Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Michaela Puhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 5020 Salzburg, Dr-Franz-Rehrl-Platz 5, vertreten durch Ferner Hornung & Partner Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei F*****, vertreten durch Dr. Harald Schwendinger, Dr. Brigitte Piber, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 41.649,70 EUR und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Dezember 2018, GZ 11 Ra 56/18m-15, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 31. Juli 2018, GZ 11 Cga 5/18-10, nicht Folge gegeben wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
1. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden hinsichtlich des Leistungsbegehrens dahingehend abgeändert, dass diese als Teilzwischenurteil zu lauten haben:
Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 41.649,70 EUR samt 4 % Zinsen aus 22.620,12 EUR seit 18. 8. 2016 und aus 19.029,58 EUR seit 16. 1. 2018 zu zahlen, besteht dem Grunde nach zu Recht.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
2. Im Übrigen, nämlich hinsichtlich des Feststellungsbegehrens sowie der Kostenentscheidung, werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die auf das Feststellungsbegehren entfallenden Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Beklagte ist Landwirt und Eigentümer eines Bauernhofes, in dem auch Zimmer vermietet werden. Im Frühjahr 2014 beabsichtigte er eine Sanierung der Ferienwohnungen im Dachgeschoss. Auf der Baustelle arbeiteten vier Personen über Vermittlung des Maschinenrings L*****, darunter auch J*****. Dieser ist Landwirt und ebenso wie der Beklagte Mitglied des Maschinenrings. Beim Maschinenring L***** handelt es sich um einen Verein mit dem Zweck, Arbeitskräfte und Maschinen an die einzelnen Mitglieder zu vermitteln. Das Entgelt wird auf ein Verrechnungskonto des Vereins einbezahlt, der dieses nach Abzug einer Provision an die Arbeitskraft weiterleitet.
Aufgabe von J***** auf der Baustelle des Beklagten war das Verlegen von Rigipsplatten im Dachgeschoss, wobei die Platten zunächst nach oben befördert werden mussten. Dafür war ein vor dem Haus aufgestellter Lastenaufzug vorgesehen, den der Beklagte von einem Bekannten ausgeliehen hatte. Vor Beginn der Arbeiten hatte er das Zugseil ausgewechselt. Der Lastenaufzug entsprach nicht dem Stand der Technik und hinsichtlich Konstruktion, Bau- und weiterer Schutzmaßnahmen nicht den Rechtsvorschriften betreffend Sicherheit und Gesundheitsanforderungen. Es waren weder Fangvorrichtungen zur Verhinderung eines Absturzes der Plattform noch Notführungen, eine Überlastsicherung, Notendschalter, Puffer, Not-Aus-Schalter oder Ähnliches vorhanden. Darüber hinaus lagen keine Betriebsanweisung oder Hinweise zur Bedienung und Nutzung, Wartungsanleitungen oder technische Daten zur Anlage vor. Es existiert kein Prüfbuch für technische Überprüfungen. Ob eine Abnahmeprüfung anlässlich der Erstinbetriebnahme erfolgte, ist nicht bekannt. Innerhalb der letzten 15 Monate vor der Inbetriebnahme durch den Beklagten wurde die Anlage keiner wiederkehrenden Prüfung unterzogen. Auch nach Aufstellung wurde keine Prüfung durch eine befugte Person durchgeführt. Der Beklagte wusste nicht, welche Last maximal mit dem Aufzug befördert werden darf, und er machte sich auch keine Gedanken darüber. Es waren auch keine Warnhinweise oder Verbotsschilder in Bezug auf die Nutzung des Lastenaufzugs angebracht.
Um den Lastenaufzug bedienen zu können, war es nicht erforderlich, dass sich eine Person auf der Aufzugsplattform befand. Vielmehr war über ein Steuerungsgerät eine zentimetergenaue Einstellung möglich.
