Entscheidungsdatum
19.12.2019Norm
AsylG 2005 §34 Abs3Spruch
W261 2149020-1/24E
W261 2149022-1/22E
W261 2149018-1/19E
W261 2149017-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerden von
1. XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan,
2. XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan,
3. mj. XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan und
4. mj. XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan
alle vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, jeweils gegen die Spruchpunkte II., III. und IV. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom
1. 14.02.2017, Zl: XXXX ,
2. 13.02.2017, Zl: XXXX ,
3. 14.02.2017, Zl: XXXX und
4. 14.02.2017, Zl: XXXX ,
nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 22.05.2017 und am 13.11.2019 zu Recht:
A)
I. Den Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und den Beschwerdeführerinnen und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird den Beschwerdeführerinnen und dem Beschwerdeführer jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 19.12.2020 erteilt.
III. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkt III. bis
IV. der angefochtenen Bescheide ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Erst-, die Zweit- und die minderjährige Drittbeschwerdeführerin (in der Folge BF1, BF2 und mj. BF3), alle afghanischer Staatsangehörige, reisten nach eigenen Angaben am 19.11.2015 in die Republik Österreich ein und stellten am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung am 20.11.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gaben BF1 und BF2 jeweils im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi an, dass sie im Iran gelebt hätten und auch dort aufgewachsen seien. Sie hätten den Iran verlassen, weil sie frei und unabhängig hätten leben wollen. Sie hätten kein politisches oder religiöses Problem gehabt, deren Problem sei eher ein soziales Problem gewesen.
BF1 und BF2 wurden am XXXX Eltern einer Tochter, der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin (in der Folge mj. BF4). BF1 stellte am 12.10.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz für die mj. BF4.
Am 21.01.2017 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF1 und der BF2 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi. Die BF bestätigten im Wesentlichen die Angaben, welche diese bei der Erstbefragung gemacht hatten.
Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 13.02.2017 (BF2) und vom 14.02.2017 (BF1 und mj. BF3 und mj. BF4) wies die belangte Behörde die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde den BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt III.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).
Die BF erhoben mit Eingabe vom 01.03.2017, bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen diese Bescheide fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und fochten ausdrücklich die Spruchpunkte "2 & 3" der genannten Bescheide an, und beantragten, die angefochtenen Bescheide dahingehend abzuändern, dass den BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt werde; in eventu, dass die Rechtsmittelbehöre einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 Asylg erteile, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass der Bescheid im Spruchpunkt III betreffend die gegen die BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG gefällte Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt werde, und eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen.
Die Beschwerde und die Verfahrensakten langten am 03.03.1017 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) in der Gerichtsabteilung W267 ein.
Mit Eingabe vom 19.05.2017 legten die BF eine Vertretungsvollmacht des MigrantInnenvereins St. Marx vor. Der Verein Menschenrechte Österreich gab mit Eingabe vom 19.05.2017 bekannt, dass die diesem am 01.03.2017 durch die BF erteilte Vollmacht am 19.05.2017 niedergelegt werde, und das Vollmachtsverhältnis damit beendet sei.
Das BVwG führte am 22.05.2017 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Im Zuge dieser Verhandlung erläuterte der zuständige Richter mit den Parteien des Verfahrens die Problematik der "gültigen Beschwerdeerhebung" und vertagte in weiterer Folge auf Wunsch des BF1 und der BF2 die mündliche Beschwerdeverhandlung.
Mit Eingabe vom 31.05.2017 (eingelangt am 01.06.2017) brachten die BF, alle bevollmächtigt vertreten durch Dr. Lennart BINDER LL.M, Rechtsanwalt in 1030 Wien, bei der belangten Behörde einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und eine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I der Bescheide vom 13.02.2017 (BF2) und vom 14.02.2017 (BF1, mj. BF3 und mj. BF4) ein. Die BF brachten vor, dass ein unabwendbares und unvorhergesehenes Ereignis vorliege, nämlich eine falsche Beratung durch den gesetzlichen Rechtsberater, weswegen die Frist zur Erhebung der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I der genannten Bescheide verstrichen sei.
