Entscheidungsdatum
09.04.2018Norm
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2Spruch
W147 2160966-2/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Kanhäuser als Einzelrichter über die Anträge von XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Dr. Gerhard MORY, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, auf Wiederaufnahme des Verfahrens und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Stellung des Wiederaufnahmeantrages beschlossen:
A)
I. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird gemäß § 33 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2017, abgewiesen.
II. Der Antrag auf Wiederaufnahme wird gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 2/2017, als unzulässig zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 164/2013, nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 3. September 2013, Zahl 13
12.121 - BAI, wurde dem minderjährigen Antragsteller, einem Staatsangehörigen der Russischen Föderation, der Status des Asylberechtigten im Wege des Familienverfahrens, bezogen auf seine Mutter (Antragstellerin W147 2160752-2), welche auch für den Antragsteller einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, zuerkannt. Im Rahmen dieses Antrages machte die Mutter des Antragstellers keine eigenen Gründe für diesen geltend, sondern berief sich für diesen auf ihre Fluchtgründe.
2. Aufgrund einer Personenkontrolle der Mutter des Antragstellers am Flughafen Wien- XXXX am 4. Juni 2016 gab diese bei einer Einreisekontrolle von einem Flug von Istanbul nach Wien kommend an, dass sie sich seit 25. November 2015 im Ausland befunden habe, da es ihrer eigenen Mutter nicht gut gehe. Deswegen sei die Mutter des Antragstellers mit ihrem Sohn über Istanbul nach Moskau und von dort weiter nach Tschetschenien gereist. Im Weiteren wurde festgestellt, dass der Konventionsreisepass der Mutter des Antragstellers zahlreiche Ein- und Ausreisestempel aufweist und brachte die Mutter des Antragstellers zugleich einen russischen Auslandsreisepass in Vorlage.
3. Am XXXX kam die Schwester des minderjährigen Antragstellers (Antragstellerin W147 2160753-2) zur Welt.
4. Am 28. Februar 2017 wurde gegen die Mutter des Antragstellers ein Verfahren zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten eingeleitet und diese am 28. März 2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.
5. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der mit Bescheid des Bundesasylamtes 3. September 2013, Zahl 13 12.121 - BAI, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.).
Unter Spruchpunkt II. wurde dem Antragsteller gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt.
Unter Spruchpunkt III. wurde dem Antragsteller ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 4 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung des Antragstellers gemäß § 46 FPG zulässig ist.
Mit Spruchpunkt IV. wurde die Frist zur freiwilligen Ausreise mit 2 Wochen festgesetzt.
Nach allgemeinen Feststellungen zur Lage in der Russischen Föderation und nach Wiedergabe des Verfahrensganges hielt die belangte Behörde fest, dass jene Gründe der Mutter des Antragstellers, die zur Anerkennung als Flüchtling geführt hätten, nicht mehr vorliegen würden.
Nicht festgestellt werde könne, dass der Antragsteller nach einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in eine bedrohliche Situation geraten würde und wurde auf die Begründung des Bescheides seiner Mutter verwiesen.
6. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG vom 18. Mai 2017 wurde dem Antragsteller für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die "ARGE-Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/ 3. Stock, 1170 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
7. Mit Schriftsatz vom 12. Juni 2017 wurde fristgerecht Beschwerde im Familienverfahren gegen den genannten Bescheid erhoben und die erstinstanzliche Erledigung wegen Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger Feststellungen und unrichtiger richtiger Beurteilung in vollem Umfang angefochten.
8. Am 20. September 2018 fand, nachdem die Mutter des Antragstellers an dem für den 27. März 2018 anberaumten Verhandlungstermin unentschuldigt fern blieb, zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache sowie seines Rechtsvertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher die Mutter des Antragstellers zu ihren Verwandten in Tschetschenien, ihrem Tagesablauf in Österreich, zu Krankheiten und zu ihren Reisebewegungen in die Russische Föderation bzw. Tschetschenien befragt wurde.
9. Ein Vollmachtswechsel samt Ankündigung einer Beschwerdeergänzung langte am 26. April 2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
10. Die Beschwerdeergänzung wurde am 14. Juni 2018 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.
11. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. Dezember 2018, W147 2160966-2/11E, wurde die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. Mai 2017, Zl:
13-831212108 - 170591308, als unbegründet abgewiesen. Das Erkenntnis wurde dem Antragsteller am 7. Januar 2019 zugestellt.