Neben dem Lastenaufzug war für die Arbeiter ein Treppenturm aufgestellt, über den man in das Dachgeschoss gelangen konnte. Am ersten Arbeitstag fuhr J***** gemeinsam mit dem Beklagten und einem Installateur mit dem Lastenaufzug in das Dachgeschoss. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beklagte J***** darauf hinwies, dass der Lastenaufzug nicht zur Beförderung von Personen geeignet ist und von diesem daher nicht verwendet werden dürfe. Andere auf der Baustelle arbeitende Personen waren zwar vom Beklagten aufgefordert worden, nach Möglichkeit die Treppe und nicht den Lastenaufzug zu verwenden, auch sie nutzten aber aus Bequemlichkeit immer wieder den Lastenaufzug, wie es auch der Beklagte selbst tat. Auch J***** verwendete in der Folge den Lastenaufzug immer wieder als Personenaufzug, teilweise gemeinsam mit dem Beklagten. Ihm wäre allerdings aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes erkennbar gewesen, dass es sich um einen Lastenaufzug handelt, der nicht für die Beförderung von Personen vorgesehen war.
Am 8. 5. 2014 lud J***** zusammen mit zwei anderen Arbeitern Rigipsplatten in den Aufzug. Gemeinsam fuhren sie in Richtung 2. Obergeschoss. Kurz vor dem Ausstieg fiel jedoch plötzlich und unerwartet die gesamte Aufzugsplattform samt den darauf befindlichen Personen zu Boden. J***** erlitt einen Trümmerbruch der rechten Speiche im Bereich des Handgelenks mit Abriss des Ellengriffelfortsatzes, einen Bruch des rechten Handkahnbeines sowie einen erstgradig offenen Verrenkungsbruch des rechten Sprunggelenks. Zum Absturz der Plattform war es dadurch gekommen, dass das Tragseil gerissen war. Die Ursache dafür kann nicht festgestellt werden.
Auf der Baustelle gab es keine Bauaufsicht. Anweisungen erhielten die über den Maschinenring vermittelten Hilfskräfte vom Beklagten als Bauherrn sowie von zwei Personen der Trockenbaufirma, die aber am Unfallstag nicht auf der Baustelle anwesend waren.
J***** war zum Unfallszeitpunkt bei der Klägerin aufrecht versichert. Mit Bescheid der Klägerin vom 12. 4. 2016 wurde eine Leistungspflicht der Klägerin aufgrund des Vorfalls festgestellt. J***** wurde ein Teilbetrag der am 18. 8. 2016 fällig gewordenen Versehrtenrente inklusive Sonderzahlungen von 22.620,12 EUR ausbezahlt. Weitere 19.029,58 EUR sind fällig.
Ein gegen den Beklagten eingeleitetes Strafverfahren endete mit Diversion.
In einem Verfahren von J***** gegen den Beklagten auf Schmerzengeld und Verdienstentgang, Ersatz zukünftig anfallender Kosten sowie Feststellung der Haftung für künftige Schäden wurde das Klagebegehren mangels vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls abgewiesen.
Die Klägerin begehrt die Zahlung von 41.649,70 EUR sA und die Feststellung der Haftung des Beklagten gegenüber der Klägerin für die von ihr in Zukunft zu erbringenden Leistungen aus dem Unfall des J***** vom 8. 5. 2014. Der Beklagte habe den Arbeitsunfall des J***** grob fahrlässig verschuldet. Die grobe Fahrlässigkeit ergebe sich aus der Nutzung eines Lastenaufzugs für den Personentransport. Darüber hinaus habe der Lastenaufzug nicht den geltenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen entsprochen und hätte nicht für Bauarbeiten verwendet werden dürfen. Mit Bescheid vom 12. 4. 2016 sei eine Leistungspflicht der Klägerin für den Unfall festgestellt worden. Aufgrund dessen sei eine Versehrtenrente inklusive Sonderzahlungen ausbezahlt worden. Weitere 19.029,58 EUR seien zur Zahlung fällig. Da die Klägerin auch weiter Leistungen zu erbringen habe, habe sie ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Haftung des Beklagten.