Mit Bescheid vom 09.06.2017 wies die belangte Behörde den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der BF2 gemäß § 71 Abs. 1 Z 1 AVG idgF ab. Hinsichtlich des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand des BF1, der mj. BF3 und der mj. BF4 traf die belangte Behörde keine Entscheidung.
Mit Eingabe vom 25.06.2017 erhoben die BF eine Beschwerde gegen den letztgenannten Bescheid.
Die belangte Behörde legte die Beschwerden der BF samt deren Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 31.05.2017 mit Schreiben vom 26.06.2017 dem BVwG vor, wo diese am selben Tag einlangten.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 03.07.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der ursprünglich zuständigen Gerichtsabteilung W267 abgenommen und der Gerichtsabteilung W261 neu zugeteilt, wo das Beschwerdeverfahren am 10.07.2019 einlangte.
Die BF gaben mehrfach Stellungnahmen ab und legten Integrationsunterlagen vor.
Das BVwG führte am 11.11.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach die BF seit 20.11.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung beziehen. Aus den vom BVwG am 11.11.2019 eingeholten Auszügen aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass im Strafregister der Republik Österreich für BF1 und BF2 keine Verurteilungen aufscheinen.
Das BVwG führte am 13.11.2019 eine weitere öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. BF1 und BF2 wurden im Beisein deren Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Farsi befragt und wurde diesen Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Die BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.
Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 04.06.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018 und die den aktuellen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 vor.
Mit Beschluss des BVwG vom 17.12.2019, Zl. W261 XXXX , behob dieses den Bescheid der belangten Behörde vom 09.06.2017 wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde ersatzlos. Gleichzeitig wies das BVwG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der BF2 vom 31.05.2017, eingelangt beim BVwG am 26.06.2017, als verspätet zurück.
Mit Beschlüssen des BVwG vom 17.12.2019, Zlen W261 XXXX , W261 XXXX und W261 XXXX wies dieses die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand des BF1, der mj. BF3 und der mj. BF4 vom 31.05.2017, eingelangt beim BVwG am 26.06.2017, als verspätet zurück.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1 Zum sozialen Hintergrund der BF:
BF1 führt den Namen XXXX , er ist am XXXX in Mazar-e Sharif in der Provinz Balkh geboren. BF1 ist afghanischer Staatsbürger, Hazara und schiitischer Moslem. BF1 ist Zivilist. Seine Muttersprache ist Dari. Neben Dari spricht BF1 Farsi und etwas Deutsch. BF1 ist gesund.
Sein Vater heißt XXXX , seine Mutter heißt XXXX . BF1 hat zwei Schwestern, XXXX und einen Bruder, XXXX . Seine Eltern, seine Schwestern und sein Bruder leben derzeit in XXXX , im Iran. BF1 hat Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie.
Nach seiner Geburt lebten seine Eltern noch ca. für vier Jahre in Mazar-e Sharif, dann verzogen seine Eltern mit BF1 in den Iran, wo BF1 aufwuchs. Er besuchte in der Zeit von 1998 bis 2000 im Iran die Grundschule. Mit 12 oder 13 Jahren begann BF1 im Iran in einer Teppichknüpffirma als Teppichknüpfer zu arbeiten. In weiterer Folge war BF1 als Bodenleger in XXXX im Iran, wo er auch zuletzt lebte, tätig. Im Jahr 2008 wurde BF1 von den iranischen Behörden nach Afghanistan abgeschoben. Er lebte daraufhin für ca. zwei Jahre wieder in Mazar-e Sharif. Dort arbeitete er drei Monate lang als Palatschinkenverkäufer. Danach war er am Bau tätig. Im Sommer arbeitete BF1 für reiche Leute auf den Opiumfeldern. Er kehrte ca. im Jahr 2010 wieder illegal in den Iran zurück, wo er bis zu meiner Ausreise ohne Aufenthaltstitel wieder als Fliesenleger und Steinschneider arbeitete. BF1 war in der Lage, für sich und seine Familie finanziell zu sorgen. BF1 hat in Afghanistan weder Verwandte, noch Grundstücke oder Vermögen.
