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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Quasi-AnlassfallSpruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
1. Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Niederösterreich (Polizeikommissariat Schwechat) vom 7. Mai 2019 wurde über die Beschwerdeführerin wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet gemäß §120 Abs1b iVm §31 Abs1a Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl I 100 idF BGBl I 145/2017, eine Geldstrafe iHv € 5.000,– und eine Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von 13 Tagen und 23 Stunden verhängt.
2. Die gegen dieses Straferkenntnis erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass es den Tatvorwurf ergänzte, den Entfall von bestimmten dem Tatvorwurf folgenden Absätzen aussprach und die Übertretungsnorm "§31 Abs1a" durch "§52 Abs8" ersetzte (zudem verpflichtete es die Einschreiterin zur Leistung eines Beitrages zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens iHv € 1.000,–).
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in einem näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
4. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat den Gerichtsakt sowie zwei im Verfahren beigeschaffte Aktenkopien des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen.
5. Die Landespolizeidirektion Niederösterreich erstattete keine Äußerung und teilte mit, dass der Verwaltungsstrafakt im Beschwerdeverfahren vollständig dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich übermittelt worden und Bestandteil des Gerichtsaktes sei, der wiederum dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt worden sei.
6. Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
6.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 10. März 2020, G163/2019 ua, die Wort- und Ziffernfolge "von 5 000" in §120 Abs1b FPG als verfassungswidrig aufgehoben.
6.2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988). Im – hier allerdings nicht gegebenen – Fall einer Beschwerde gegen eine Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes, der ein auf Antrag eingeleitetes Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, muss dieser verfahrenseinleitende Antrag überdies vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. 6.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht worden sein (VfSlg 17.687/2005).
6.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 27. Februar 2020. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am 20. Dezember 2019 eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; der ihr zugrunde liegende Fall ist somit einem Anlassfall gleichzuhalten.
Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wendete bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin nachteilig war. Die Beschwerdeführerin wurde somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
7. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 VfGG abgesehen.
8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
Schlagworte
Fremdenrecht, Mindeststrafe, Geldstrafe, Strafe (Verwaltungsstrafrecht)European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:E4028.2019Zuletzt aktualisiert am
19.05.2020