Der Beklagte bestritt und brachte vor, dass ihm keine grobe Fahrlässigkeit am Unfall zur Last zu legen sei. Der Aufzug sei grundsätzlich standsicher aufgestellt worden. Der Beklagte habe die Arbeiter angewiesen, ihn nicht für den Personentransport zu nutzen. Eine Versehrtenrente im Ausmaß von 40 % stehe J***** nicht zu. Er weise keine unfallkausalen Beeinträchtigungen mehr auf. Es bestehe keine Bindungswirkung an einen verwaltungsbehördlichen Bescheid für Parteien des Zivilverfahrens, die an diesem Verwaltungsverfahren nicht beteiligt gewesen seien.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Nach § 334 Abs 1 ASVG habe der Dienstgeber dem Sozialversicherungsträger alle nach dem ASVG zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, sofern der Arbeitsunfall grob fahrlässig verursacht worden sei. Dies gelte auch für Unfälle, die nach § 176 Abs 1 Z 6 ASVG Arbeitsunfällen gleichgestellt seien. Der Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers setze grobes Verschulden voraus, das hier zu bejahen sei. Die Höhe des Anspruchs ergebe sich aus den Leistungsbescheiden, an die die Gerichte gebunden seien. Aufgrund der Tatbestandswirkung des Bescheids gelte diese Bindung auch für Personen, die an dem Zustandekommen des Bescheids nicht beteiligt waren.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten gegen dieses Urteil nicht Folge. Es teilte die Ansicht des Erstgerichts, dass aufgrund der völligen Missachtung sämtlicher Schutzvorschriften der Arbeitsunfall grob fahrlässig herbeigeführt worden sei. Hinsichtlich der Höhe bestehe eine Bindung an den rechtskräftigen Bescheid des Sozialversicherungsträgers über den Umfang der Sozialversicherungsleistungen.
Die Revision an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht nicht zu, da keine über den Einzelfall hinausgehenden Rechtsfragen zu behandeln seien.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Beklagten mit dem Antrag, das Urteil dahingehend abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch teilweise berechtigt.
1. Im Revisionsverfahren wendet sich keine der Parteien dagegen, dass es sich beim Unfall des J***** um einen nach § 176 Abs 1 Z 6 ASVG einem Arbeitsunfall gleichgestellten Unfall bei einer betrieblichen Tätigkeit handelt, die sonst ein nach § 4 ASVG Versicherter ausübt. In einem solchen Fall ist nach ständiger Rechtsprechung § 334 ASVG unabhängig davon anwendbar, ob die Tätigkeit an sich unfallversicherungspflichtig war (8 ObA 336/98i).
2. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen. Durch ein Mitverschulden des Versicherten wird die Haftung weder aufgehoben noch gemindert (Abs 3).
Der Beklagte wendet sich in der Revision gegen das von den Vorinstanzen bejahte Vorliegen der groben Fahrlässigkeit.
Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich vorhersehbar ist (RIS-Justiz RS0030644). Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist demnach nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RS0085332). Die Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften und Dienstnehmerschutzbestimmungen muss insoweit an sich noch kein grobes Verschulden begründen (vgl RS0026555). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RS0030622, RS0031083). Richtig ist, dass grobe Fahrlässigkeit erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RS0030272).
Im konkreten Fall hat es der Beklagte zugelassen, dass Personen, die für ihn Arbeiten verrichten, einen Lastenaufzug für die eigene Beförderung verwenden. Dieser Aufzug war keiner Überprüfung unterzogen worden. Auch nach Aufstellung war er nicht durch eine befugte Person kontrolliert worden, obwohl der Beklagte selbst das Zugseil ausgetauscht hatte, also Veränderungen vorgenommen hatte. Es gab keine Schutzvorrichtungen, keine Betriebsanweisung, keine Warnschilder, kein Prüfbuch. Dass die Nutzung dieses Aufzugs für die Beförderung von Personen ein eminentes Risiko der Verletzung dieser Personen in sich barg, war dem Beklagten wie jedermann leicht erkennbar.