BF2 führt den Namen XXXX , sie ist am XXXX in XXXX im Iran geboren. BF2 ist afghanische Staatsbürgerin, Hazara und schiitische Muslimin. Ihre Muttersprache ist Dari. BF2 spricht neben ihrer Muttersprache Farsi und etwas Deutsch. BF2 ist Zivilistin. BF2 ist gesund.
Ihr Vater heißt XXXX , ihre Mutter heißt XXXX . BF2 hat drei Schwestern, XXXX . Ihre Eltern und ihre Schwestern leben derzeit in Griechenland. BF2 hat einen jüngeren Bruder, XXXX , welcher mit ihr gemeinsam aus dem Iran ausreiste. Der Bruder von BF2 lebt in Österreich.
BF2 wuchs im Iran auf und besuchte fünf Jahre lang in XXXX die Grundschule. BF2 war noch nie in Afghanistan. BF2 hat keine Verwandten in Afghanistan.
BF1 und BF2 heirateten im Jahr 2009/2010 traditionell in XXXX , im Iran. Es handelt sich um eine arrangierte Ehe. Der Ehe entstammen die mj. BF3 und die mj. BF4.
Die mj. BF3 führt den Namen XXXX , sie ist am XXXX in XXXX im Iran geboren, ist afghanische Staatsbürgerin, Hazara und schiitische Muslimin. Die Muttersprache der mj. BF3 ist Dari/Farsi. Die mj. BF3 ist gesund.
Die mj. BF4 führt den Namen XXXX sie ist am XXXX in XXXX geboren, ist afghanische Staatsbürgerin, Hazara und schiitische Muslimin. Die Muttersprache von mj. BF4 ist Dari/Farsi. Die mj BF4 ist gesund.
Nach ihren eigenen Angaben sind BF1 und BF2 in Afghanistan nicht vorbestraft und hatten keine Probleme mit Behörden und waren politisch nicht aktiv.
1.2 Zum Leben der BF in Österreich:
Die BF halten sich seit November 2015 in Österreich auf.
Im Jahr 2016 besuchte BF1 den Lehrgang für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch am XXXX für Berufstätige in XXXX . Er besuchte Deutschkurse. BF1 nahm am 25.09.2017 den Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teil. Am 02.12.2017 nahm er als Kochhelfer bei einer Veranstaltung des Vereins für Kultur an der Leopold-Franzens-Universität Graz teil. In der Zeit vom 17.12.2018 bis 22.03.2018 leistete BF1 gemeinnützige Arbeit im Auftrag der XXXX über Jugend am Werk XXXX , wobei er in der Straßenreinigung mitarbeitete. In der Zeit vom 23.02.2019 bis 24.02.2019 besuchte BF1 einen Erste-Hilfe-Grundkurs des Roten Kreuzes. Seit 16.01.2019 arbeitet BF1 ich als freiwilliger Mitarbeiter bei der Team XXXX des Österreichischen Roten Kreuzes mit.
BF2 nahm regelmäßig an Veranstaltungen des Vereins XXXX teil. BF2 besuchte Deutschkurse und spricht recht gut Deutsch. BF2 besuchte im Jahr 2017 an eine "Interkulturelle Müttergruppe". Sie nahm regelmäßig an dem Projekt "Elterngruppe" bei Jugend am Werk XXXX teil. Am 01.12.2017 absolvierte BF2 den Werte- und Orientierungskurs des ÖIF. Im Wintersemester 2018/19 nahm sie im Rahmen der Lehrveranstaltung "Projektorganisation" am Sportunterricht für Schwimmen an der XXXX teil. BF2 nimmt regelmäßig am "interkulturellen Kochen" im SMZ - Statteilzentrum XXXX teil. Seit 01.03.2019 besucht BF2 die Lerngruppe für Frauen, organisiert vom Kunstlabor XXXX .