12. Mit Schriftsatz vom 18. Januar 2019 erhob der Antragsteller im Wege des Familienverfahrens die außerordentliche Revision gegen das genannte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes.
13. Mit Eingabe vom 30. Januar 2019 brachte der Antragsteller verfahrensgegenständlichen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu W147 2160966-1 und auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Frist zur Stellung des Antrages auf Wiederaufnahme dieses Verfahrens ein. Weiters beantragte der Antragsteller diesem Antrag die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Der Antrag auf Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde damit begründet, dass in Ansehung des Gesundheitszustandes des Antragstellers, am 25. November 2018 von der zuständigen Psychologin der Gemeinschaftspraxis XXXX ein klinisch-psychologischer Befund erstellt worden sei. Aus diesem gehe hervor, dass bei dem minderjährigen Antragsteller in Folge einer Frühgeburt eine kombinierte Entwicklungsstörung vorliege. Daher benötige der Antragsteller aus psychologischer Sicht eine ganzheitliche Entwicklungsförderung durch Integrationsförderung im Kindergarten, Frühforderung, Sprachförderung sowie Training sozialer Kompetenzen einschließlich einer klinisch-psychologischen Verlaufskontrolluntersuchung innerhalb von zwölf Monaten. Der nunmehrige Rechtsvertreter des Antragstellers habe erstmalig am 17. Januar 2019 im Rahmen der Revisionsvorbereitung vom Gesundheits- und Entwicklungszustand des Antragstellers und am 18. Januar 2019 erstmalig von dem Befund vom 25. November 2018 erfahren. Daher erweise sich der Antrag als rechtzeitig.
Weiters sei der Mutter des minderjährigen Antragstellers nicht bewusst gewesen, dass der klinisch-psychologische Befund der Gemeinschaftspraxis XXXX vom 25. November 2018 über den Entwicklungsstand ihres minderjährigen Sohnes für die Rückkehrentscheidung der Familie wichtig sei und sie dies dem Gericht sowie dem Rechtsvertreter mitzuteilen gehabt habe. Auch habe niemand der nicht sprachkundigen Mutter des Antragstellers den Inhalt und das Ergebnis des Gutachtens übersetzt und im Einzelnen erklärt.
Zum Wiederaufnahmeantrag führte die Mutter des Antragstellers im Wesentlichen aus, dass ihr als gesetzlicher Vertreterin nicht bewusst gewesen sei, dass der klinisch-psychologische Befund ihres Sohnes ein wichtiges Beweismittel darstelle, zumal der Befund von dem Kindergarten in Auftrag gegeben worden sei und man ihr das Ergebnis, den Inhalt des Befundes auch nicht übersetzt habe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:
1. Feststellungen:
Der relevante Sachverhalt ergibt sich aus den unter Punkt I getroffenen Ausführungen.
2. Beweiswürdigung:
Der für die gegenständliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes relevante Sachverhalt ergibt sich zweifelsfrei aus der Aktenlage.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:
Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem, dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder einzustellen ist.
3.2. Zu Spruchteil A.I)
3.2.1. Die Bestimmungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lauten wie folgt:
§ 33. (1) Wenn eine Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, dass sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist oder eine mündliche Verhandlung versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
(2) Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Stellung eines Vorlageantrags ist auch dann zu bewilligen, wenn die Frist versäumt wurde, weil die anzufechtende Beschwerdevorentscheidung fälschlich ein Rechtsmittel eingeräumt und die Partei das Rechtsmittel ergriffen hat oder die Beschwerdevorentscheidung keine Belehrung zur Stellung eines Vorlageantrags, keine Frist zur Stellung eines Vorlageantrags oder die Angabe enthält, dass kein Rechtsmittel zulässig sei.
(3) Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist in den Fällen des Abs. 1 bis zur Vorlage der Beschwerde bei der Behörde, ab Vorlage der Beschwerde beim Verwaltungsgericht binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses zu stellen. In den Fällen des Abs. 2 ist der Antrag binnen zwei Wochen
1. nach Zustellung eines Bescheides oder einer gerichtlichen Entscheidung, der bzw. die das
Rechtsmittel als unzulässig zurückgewiesen hat, bzw.
2. nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Stellung eines Antrags auf
Vorlage Kenntnis erlangt hat, bei der Behörde zu stellen. Die versäumte Handlung ist gleichzeitig nachzuholen.