Allein der Umstand, dass neben dem Verletzten auch der Beklagte und andere Arbeiter auf der Baustelle aus Bequemlichkeitsgründen den Lastenaufzug verwendeten, ändert daran nichts. Grobe Sorgfaltswidrigkeit in eigenen Angelegenheiten kann nicht gegenüber anderen exkulpieren. Dazu kommt, dass den anderen Arbeitnehmern auf der Baustelle nicht bewusst sein musste, dass es keine Abnahme, keine Sicherheitsprüfungen und technische Kontrollen gegeben hatte, dem Beklagten dagegen schon.
Zu Recht sind daher die Vorinstanzen davon ausgegangen sind, dass der Beklagte grob fahrlässig gehandelt hat, indem er die Nutzung des Lastenaufzugs für Personen zugelassen hat.
Damit besteht aber der Regressanspruch nach § 334 ASVG dem Grunde nach zu Recht.
3. § 334 ASVG sieht einen Ersatz für „alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen“ vor. Der Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers gemäß § 334 ASVG ist nach ständiger Rechtsprechung originärer Natur. Es handelt sich somit nicht um einen abgeleiteten Anspruch, der gemäß § 332 ASVG auf den Sozialversicherungsträger übergeht, sondern um einen solchen kraft eigenen Rechts. Der Anspruch des Sozialversicherungsträgers besteht daher unter den in § 334 ASVG normierten Voraussetzungen unabhängig davon, ob und inwieweit dem Geschädigten ein privatrechtlicher Schadenersatzanspruch zusteht. Es handelt sich um einen zivilrechtlichen Aufwandersatzanspruch des Sozialversicherungsträgers, der freilich eine Schadenersatzhaftung für grobes Verschulden dem Grunde nach voraussetzt (Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm, § 334 ASVG Rz 2; vgl auch Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek4 § 334 Rz 1 f).
Die Vorinstanzen haben zum Umfang des Ersatzanspruches eine Bindung an den Leistungsbescheid der Klägerin angenommen. Die Revision geht dagegen davon aus, dass mangels Beteiligung des Beklagten am Verwaltungsverfahren eine Bindung gegen Art 6 EMRK verstößt.
4. Der Oberste Gerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung eine Bindung der Gerichte an rechtskräftige Bescheide der Verwaltungsbehörden, mit denen eine für den Zivilrechtsstreit maßgebliche Vorfrage entschieden wurde, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn diese Bescheide fehlerhaft (gesetzwidrig) sein sollten (RS0036880; RS0036981; RS0036864). Der Zivilrichter hat den Bescheid im Allgemeinen nicht auf seine inhaltliche Richtigkeit zu prüfen (RS0036975 [T4]).
Die für jede Bindung der Zivilgerichte an eine Entscheidung einer Verwaltungsbehörde vorausgesetzte Rechtskraft (vgl RS0036880) erfasst aber auch im Verwaltungsrecht grundsätzlich nur die Parteien des Verwaltungsverfahrens. Dritte können (abgesehen von einer Rechtskrafterstreckung) nur (mittelbar) durch die Gestaltungs- oder Tatbestandswirkung eines Bescheids gebunden sein (RS0036865 [T1], RS0036975 [T5], RS0121545). Bindungen an nachteilige Wirkungen eines Verfahrens, in das der nun davon Betroffene nicht eingebunden war und die er als unabänderlich hinnehmen müsste, verstoßen nach überwiegender Auffassung gegen Art 6 EMRK und können daher meist nicht bestehen (2 Ob 71/15b mwN; vgl auch Trenker, Bindung des Zivilgerichts an verwaltungsbehördliche/-gerichtliche Entscheidungen, JBl 2016, 488 [495]; Musger, Verfahrensrechtliche Bindungswirkung und Art 6 MRK, JBl 1991, 420 [425]; Spitzer, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten im Zivilprozess, ÖJZ 2003, 48 [55 f]).
Die Tatbestandswirkung setzt voraus, dass die Rechtsordnung an die bloße Tatsache der Existenz des Bescheids Rechtsfolgen knüpft (2 Ob 143/17v mwN).
Gestaltungswirkung ist anzunehmen, wenn ein Bescheid eine gegenüber jedermann wirkende neue Rechtslage schafft (2 Ob 143/17v mwN).