Da die BF keine Arbeitserlaubnis haben, waren sie bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Die BF leben von der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig.
BF2 ist eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich mittlerweile nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie trägt ihr Haar offen und unbedeckt und ist westlich gekleidet. BF2 führt bereits jetzt in Österreich ein freies, selbstbestimmtes Leben, wobei sie auch außerhalb ihres Heimes berufstätig sein will. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.
1.3 Zu den Fluchtgründen der BF:
BF1, BF2 und mj. BF3 reisten spätestens am 19.11.2015 in Österreich ein und stellen einen Antrag auf internationalen Schutz. BF1 stellte am 12.10.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz die mj. BF4.
Deren Anträge wurden mit den im Spruch genannten Bescheiden im Spruchpunkt I. abgewiesen. Die BF erhoben durch ihren gewillkürten Vertreter, dem Verein Menschenrechte Österreich, mit Eingaben vom 01.03.2017 Beschwerde, wobei ausdrücklich keine Beschwerden gegen Spruchpunkte I. der genannten Bescheide, mit welchen die Anträge der BF auf internationalen Schutz abgewiesen wurden, erhoben wurden.
Daher sind die Spruchpunkte I. der im Spruch genannten Bescheide in Rechtskraft erwachsen, weswegen eine Auseinandersetzung mit den Fluchtgründen der BF unterblieb.
Die dagegen von den BF erhobenen Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 31.05.2017 langten am 26.06.2017 beim BvwG ein und wurden mit Beschlüssen des BVwG vom 17.12.2019 als verspätet zurückgewiesen.
1.4 Zur Situation im Fall einer Rückkehr der BF:
Im Falle einer Verbringung der BF2, der mj. BF3 und der mj. BF4 nach Afghanistan droht diesen ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
BF2 wäre im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wegen ihrer westlichen Orientierung einer Bedrohung durch konservativ-islamischen Kräfte in Afghanistan ausgesetzt.
Eine Rückkehr der gesamten Familie (BF1, BF2, mj. BF3 und mj. BF4) im Familienverband ist aufgrund der Minderjährigkeit der mj. BF3 und der mj. BF4 nicht möglich bzw. nicht zumutbar. Eine Familie mit minderjährigen Kindern erfordert im Rückkehrort - hier Mazar-e Sharif, der Herkunftsstadt des BF1 - eine konkrete familiäre Unterstützung, welche nicht vorhanden ist.
1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 04.06.2019 (LIB), in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) und den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:
1.5.1 Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. (LIB)
1.5.1.1 Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif
Bei der Provinz Balkh handelt es sich um eine jener Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019).
Die Stadt Mazar-e Sharif wird von EASO als eine jener Regionen eingestuft, in welcher willkürliche Gewalt auf einem so niedrigen Niveau stattfindet, dass im Allgemeinen kein reales Risiko besteht, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird (EASO 2019).
Die Provinz Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt an Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan sowie an Kunduz, Baghlan, Samangan, Sar-e Pul und Jawzjan. Die Provinz besteht aus 15 Bezirken. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif (EASO 2019). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt (LIB).
Die Mehrheit der Distrikte in Balkh steht unter staatlicher Kontrolle, wobei zwei Distrikte als umstritten und ein Distrikt als unter Kontrolle der Taliban eingestuft werden. Während Balkh Berichten zufolge eine der stabilsten Provinzen Afghanistans ist, sind in der Provinz dennoch regierungsfeindliche Elemente aktiv, und es wurden 2018 und Anfang 2019 Sicherheitsvorfälle gemeldet. Taliban-Kämpfer haben ALP-Personal, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten während des gesamten Jahres 2018 und Anfang 2019 in den Distrikten Sholgareh, Chahrbulak, Chemtal und Dawlatabad angegriffen. Die ANSF führte mehrere Clearing-Operationen in Balkh durch. Darüber hinaus führte die US-Luftwaffe im April 2018 einen Luftangriff im Bezirk Charbulak durch. Weitere Beispiele für Vorfälle waren eine Bombenexplosion am Straßenrand im Bezirk Sholgareh, die Entführung von Reisenden durch die Taliban, die Entführung und das Töten von Wahlbeobachtern. Laut GIM wurden im Zeitraum Januar 2018 - Februar 2019 131 Vorfälle in der Provinz Balkh im Zusammenhang mit Aufständischen gemeldet (durchschnittlich 2,2 Vorfälle pro Woche) (EASO 2019).