(4) Bis zur Vorlage der Beschwerde hat über den Antrag die Behörde mit Bescheid zu entscheiden. § 15 Abs. 3 ist sinngemäß anzuwenden. Ab Vorlage der Beschwerde hat über den Antrag das Verwaltungsgericht mit Beschluss zu entscheiden. Die Behörde oder das Verwaltungsgericht kann dem Antrag auf Wiedereinsetzung die aufschiebende Wirkung zuerkennen.
(5) Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung tritt das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor dem Eintritt der Versäumung befunden hat.
(6) Gegen die Versäumung der Frist zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrags findet keine Wiedereinsetzung statt.
3.2.2. Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre die Auffassung, dass als "Ereignis" nicht nur tatsächliches, in der Außenwelt stattfindendes, sondern prinzipiell jedes, auch inneres, psychisches Geschehen, ein psychologischer Vorgang - einschließlich der "menschlichen Unzulänglichkeit" - anzusehen sei (vgl. VwSlg 10.325 A/1980; 13.353 A/1991; VwGH 27.01.1981, 11/0122/80, 16.01.1991, 89/01/0399; 17.11.1994, 94/09/0218; Hengstschläger/Leeb, Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (2009), § 71 Rz 34).
Der Verwaltungsgerichtshof hat, ausgehend von der Deutung des Begriffes Ereignis, in jüngerer Zeit wiederholt die Auffassung vertreten, auch ein Rechtsirrtum könne als Wiedereinsetzungsgrund in Betracht kommen und es sei, wenn ein solcher Irrtum als Wiedereinsetzungsgrund geltend gemacht wird, im Einzelfall die Verschuldensfrage zu prüfen (Hinweis E 12.12.1980, 2786/78, VwSlg 10325 A/1980, 3.12.1982, 82/08/0212, 25.9.1990, 90/07/0012, und 24.2.1992, 91/10/0251; B 3.9.1996, 96/04/0134, und 11.3.1998, 97/01/1099, 1100; E 2.7.1998, 97/06/0056, und B 13.1.1999, 98/01/0637). Diese Ansicht wird auch vom Obersten Gerichtshof zu § 146 ZPO vertreten (OGH 23.5.1996, 8 Ob A 2045/96k).
Diese Judikatur ist unzweifelhaft auch auf den gleichlautenden Begriff "unabwendbares oder unvorhergesehenes Ereignis" in § 33 Abs. 1 Z 1 VwGVG, der erkennbar § 71 Abs. 1 Z 1 AVG nachgebildet ist, übertragbar.
Als Ereignis ist jedes Geschehen ohne Beschränkung auf Vorgänge in der Außenwelt anzusehen, auch ein Irrtum kann ein Ereignis sein. Unvorhergesehen ist ein Ereignis dann, wenn die Partei es tatsächlich nicht einberechnet hat und dessen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte. Unabwendbar ist ein Ereignis dann, wenn sein Eintritt objektiv von einem Durchschnittsmenschen nicht verhindert werden kann (VwSlg 9024 A). Der Begriff des minderen Grades des Versehens ist als leichte Fahrlässigkeit im Sinn des § 1332 ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben (vgl. z.B. VwGH 07.06.2000, Zl. 99/01/0337).
Auch ein Rechtsirrtum (Unkenntnis von Rechtsvorschriften) kann einen Wiedereinsetzungsgrund darstellen, wenn die weiteren Voraussetzungen, insbesondere mangelndes oder nur leichtes Verschulden, vorliegen (VwGH 11.05.2017, Ra 2017/04/0045). Wird ein solcher Wiedereinsetzungsgrund geltend gemacht, ist im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob die Partei (oder ihren Vertreter) an der Unkenntnis der Rechtslage bzw. am Rechtsirrtum ein über den minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden trifft (VwGH 16.09.1999, 99/20/364; 30.04.2001, 2001/03/0183; 25.05.2007, 2006/12/0219). Eine der Wiedereinsetzung entgegen stehende auffallende Sorglosigkeit nahm der VwGH beispielsweise an, wenn die Rechtsunkenntnis bzw. der Rechtsirrtum hätte vermieden werden können durch die aufmerksame Lektüre des Bescheides (VwGH 31.07.2007, 2006/05/0089), und zwar nicht nur des Spruchs, sondern insbesondere auch seiner Rechtsmittelbelehrung (VwGH 26.02.2003, 2002/17/0279; 09.06.2004, 2004/16/0096) und seiner Begründung (VwGH 08.05.1998, 97/19/1271; 24.02.2006, 2005/12/0237; 01.06.2006, 2005/07/0044), die Einholung von Informationen bei der Behörde (VwGH 08. 05.1998, 97/19/1271) oder bei einem Rechtskundigen (VwGH 24.02.1992, 91/10/0291; 02.07.1998, 97/06/0056; 24.02.2006, 2005/12/0237; Hengstschläger/Leeb, AVG § 71 Rz 68, 69 [Stand 1.4.2009, rdb.at]).