Nach Walter (Die Bindung der Zivilgerichte an rechtskräftige präjudizielle Bescheide, ÖJZ 1996, 601 [611]) kann die Gestaltungswirkung zu den Tatbestandswirkungen gerechnet werden, da hier Tatbestände an Rechtslagen anknüpfen, die durch Bescheide (oder andere Staatsakte) geschaffen wurden (beispielsweise Verneinung der Staatsbürgerschaft, Scheidung der Ehe). Dabei müsse jeweils untersucht werden, ob man es mit einem „Statusfall“ zu tun habe, das heißt einem Fall, in dem sicher sei, dass die Rechtsordnung nicht allen künftig von der Gestaltung Betroffenen Parteistellung im Bescheiderlassungsverfahren einräumen wollte (konnte) und die Rechtswirkung dennoch allgemein sein sollte, oder ob in subjektive Rechte Dritter eingegriffen werde, die am Bescheiderlassungsverfahren nicht beteiligt waren (oder beteiligt hätten werden sollen).
5. Unstrittig war der Beklagte am Verwaltungsverfahren, in dem die Klägerin den Umfang der Leistung an den Geschädigten festlegte, nicht beteiligt. Eine Bindung kann sich daher nur aus einer Tatbestands- oder Gestaltungswirkung des Bescheides ergeben.
6. § 334 ASVG sieht einen Ersatz für alle „nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen“ vor.
Die Vorgängerregelung der RVO enthielt zur Höhe des Ersatzanspruchs eine ausdrückliche Bindung an die Bescheide der Unfallversicherung. Nach § 907 RVO iVm § 901 Abs 1 RVO hatte über die Ersatzansprüche ein ordentliches Gericht zu erkennen, das an die Entscheidung darüber gebunden war, ob ein entschädigungspflichtiger Unfall vorliegt und in welchem Umfang und von welchem Versicherungsträger die Entschädigung zu gewähren ist.
Aus welchen Gründen das ASVG keine ausdrückliche Bestimmung über eine solche Bindung enthält, lässt sich den Materialien nicht entnehmen. Der Ausschussbericht (AB 613 BlgNR 7. GP 29) enthält nur den Hinweis, dass an der Regelung der Ansprüche im Verhältnis Schädiger, Geschädigter und Sozialversicherung, „die sich schon im alten österreichischen Recht vorfindet“, nichts geändert werden soll.
Der Oberste Gerichtshof schloss sich in der Entscheidung 2 Ob 245/60 der Ansicht Wedls (Schadenersatz und Haftung nach dem ASVG, JBl 1955, 589 [594]) an, dass das Gericht auch nach dem ASVG an die im Sozialversicherungsverfahren getroffene rechtskräftige Entscheidung darüber, in welchem Umfang Leistungen zu gewähren sind, gebunden ist. Nach der Entscheidung 2 Ob 128/62 ist zu differenzieren: Ist zu beurteilen, ob ein Arbeitsunfall, also eine der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der §§ 333 und 334 ASVG vorliegt, ist eine Bindung der Gerichte an die im Bescheid des Trägers der Sozialversicherung zum Ausdruck kommenden Auffassung zu verneinen. Soweit es jedoch um den Umfang dessen geht, was der Träger der Sozialversicherung dem Versicherten nach dem ASVG zu gewähren hat, ist eine Bindung des Gerichts an den rechtskräftigen Bescheid des Trägers der Sozialversicherung zu bejahen: Dies finde im Wortlaut und im Sinn des § 334 ASVG („... so hat er alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen“) seine Begründung. Der den Trägern der Sozialversicherung durch § 334 ASVG gewährte Anspruch auf Ersatz dessen, was sie nach dem ASVG zu leisten hätten, sei nur dann in vollem Umfang gewährleistet, wenn die Entscheidung der nach dem ASVG dazu berufenen Stellen über den Umfang der zu gewährenden Leistungen der Überprüfung durch das Gericht nicht unterlägen.