Die Stadt Mazar-e Sharif ist nach wie vor eine der stabilsten Regionen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Städten in Nordafghanistan (LIB). Die Bevölkerung wird offiziell mit 454 457 Einwohnern angegeben. Der Rücktritt von Atta Mohammed Noor als Gouverneur von Balkh im Dezember 2017 führte Berichten zufolge zu vermehrten kriminellen Aktivitäten, wie bewaffneten Raubüberfällen, Mord, Zusammenstößen und Entführungen in Mazar-e Sharif. Mazar- e Sharif steht unter staatlicher Kontrolle (EASO 2019).
1.5.2 Wirtschafts- und Versorgungslage
Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist
(LIB).
Laut Daten der Afghanistan Living Conditions Survey (ALCS) 2016 - 2017 können 2 Millionen Afghanen - das sind 23,9% der gesamten Erwerbsbevölkerung - als arbeitslos eingestuft werden, was bedeutet, dass sie nicht arbeiten oder eine Beschäftigung suchen, oder weniger als acht Stunden pro Woche arbeiten. Junge Afghanen treten jedes Jahr in großer Zahl in den Arbeitsmarkt ein, aber die Beschäftigungsmöglichkeiten können aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Afghanistan war seit 2011-2012 mit einem starken Anstieg der Armut konfrontiert, wobei sowohl die städtischen als auch die ländlichen Armutsraten zunahmen. In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann. ALCS 2016 - 2017 stellte fest, dass nur 19,8% aller in Afghanistan beschäftigten Personen öffentlich und privat angestellt sind oder Arbeitgeber sind, was bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer eine gefährdete Beschäftigung darstellt. 52,6% der Landbevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt, während die städtische Beschäftigung vielfältiger ist. 36,5% der Erwerbsbevölkerung sind in verschiedenen Dienstleistungsbereichen beschäftigt und nur 5,5% in der Landwirtschaft (EASO 2019).
Laut Daten der ALCS von 2016 bis 2017 sind 44,6% der afghanischen Bevölkerung - das sind 13 Millionen Menschen - sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. Während der Winterpflanzsaison im Dezember 2017 - Februar 2018 war Afghanistan von einer längeren Dürreperiode betroffen. UNOCHA stellte fest, dass die Dürre im Jahr 2018 mehr als zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung getroffen hat, gesundheitliche Probleme verursacht, negative Bewältigungsmechanismen ausgelöst und die Einkommen halbiert hat (EASO 2019).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können gemäß der Definition von UN-Habitat als Slums eingestuft werden. Der Bericht über den Zustand afghanischer Städte stellte fest, dass der Zugang zu angemessenem Wohnraum für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung darstellt. Armut und Ungleichheit sind die harte Realität für etwa ein Drittel aller städtischen Haushalte (EASO 2019).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019).
1.5.2.1 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. (LIB)
Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein Industriezentrum mit großen Produktionsbetrieben und einer großen Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen, die Kunsthandwerk, Teppiche und Teppiche anbieten. Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO 2019).
In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Stadt Mazar-e Sharif die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO 2019).
Mazar-e Sharif befand sich im Februar 2019 in Phase 2 des von FEWS NET verwendeten Klassifizierungssystems. In Phase 2, auch "Stressed" genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und seien nicht in der Lage sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden. (ECOI 2019)
1.5.3 Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60% der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019)
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar. (LIB)
Es gibt ungefähr 10-15 Krankenhäuser in Mazar-e Sharif, die meisten davon werden privat geführt, und 30-50 Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Abu Ali Sinha Balkhi in Mazar-e Sharif dient als Zentralkrankenhaus für die Provinz Balkh und ist das Überweisungskrankenhaus für die nördliche Region, in dem alle Unfall- und Notfälle behandelt werden. Es fungiert als Hauptkrankenhaus für die Kliniken in den umliegenden Bezirken. In Mazar-e Sharif gibt es zwei Einrichtungen für psychische Gesundheit (EASO 2019).