Der geltend gemachte Wiedereinsetzungsgrund muss bereits im Wiedereinsetzungsantrag bezeichnet und sein Vorliegen glaubhaft gemacht werden. Die Partei muss also jene Umstände, durch die sie an der Vornahme der Prozesshandlung gehindert wurde, konkret beschreiben. Glaubhaftmachung bedeutet, dass die Partei Beweismittel anbieten muss, durch die die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens des Wiedereinsetzungsgrundes dargetan wird. Es ist allein das Vorliegen des geltend gemachten Wiedereinsetzungsgrundes zu prüfen. Eine amtswegig Prüfung, ob allenfalls weitere Gründe für eine Wiedereinsetzung vorliegen, ist nicht vorgesehen. Nach Ablauf der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag kann der geltend gemachte Wiedereinsetzungsgrund auch nicht mehr ausgewechselt werden (VwGH 25.02.2003, 2002/10/0223).
3.2.3. Der minderjährige Antragsteller bringt vertreten durch seine Mutter zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Wesentlichen vor, dass ihr nicht bewusst gewesen sei, dass der klinisch-psychologische Befund der Gemeinschaftspraxis XXXX vom 25. November 2018 über den Entwicklungsstand des minderjährigen Antragstellers für die Rückkehrentscheidung wichtig sei. Erst im Zuge der Recherchen des nunmehrigen Rechtsvertreters sei die Mutter des Antragstellers über die Möglichkeit des Antrages auf Wiedereinsetzung informiert worden. Da der Rechtsvertreter erst am 17. Januar 2019 von dem Befund des minderjährigen Antragstellers Kenntnis erlangt habe, sei die Antragstellung am 30. Januar 2019 auch innerhalb der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag und somit rechtzeitig.
3.2.4. Obzwar die Antragstellung innerhalb der in § 33 Abs. 3 VwGVG normierten Frist erfolgte, war der gegenständliche Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus folgendem Grund unberechtigt.
Die Mutter des Antragstellers moniert mit ihrem Vorbringen eine Unkenntnis der Rechtslage (Seite 18 des Antrages: "Zur Begründung wird ausgeführt, dass der gesetzlichen Vertreterin nicht bewusst und bekannt war, dass der klinisch-psychologische Befund vom 25.11.2018 ein wichtiges Beweismittel im gegenständlichen Verfahren betreffend Erlassung von Rückkehrentscheidungen, dies in Ansehung aller drei Rückkehrentscheidungen und aller drei Verfahren vor dem BVwG, darstellt [..]".). Wie aus der oben zitierten Judikatur hervorgeht, kann mangelnde Rechtskenntnis oder ein Rechtsirrtum ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellen, welches eine Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen kann (vgl. VwGH, vom 15.10.1999, 96/21/0185). Wird ein solcher Wiedereinsetzungsgrund geltend gemacht, ist im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob die Partei an der Unkenntnis der Rechtslage bzw. am Rechtsirrtum ein über den minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden trifft (vgl. VwGH v. 16.9.1999, 99/20/364).
Gemäß § 33 Abs. 1 VwGVG steht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Verschulden der Partei nur dann entgegen, wenn es den minderen Grad des Versehens übersteigt. Unter einem minderen Grad des Versehens ist nach der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts leichte Fahrlässigkeit iSd §1332 ABGB zu verstehen (vgl. VwGH 17.5.1990, 90/06/0039).
Die Mutter des Antragstellers führt im Antrag aus, sie habe nicht gewusst, dass es für die Rückkehrentscheidung wichtig sei, dass sie das Gericht oder ihre Rechtsvertretung im Detail über die bei ihrem Sohn vorliegende, erhebliche Entwicklungsstörung in Kenntnis setzte (vgl. Seite 8 des Antrages).
Eine der Wiedereinsetzung entgegenstehende auffallende Sorglosigkeit nahm der Verwaltungsgerichtshof beispielsweise an, wenn die Rechtsunkenntnis bzw. der Rechtsirrtum vermieden hätte werden können durch die Rücksprache mit einem Rechtsvertreter (VwGH 08.05.1998, 97/19/1271) oder die Einholung von Informationen bei einem Rechtskundigen (VwGH 24.02.1994, 91/10/0291, 02.07.1998, 97/06/0056, 24.02.2006, 2005/12/0237).