Dieser Rechtsauffassung schlossen sich auch die nachfolgenden Entscheidungen 2 Ob 243/64, 8 Ob 8/71, 8 Ob 133/72; 8 Ob 227/73 an. In der Entscheidung 8 Ob 8/71 wurde dabei auch die Frage, ob die Behauptung einer Verbesserung des Gesundheitszustands des Geschädigten, verbunden mit einer geringeren Minderung der Erwerbsfähigkeit als dem Bescheid zugrunde gelegt, einer Überprüfung durch die Gerichte zugänglich sei, unter Hinweis auf die Bindung verneint.
Bereits 1967 setzte sich Walter in der FS Schmitz (Probleme der Bindung an sozialversicherungsrechtliche Entscheidungen im Zivilprozess, 459 ff), kritisch mit dieser Judikatur auseinander. Er verwies darauf, dass nach dem Wortlaut des § 334 ASVG Maßstab dafür, welche Leistungen zu ersetzen seien, das Gesetz, nicht ein Bescheid sei. Der Bescheid entscheide nur die vom Sozialversicherungsträger an den Versicherten zu erbringenden Leistungen. Für die Annahme einer weitergehenden Bedeutung gebe es keine hinreichenden Gründe.
In der jüngeren Literatur wurde dagegen ohne grundsätzlich die Bindung der Gerichte an den Bescheid des Sozialversicherungsträgers über den Umfang der Leistung in Frage zu stellen, nur die Frage einer Schadensminderungspflicht bzw eines Mitverschuldens des Sozialversicherungsträgers thematisiert. Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek § 334 ASVG Rz 39 halten es für überlegenswert, ob der Regressanspruch durch ein eigenes Verschulden des Sozialversicherungsträgers gemindert werden könne (etwa wegen Nichtbeanstandung eines gefährlichen Betriebs oder wegen Erteilung unrichtiger Ratschläge durch die AUVA). Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm, § 334 ASVG Rz 26 sieht einen Ersatz der gesamten infolge der Schädigung erforderlich gewordenen Sozialversicherungsleistungen in jenen Fällen als nicht gerechtfertigt an, in denen die Aufwendungen durch ein Verschulden des Sozialversicherungsträgers bzw dessen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht erhöht wurden.
Der erkennende Senat hat dazu erwogen:
§ 334 ASVG enthält, wie dargestellt, nach seinem Wortlaut zur Höhe von Regressansprüchen keine Bindung an den Bescheid über die vom Sozialversicherungsträger an den Geschädigten zu erbringenden Leistungen. Dafür, dass die in der Vorgängerbestimmung enthaltene Bindung nur deshalb entfallen ist, weil der Gesetzgeber eine solche Bindung als „überflüssig“ angesehen hat, finden sich keine Hinweise im Gesetzwerdungsprozess.
Aber auch der Zweck des Gesetzes, der Ersatz der Leistungen des Sozialversicherungsträgers an den Geschädigten durch den Schädiger, bietet keine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass der Schädiger zu ersetzen hat, was der Sozialversicherungsträger nicht aufgrund des Gesetzes, sondern aufgrund eines gesetzwidrigen Bescheids darüber hinaus leistet (so schon Walter, FS Schmitz 461). Zur vergleichbaren Frage von Regressansprüchen von Sozialhilfeträgern aufgrund der Gewährung von Sozialhilfeleistungen hat der Verwaltungsgerichtshof ebenfalls keine Bindung an den Gewährungsbescheid angenommen, weil der Regresspflichtige nicht Partei des Verfahrens war (vgl VwGH 93/08/0158; 2001/11/0029; 2000/11/0196; 2005/10/0108). Dem hat sich auch der Oberste Gerichtshof für Fälle angeschlossen, in denen Entscheidungen über solche Ersatzansprüche auf den Rechtsweg verwiesen waren (4 Ob 192/06y). Nach diesen Entscheidungen schließt die Intention des Gesetzes, dass der tatsächlich getragene Aufwand ersetzt werden soll, nicht aus, dass im Regressverfahren geprüft wird, ob dieser Aufwand auch dem nach dem Gesetz zu Tragenden entspricht.
Weder der Gesetzeswortlaut noch der Gesetzeszweck bieten daher eine ausreichende Grundlage für die Annahme einer Tatbestandswirkung des Bescheids im Leistungsverfahren für das Regressverfahren.
Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Entscheidung über die Verpflichtung des Schädigers zur Leistung eines zivilrechtlichen Aufwandersatzes die Beurteilung von „civil rights“ auch des Schädigers im Sinn des Art 6 EMRK darstellt. Die Annahme einer Bindung in diesem Verfahren an nachteilige Wirkungen eines anderen Verfahrens, in das der nun davon Betroffene nicht eingebunden war, kann damit – selbst bei Annahme einer Tatbestandswirkung – gegen Art 6 EMRK verstoßen.
7. Eine Bindung lässt sich auch nicht aus einer Rechtsgestaltungswirkung des Bescheids im Leistungsverfahren ableiten.
Anders als etwa in den prinzipiell ähnlichen Fällen der Feststellung der Behinderteneigenschaft handelt es sich nicht um eine Art „Statusentscheidung“, die eine Reihe von Rechtswirkungen in verschiedene Richtungen entfaltet, ohne dass alle Betroffenen oder Berührten dem Verfahren beigezogen werden müssen oder auch nur können. Gegenstand des Leistungsverfahrens in der Unfallversicherung ist vielmehr, welche Ansprüche der Versicherte gegen den Sozialversicherungsträger hat. Eine Gestaltung der Rechtslage „gegenüber jedermann“ ist damit nicht intendiert.
Soweit der Verfassungsgerichtshof zur Feststellung der Invalidität/Behinderteneigenschaft (VfGH, B 639/87; ihm folgend: 8 ObA 32/18s; RS0110655) auch damit argumentiert, dass die Feststellung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit die Befassung mit höchstpersönlichen Umständen in der Sphäre des Behinderten erfordert und ein Vielparteienverfahren dafür ebenso ungeeignet ist wie eine mehrfache Wiederholung ähnlicher Verfahrensschritte in mehreren Verfahren mit unterschiedlichen Zwecken, lässt sich dies nicht auf die Regressfälle des § 334 ASVG übertragen. Gegenstand des Leistungsverfahrens sind zwar ebenfalls höchstpersönliche Umstände des Versicherten. Anders als bei der Feststellung der Behinderteneigenschaft ist aber der Arbeitgeber hier nicht nur mittelbar von der Wirkung des Bescheids betroffen. Der Leistungsbescheid bestimmt aber den Umfang des Aufwands des Sozialversicherungsträgers, der über den Regress auf den Arbeitgeber überwälzt werden soll.
Eine Bindung des Gerichts im Regressprozess an den Leistungsbescheid des Sozialversicherungsträgers ist daher zu verneinen.
8. Das führt jedoch nicht dazu, dass die Existenz des Bescheids als solches unbeachtlich ist.
In der Entscheidung 9 Ob 83/10m wurde darauf verwiesen, dass auch ein Bescheid, dessen Bindungswirkung verneint wird, Teil der Rechtswirklichkeit sei. Mangels Bindung stehe aber der Einwand offen, dass die ohne Erhebung eines Rechtsmittel in Rechtskraft erwachsene bescheidmäßige Verpflichtung durch die Erhebung eines Rechtsmittels hätte abgewendet werden können. Zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 2 Ob 71/15b darauf verwiesen, dass ein Überwiegen der materiell-rechtlichen Wertungen zur Schadenszurechnung angenommen wird, wenn eine Entscheidung im Vorverfahren nur die Höhe des vom Beklagten zu ersetzenden Schadens konkretisiert. Dem Rechtsgedanken des Art 6 EMRK könne in solchen Fällen – unter Bedachtnahme auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – auch durch eine Obliegenheit des Klägers Rechnung getragen werden, den Beklagten, soweit die Verfahrensgesetze es ermöglichen, zur Beteiligung am Vorverfahren aufzufordern oder zumindest den Schaden durch Erhebung von Rechtsmitteln gering zu halten.
Diese Überlegungen können auch für den vorliegenden Fall nutzbar gemacht werden:
Der Regressanspruch der Unfallversicherung kommt nur zum Tragen, wenn der Arbeitgeber (oder der ihm Gleichgestellte) durch ein grob fahrlässiges oder vorsätzliches, rechtswidriges Verhalten einen Aufwand des Sozialversicherungsträgers verursacht hat, der sich in den mit Bescheid zugesprochenen Leistungen konkretisiert. Mit Vorliegen eines rechtskräftigen Bescheids ist der Sozialversicherungsträger zur Leistungserbringung verpflichtet (vgl aber etwa auch § 99 ASVG). Damit umschreibt der Bescheid grundsätzlich den Aufwand, der dem Sozialversicherungsträger durch das schuldhaft, rechtswidrige Verhalten des Arbeitgebers tatsächlich verursacht wurde. Dem Regresspflichtigen muss jedoch die Möglichkeit offenstehen, geltend zu machen, dass dem Sozialversicherungsträger im Rahmen der Feststellung der Leistungspflicht gegenüber dem Geschädigten eine vorwerfbare Verletzung einer Obliegenheit zur Last zu legen ist, die relevanten Einfluss auf den Umfang der Leistungspflicht hatte. Nur in einem solchen Fall kann davon ausgegangen werden, dass ein Aufwand getätigt wurde, der nicht „nach diesem Bundesgesetz zu gewährende Leistungen“ umfasst.
9. Zusammengefasst ergibt sich daher:
Die Rechtsprechung, dass im Regressverfahren nach § 334 ASVG im Hinblick auf den Umfang des Aufwandersatzanspruchs des Sozialversicherungsträgers eine Bindung an den Bescheid über die Gewährung der Leistung besteht, wird, wenn der Schädiger an diesem Verfahren nicht beteiligt ist, nicht aufrecht erhalten.
Da der Bescheid jedoch die Verpflichtung des Sozialversicherungsträgers zur Erbringung von Leistungen und damit den zu tragenden Aufwand für den Sozialversicherungsträger gegenüber dem Geschädigten bindend regelt, entspricht die dort festgelegte Höhe grundsätzlich dem tatsächlichen Aufwand des Sozialversicherungsträgers im Hinblick auf die nach dem ASVG zu gewährenden Leistungen im Sinn des § 334 ASVG. Der Schädiger kann jedoch einwenden, dass dem Sozialversicherungsträger eine vorwerfbare Obliegenheitsverletzung bei Prüfung dieser Ansprüche zur Last zu legen ist, bei deren Einhaltung der Aufwand geringer gewesen wäre.
10. Im konkreten Fall hat der Beklagte erkennbar vorgebracht, dass die Klägerin ihrer Verpflichtung zur Prüfung des Umfangs der von ihr zu erbringenden Leistungen nicht entsprochen hat.
Da die Änderung der Rechtsprechung zur Bindung an den Bescheid der Unfallversicherung überraschend ist und das Verbot von Überraschungsentscheidungen auch für den Obersten Gerichtshof gilt, ist beiden Parteien die Gelegenheit zur Konkretisierung ihres Vorbringens zu dieser Frage zu geben. Vom Beklagten wird dabei insbesondere darzulegen sein, welche Maßnahmen die Klägerin vorwerfbar zu welchem konkreten Zeitpunkt verabsäumt hat und inwieweit dies (für welchen Zeitraum) zu einer Minderung der Ansprüche des Geschädigten geführt hat.
11. Der Revision war daher teilweise Folge zu geben. Hinsichtlich des Leistungsanspruchs war der Grund des Anspruchs mit Teilzwischenurteil als berechtigt festzustellen. Zur Höhe des Anspruchs und hinsichtlich des Feststellungsbegehrens war der Revision im Sinne des Aufhebungsantrags Folge zu geben.
12. Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 ZPO.
Textnummer
E128050European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBA00007.19S.0227.000Im RIS seit
14.05.2020Zuletzt aktualisiert am
24.06.2021