberstellung bzw. Ausweisung in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden und ihm der Status als subsidiär Schutzberechtigter zu gewähren wäre.

2.2.3.1. Allerdings fand vor dem BFA keine Einvernahme des BF zu seinen Fluchtgründen statt, da der BF die Aussage hierzu verweigerte und auf seine psychischen Probleme, die eine Aussage zu seinen Fluchtgründen zu diesem Zeitpunkt unmöglich machen würden, verwies. Der BF ersuchte um eine weitere Einvernahme zu einem späteren Zeitpunkt (drei Wochen bis einen Monat), um sich mit Hilfe seines behandelnden Arztes auf die psychische Belastung durch die Einvernahme vorbereiten zu können. Diesem Ersuchen wurde seitens des BFA nicht entsprochen und ohne weitere Einvernahme der gegenständliche Bescheid erlassen.

Gemäß § 18 AsylG hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG ist ein Fremder, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung oder im Zulassungsverfahren zu befragen. Diese Befragung dient insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden und hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. Diese Einschränkung gilt nicht, wenn es sich um einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) handelt.

Gemäß § 19 Abs. 2 AsylG ist ein Asylwerber vom BFA, soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, zumindest einmal im Zulassungsverfahren und - soweit nicht bereits im Zulassungsverfahren über den Antrag entschieden wird - zumindest einmal nach Zulassung des Verfahrens einzuvernehmen. Steht der entscheidungsrelevante Sachverhalt fest und hat sich der Asylwerber dem Verfahren entzogen, so steht gemäß § 24 Abs. 3 AsylG die Tatsache, dass der Asylwerber vom Bundesamt oder vom BVwG bisher nicht einvernommen wurde, einer Entscheidung nicht entgegen.

Der Verwaltungsgerichtshof verlangt in seiner Rechtsprechung eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens, wobei Letzteres eine Auseinandersetzung mit (aktuellen) Länderberichten verlangt (VwGH 26.11.2003, 2003/20/0389).

Im vorliegenden Fall erließ das BFA trotz aktenkundiger Hinweise darauf, dass es dem minderjährigen BF schwerfallen würde, über sein Fluchtvorbringen zu sprechen, und dass dies mit einer erheblichen psychischen Belastung einhergehen könnte, den angefochtenen Bescheid etwa einen Monat nach der ersten, abgebrochenen Einvernahme, ohne innerhalb dieser Frist die vom BF und seiner gesetzlichen Vertretung beantragte zweite Einvernahme durchzuführen. Die Beurteilung des Fluchtvorbringens des BF erschöpfte sich daher in der Würdigung der Angaben in der Erstbefragung. Damit übersieht das BFA jedoch, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG die Einvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung "insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden [dient] und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen [hat]". Diese Regelung bezweckt den Schutz der Asylwerber davor, sich im direkten Anschluss an die Flucht aus ihrem Herkunftsstaat vor uniformierten Staatsorganen über traumatische Ereignisse verbreitern zu müssen, weil sie unter Umständen erst vor kurzem vor solchen geflohen sind (zum Verbot einer näheren Befragung zu den Fluchtgründen bei der Erstbefragung vgl. auch bereits VfGH 27.06.2012, U 98/12, unter Hinweis auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, RV 952 XXII. GP, S. 44). Daraus ergibt sich auch, dass an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind (vgl. VfGH 20.02.2014, U 1919/2013 ua.). Im gegenständlichen Fall ist auch das Alter des BF von lediglich 13 Jahren bei der Erstbefragung besonders zu berücksichtigen.

Das BFA tätigte daher nicht einmal ansatzweise Ermittlungen hinsichtlich des maßgebenden Sachverhalts im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, weshalb der angefochtene Bescheid im Ergebnis unter erheblichen Ermittlungsmängeln in Bezug auf die Frage der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer konkret und gezielt gegen den BF gerichteten Verfolgung maßgeblicher Intensität leidet. Der vorliegende Sachverhalt erweist sich für das BVwG zur Beurteilung einer allfälligen Gefährdung des BF hinsichtlich der Frage der Gewährung des Status des Asylberechtigten daher als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen des Sachverhalts diesbezüglich unerlässlich erscheinen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das BVwG kann nicht im Sinne des Gesetztes liegen, v.a. unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das BFA als Spezialbehörde für die Ermittlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist, und weil eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim BVwG beginnen und zugleich enden soll.

Dass eine unmittelbare Beweisaufnahme durch das BVwG "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des BFA gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückzuverweisen.

Das BFA wird im fortgesetzten Verfahren den BF erneut einzuvernehmen und sich mit seinem Vorbringen zu den Fluchtgründen im Wege einer ganzheitlichen Würdigung auseinanderzusetzen haben.

2.3. Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Da auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entfallen.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

In der rechtlichen Beurteilung (Punkt 2.) wurde unter Bezugnahme auf die Judikatur des VwGH ausgeführt, dass im erstbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, weil § 28 Abs. 3 2. Satz inhaltlich § 66 Abs. 2 AVG (mit Ausnahme des Wegfalls des Erfordernisses der Durchführung einer mündlichen Verhandlung) entspricht, sodass die Judikatur des VwGH betreffend die Zurückverweisung wegen mangelhafter Sachverhaltsermittlungen heranzuziehen ist. Im Übrigen trifft § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG eine klare Regelung (im Sinne der Entscheidung des OGH vom 22.03.1992, 5Ob105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Einvernahme, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde
Sachverhaltsfeststellung, minderjähriger Antragsteller

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W241.2219468.1.01

Zuletzt aktualisiert am

19.05.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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