Dem Argument der Mutter des Antragstellers ist daher kein Erfolg beschieden, da die im Zeitpunkt der klinisch-psychologischen Untersuchung nachweislich vertretene Mutter des Antragstellers laut dem klinisch-psychologischem Befund der Gemeinschaftspraxis XXXX bei dem im Rahmen der Untersuchung geführten Beratungsgespräch im Oktober 2018 anwesend war und ihr der Inhalt des Gespräches von einer Dolmetscherin fernmündlich übersetzt wurde. Der Mutter des Antragstellers war sohin der Grund für die Untersuchung ihres Sohnes bekannt und gab die Antragstellerin auf die Fragen der zuständigen Psychologin zum Entwicklungszustand des Sohnes konkrete Antworten.
Vielmehr ist der Mutter des Antragstellers mit ihrem Handeln eine auffallende Sorglosigkeit vorzuwerfen, hätte sie doch auch die Möglichkeit gehabt und wahrnehmen müssen, den Befund ihres Sohnes einem Rechtskundigen (bzw. ihrem Rechtsvertreter) vorzulegen, Informationen bei einem Rechtskundigen einzuholen sowie den Befund in das Verfahren einzubringen.
Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Mutter des Antragstellers im Rahmen der Beschwerdeverhandlung dezidiert nach dem Gesundheitszustand ihrer Kinder befragt wurde.
Der Mutter des Antragstellers ist es daher nicht gelungen, ein entsprechendes unvorhersehbares oder unabwendbares Ereignis glaubhaft zu machen. Denn gemäß der in § 33 Abs. 1 VwGVG normierten "Glaubhaftmachung" muss bei der entscheidenden Instanz die Überzeugung der Wahrscheinlichkeit der vorgebrachten Tatsache hervorgerufen werden. Reine Behauptungen betreffend das Vorliegen des Wiedereinsetzungsgrundes reichen nicht aus (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 71 Rz 116). Eine solche Glaubhaftmachung ist der Antragstellerin im gegenständlichen Verfahren nicht gelungen.
3.2.5. Neben der Unkenntnis der Rechtslage macht die Mutter des Antragstellers auch Verständigungsschwierigkeiten geltend (Seite 10 des Antrages: "Niemand hat der nicht ausreichend sprachkundigen Mutter den Inhalt und das Ergebnis des Gutachtens übersetzt und im Einzelnen erklärt.").
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt der Umstand, dass die Partei die deutsche Sprache überhaupt nicht oder nur mangelhaft beherrscht, keinen Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dar (VwGH 22.05.1997, 97/18/257; 01.08.2000, 2000/21/0097).
3.2.6. Obiter bleibt in diesem Zusammenhang auszuführen, dass auch die rechtzeitige Einbringung des klinisch-psychologischen Befundes keine Änderung des Ergebnisses der von dem Bundesverwaltungsgericht bestätigten Rückkehrentscheidung ergeben hätte. Wie dem Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, vom 31.08.2018 - Kurzinformationen vom 12.11.2018, zu entnehmen ist, ist eine weiterführende medizinische Versorgung des Antragstellers im Heimatland aufgrund eines bestehenden Gesundheitssystems in Tschetschenien jedenfalls gesichert.
3.2.7. Angesichts der Abweisung des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erübrigt sich eine Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.
3.3. Zu Spruchteil A.II)
3.3.1. Zum Antrag auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. Dezember 2018, Zl. W147 2160966-1/11E, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens:
Gemäß § 32 Abs. 2 VwGVG ist der Antrag auf Wiederaufnahme binnen zwei Wochen beim Verwaltungsgericht einzubringen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Erkenntnisses und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Erkenntnisses kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.
3.3.2. Der Antragsteller hat mit seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine unverschuldete Säumnis der rechtzeitigen Antragstellung auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. Dezember 2018, Zl. W147 2160966-1/11E, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens nicht glaubhaft machen können, weshalb auch der vorliegende Antrag gemäß § 32 Abs. 2 VwGVG als verspätet zurückzuweisen ist.
Es war daher insgesamt spruchgemäß zu entscheiden.
4. Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2017, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Schlagworte
Glaubhaftmachung, Verspätung, Voraussetzungen, Wegfall der Gründe,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:W147.2160966.2.00Zuletzt aktualisiert am
14.05.2020