1.5.4 Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.
Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.
Die schiitische Minderheit der Hazara, zu welchen der BF zählt, macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten.
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können.
Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert.
So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt. Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke.
Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen.
Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.
(LIB)
1.5.5 Religion
Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 10-15 % Schiiten, wie es auch der BF ist. (LIB)
Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS. (LIB)
1.5.6 Rückkehrer/innen
In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.
Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.
Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.
Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.
Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. (LIB)
Afghanische Flüchtlinge im Iran
Die letzten zwei bis drei Jahre zeigen doch auf eine progressivere Entwicklung für Afghanen im Iran, wo sich die Maßnahmen der iranischen Behörden auf einen höheren Integrationsgrad der Afghanen zubewegen. Die freiwillige Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge ist immer noch das Hauptziel der iranischen Flüchtlingspolitik, aber man hat eingesehen, dass dies im Moment nicht in größerem Maße geschehen kann. Deshalb versucht man Maßnahmen zu ergreifen, die die Situation für die Afghanen verbessern, während man darauf wartet, dass eine Rückkehr stattfinden kann. Es gibt heute einen politischen Willen, die Fähigkeit der Afghanen, sich besser selbst zu versorgen und selbstständiger zu werden, zu unterstützen, aber gleichzeitig sind die Ressourcen des Iran begrenzt und dies bedeutet eine große Herausforderung für die iranischen Behörden. Es gibt auch von den iranischen Behörden nicht zuletzt aus sicherheitsmäßigen Aspekten Interesse daran, mehr Kenntnisse über die Anzahl der sich illegal im Land aufhaltenden Staatsbürger zu erhalten. Dieses hatte zur Folge, dass die iranischen Behörden im Jahr 2017 mit einer Zählung (headcount) und der Registrierung der Afghanen, die sich illegal im Land aufhalten, begonnen haben. In dieser ersten Runde hat man einige ausgewählte Kategorien priorisiert, beispielsweise nicht-registrierte Afghanen, die mit iranischen Staatsbürgern verheiratet sind und Kinder in der Schule haben.
Im Gegensatz zu Pakistan leben nur 3% der afghanischen Flüchtlinge in Iran in Camps. Auch wenn die Flüchtlingslager für Amayesh-registrierte ("Amayesh" ist die Bezeichnung für das iranische Flüchtlingsregistrierungssystem, Anm.) Personen vorgesehen sind, leben dort in der Praxis auch nicht-registrierte Afghanen.
Die Mehrheit der Afghanen, die sich sowohl legal als auch illegal im Land aufhalten, wohnen in von Afghanen dominierten urbanen und halb-urbanen Gebieten. Schätzungen zufolge leben circa 57% der Afghanen im Iran in der Provinz Teheran, Isfahan sowie Razavi-Chorsan (mit Maschhad als Hauptort). Um die 22% leben in den Provinzen Kerman, Fars und Ghom, während die Übrigen in den anderen Provinzen verteilt sind. Die afghanische Flüchtlingspopulation im Iran besteht aus einer Anzahl unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Schätzungen über die registrierten Afghanen zufolge gehört die Mehrheit von ihnen der Ethnie der Hazara an, gefolgt von Tadschiken, Paschtunen, Belutschen und Usbeken. Es fehlen Zahlen zur nicht-registrierten Gemeinschaft, dennoch stellen auch hier die Hazara und die Tadschiken eine Mehrheit dar. (LIB)
1.5.7 Situation der Frauen in Afghanistan
Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet. In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was Großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist. Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach. Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden. Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter.
Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung. Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben.
Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen.
Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert. Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon 77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht.
Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc.. Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können.
Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies". Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc..
Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen. Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung.
Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen.
Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach.
Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert.
Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist.
Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes.
Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt. Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018. Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt. Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen.
Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit.