TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/4 W189 2225837-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.03.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

04.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W189 2225837-1/13E

W189 2225838-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX und 2.) XXXX , geb. XXXX , beide StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE - Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.10.2019, Zlen. 1.) 1212691300-181105395 und 2.) 122155100-190224989, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.01.2020, zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden unter der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs.3 BFA-VG bis 01.05.2020 vorübergehend unzulässig ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (in der Folge: BF1), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, gab an, im Dezember 2017 illegal in Österreich eingereist zu sein.

2. Sie stellte am 19.11.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Sie gab an, bei ihrem Lebensgefährten in Graz zu wohnen und im neunten Monat schwanger zu sein. Die BF1 habe diesen bereits 2016 in Tschetschenien kennen gelernt und lange via WhatsApp miteinander Kontakt gehabt. Sie sei 2007 in Tschetschenien erstmals gegen ihren Willen verheiratet worden und diese Ehe sei 2010 geschieden worden. Ihr Sohn sei nach tschetschenischem Recht bei ihrem Ex-Mann geblieben. 2016 hätten die Eltern der BF1 sie erneut gegen ihren Willen verheiraten wollen. Der für sie geplante Mann habe sie bedroht. Die BF1 habe sogar ihre Pulsadern aufgeschnitten, weil sie verzweifelt gewesen sei, dass sie sterben habe wollen. Die BF1 habe sich zu diesem Zeitpunkt schon in ihren jetzigen Lebensgefährten verliebt gehabt und daher beschlossen, zu ihm zu flüchten. Die ganze Familie sei gegen sie gewesen, nur ihre Mutter habe zu ihr gehalten und ihr bei der Flucht geholfen. Im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat fürchte die BF1 von ihren Brüdern umgebracht zu werden, weil sie vor ihnen geflüchtet sei.

3. Am 26.11.2018 wurde die BF1 von der Landespolizeidirektion Steiermark wegen unrechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet von der Einreise bis zur Stellung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz angezeigt.

4. Am 14.12.2018 wurde der Zweitbeschwerdeführer (in der Folge: BF2) als gemeinsamer Sohn der BF1 und ihres Lebensgefährten in Graz geboren.

5. Am 15.01.2019 wurde die BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die BF1 im Wesentlichen an, dass sie in Tschetschenien gegen ihren Willen heiraten hätte müssen. Bereits die erste Ehe sei eine Zwangsheirat gewesen. Damit sie nicht zum zweiten Mal zwangsverheiratet werde, sei sie nach Österreich gekommen.

6. Mit Schreiben vom 05.03.2019 wurde für den BF2 gem. § 17 Abs. 3 AsylG ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.

7. Am 02.10.2019 wurde die BF1 erneut durch das BFA niederschriftlich einvernommen.

8. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 21.10.2019 wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Beweiswürdigung betreffend die Feststellungen der Gründe für das Verlassen des Herkunftslandes wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorbringen der BF1 nicht glaubhaft sei und sich aus ihren Angaben massive Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten ergeben würden.

Der rechtlichen Beurteilung ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass sich bei Berücksichtigung sämtlicher Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes, der zu einer Zuerkennung des Status der Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten führen könnte, vorliegen. Ebenso bestehen keine Gründe für die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung.

9. Mit Schriftsatz vom 15.11.2019 erhoben die BF durch ihren Rechtsvertreter binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde. Vorgelegt wurden jeweils in Kopie der Mutter-Kind-Pass der BF1, die Reisepässe der Kinder des Lebensgefährten der BF1 aus einer früheren Beziehung sowie diese betreffende Obsorgeerklärungen und ein diesbezügliches Vaterschaftsanerkenntnis, die Geburtsurkunde des BF2, sowie zwei Gehaltsabrechnungen des Lebensgefährten der BF1.

10. Am 27.12.2019 legten die BF einen USB-Stick vor, der die Aufnahme einer vom Bruder der BF1 an diese gerichtete Drohung zum Inhalt habe.

11. Das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG) führte am 14.01.2020 eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an welcher die BF und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Die BF1 wurde ausführlich zu ihrer Person und den Fluchtgründen befragt, und es wurde ihr Gelegenheit gegeben, die Fluchtgründe umfassend darzulegen sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten und ihr mit der Ladung zugestellten Länderberichten Stellung zu nehmen.

12. Am 20.01.2020 brachten die BF durch ihren Rechtsvertreter eine Stellungnahme zu den Länderberichten ein.

13. Am 24.01.2020 legte das BFA eine Mitteilung des Standesamtes Graz über die Ermittlung der Ehefähigkeit der BF1 und ihres Lebensgefährten vor.

II. Für das Bundesverwaltungsgericht ergibt sich daraus wie folgt:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der BF1

Die Identität der BF1 steht fest.

Die BF1 ist eine russische Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an. Sie ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Sie ist muslimischen Glaubens. Sie spricht Russisch und Tschetschenisch. Sie hat zehn Jahre die Grundschule besucht und anschließend eine Schneiderlehre begonnen, aber nicht abgeschlossen. Sie spricht kein Deutsch.

Die BF1 ist in Gendergen, Republik Tschetschenien geboren und aufgewachsen. Ihr Vater ist verstorben, ihre Mutter, Geschwister und Verwandten leben in Tschetschenien. Die BF hat Kontakt zu ihrer Familie. Ein Kind der BF1 aus einer früheren Beziehung lebt bei dessen Vater in Tschetschenien.

Die BF1 hat im April 2017 XXXX , einem zu jenem Zeitpunkt asylberechtigten, nunmehr gem. § 45 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) dauerhaft aufenthaltsberechtigten russischen Staatsangehörigen, traditionell-muslimisch geheiratet. Sie hat einen Sohn, den BF2, mit ihm. Die BF1 ist schwanger. Der Geburtstermin wurde mit 27.02.2020 errechnet.

Die BF1 reiste am 20.12.2017 mit einem polnischen Schengenvisum legal in Österreich ein, war nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visums illegal im Bundesgebiet aufhältig und stellte am 19.11.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Sie leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankung.

Sie ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur Person des BF2

Die Identität des BF2 steht fest. Er ist als gemeinsamer Sohn der BF1 und ihres Lebensgefährten in Graz geboren. Er ist gesund.

1.3. Zum Fluchtvorbringen der BF

Der BF1 drohte in Tschetschenien keine Zwangsverheiratung. Sie wird nicht von Familienangehörigen und dem Mann namens XXXX , mit dem sie verheiratet habe werden sollen, bedroht.

Der BF2 hat keine eigenen Fluchtgründe.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

Aus den ins Verfahren eingeführten und im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 30.09.2019 (in der Folge: LIB) zitierten Länderberichten zur Lage in der Russischen Föderation ergibt sich Folgendes:

1.4.1. Sicherheitslage in Tschetschenien

In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019).

Quellen:

-

Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

1.4.2. Allgemeine Menschenrechtslage in Tschetschenien

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 22.8.2019

1.4.3. Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem von Seiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Ko-Existenz dreier Rechtssysteme in der Region - dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht ("Adat") und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach "Traditionen" als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramzan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer "Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit" (ÖB Moskau 12.2018). Die Heirat einer 17-Jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).

Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Die Behandlung von Frauen, wie sie heute existiert, soll aber nie eine Tradition in Tschetschenien gewesen sein. Frauen sind sowohl unter islamischem Recht als auch im Adat hochgeschätzt (EASO 9.2014). Allerdings ist die Realität in Tschetschenien, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet und die Situation im Allgemeinen für Frauen schwierig ist. Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014, vgl. Welt.de 14.2.2017). Diese Entwicklungen erfolgten in den letzten Jahren. Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird auch berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst - obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont - sich in letzter Zeit eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).

Gleichberechtigung ist in den islamisch geprägten Republiken ein kaum diskutiertes Thema. Frauenrechtsorganisationen engagieren sich, um dies zu ändern, doch es fehlt die Unterstützung durch Behörden. Die traditionellen kaukasischen Werte und Normen führen dennoch dazu, dass Frauenrechte im Nordkaukasus öfter verletzt würden als in anderen Regionen Russlands. Für Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien sind starke Traditionen durchaus charakteristisch. Weitaus weniger ausgeprägt sind sie in Nordossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien. Auch übt die Religion ihren Einfluss aus, denn die Rechte der Frau im Islam sind anders definiert als die Frauenrechte in der russischen Verfassung. In Tschetschenien wird Frauen beispielsweise vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden haben. Seit 2008 dürfen sie Ämter und Bildungseinrichtungen nur betreten, wenn sie einen langen Rock tragen und Arme und Haar bedeckt sind (RBTH 22.6.2015).

Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017). Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich jedoch der Unterstützung nordkaukasischer Frauen (ÖB Moskau 12.2018).

Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht einmal als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigung ist in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet. Vergewaltigungen passieren auch in Polizeistationen. Vergewaltigung ist ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an, und sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie würde isoliert und stigmatisiert werden, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuld gesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014).

Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art - durch einen Imam - zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Staatsbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 28.8.2019

-

EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautenführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, Zugriff 28.8.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 28.8.2019

-

RBTH - Russia beyond the headlines (22.6.2015): Frauenrechte im Kaukasus: Zwangsverheiratung und Ehrenmord, https://de.rbth.com/gesellschaft/2015/06/22/frauenrechte_im_kaukasus_zwangsverheiratung_und_ehrenmord_34063, Zugriff 28.8.2019

-

Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein - das ist eine Last,

https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html, Zugriff 28.8.2019

1.4.4. Grundversorgung im Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden noch immer zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 8.2019a, vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die Lage im Nordkaukasus verbessert, wenngleich es verfrüht erscheint, von einer nachhaltigen Stabilisierung zu sprechen. Vor allem wirtschaftliche Situation in Tschetschenien hat sich aufgrund massiver Transferzahlungen aus dem föderalen Budget in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2018).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im Juni 2019 bei 27.443 Rubel [ca. 388 Euro] (Chechenstat 2019), landesweit bei

48.453 Rubel [ca. 686 Euro] im zweiten Quartal 2019 (GKS 16.8.2019). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im August 2019 bei 12.440 Rubel [ca. 176 Euro] (Chechenstat 2019), landesweit im ersten Halbjahr 2019 bei 14.135 Rubel [ca. 200 Euro] (GKS 30.7.2019). Das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 in Tschetschenien lag für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 10.967 Rubel [ca. 155 Euro], für Pensionisten bei 8.553 Rubel [ca. 121 Euro] und für Kinder bei 10.552 Rubel [ca. 150 Euro] (Chechenstat 2019). Landesweit lag das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.553 Rubel [ca. 163 Euro], für Pensionisten bei

8.894 Rubel [ca. 126 Euro] und für Kinder bei 10.585 Rubel [ca. 150 Euro] (RIA Nowosti 23.7.2019).

Korruption ist nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Es gibt glaubwürdige Berichte, wonach öffentliche Bedienstete einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen müssen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die russische Tageszeitung "Kommersant" den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 12.2018).

Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grozny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter, und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 29.8.2019

-

Chechenstat (2019): (Amtliche Statistiken), http://chechenstat.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_ts/chechenstat/ru/statistics/indicators/, Zugriff 29.8.2019

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (5.2019a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 29.8.2019

-

GKS.ru (16.8.2019): (durchschnittliches monatliches Gehalt), http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/trud/sr-zarplata/t1.docx, Zugriff 5.9.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 29.8.2019

-

RIA Nowosti (23.7.2019): I 2019 (Das Arbeitsministerium hat das Existenzminimum für das erste Quartal 2019 berechnet), https://ria.ru/20190723/1556815859.html, Zugriff 5.9.2019

1.4.5. Sozialbeihilfen

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen:

dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Rentenfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Altersrenten gezahlt. Das Rentenalter wird mit 60 Jahren bei Männern und bei 55 Jahren bei Frauen erreicht. Da dieses Modell aktuell die Renten nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Rentenreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Renteneintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten finden Demonstrationen gegen die geplante Rentenreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Renteneintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Rente gehen (GIZ 8.2019c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 8.2019c).

Personen im Rentenalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Altersrente. Dies gilt auch für Rückkehrende. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2018).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2017). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, denen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:

-

Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);

-

Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);

-

Familien mit geringem Einkommen;

-

Studenten, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015).

Familienhilfe:

Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.120 Rubel (ca. 44€). Bei einem zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.131 Rubel (ca. 87€). Der maximale Betrag liegt bei

22.120 Rubel (ca. 313€) (IOM 2018).

Mutterschaft:

Mutterschaftsurlaub kann man bis zu 140 Tage beantragen und erhält weiterhin 100% des Lohnes (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann dieser auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40 Stunden Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130€) und der Maximalbetrag bei 61.375 Rubel (ca. 840€) (IOM 2018).

Mutterschaftskapital:

Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich - innerhalb von zehn Jahren stiegen sie inflationsbereinigt von 250.000 auf 453.026 Rubel, also von 4.152€ auf mehr als 7.500€ (RBTH 22.4.2017). Ab dem 1.1.2020 wird das Mutterschaftskapital in Russland erhöht. Familien, in denen das zweite Kind geboren wird, erhalten 470.000 Rubel (ca. 6.100€) statt der derzeitigen 453.000. Dies teilte der Minister für Arbeit und soziale Sicherheit mit. Das Ministerium beabsichtigt ein Programm zur Verlängerung des Mutterschaftsgeldes bis 2024 zu entwickeln (Russland Capital 7.6.2019). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil das zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017).

Behinderung:

ArbeitnehmerInnen mit einem Behindertenstatus haben das Recht auf eine Behindertenrente. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Diese wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Rentenalters (IOM 2018).

Arbeitslosenunterstützung:

Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindestlohnhöhe pro Monat beträgt 850 Rubel (12€) und der Maximallohn 4.900 Rubel (70€). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2018).

Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen:

BürgerInnen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (min. 12%). Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Im Jahr 2018 lag dieser Zuschuss bei 453.026 Rubel (ca 6.618€). Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei 3.200 Rubel (45€). In allen Regionen der Russischen Föderation gibt es viele Wohnungen und Häuser (IOM 2018).

Quellen:

-

BDA - Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (5.2019c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 30.8.2019

-

IOM - International Organisation of Migration (2018):

Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2, Zugriff 7.8.2019

-

RBTH - Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881, Zugriff 30.8.2019

-

Russland Capital (7.6.2019): Das Mutterschaftskapital wird auf 470.000 Rubel erhöht,

https://www.russland.capital/das-mutterschaftskapital-wird-auf-470-000-rubel-erhoeht, Zugriff 30.8.2019

1.4.6. Medizinische Versorgung in Tschetschenien

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung, und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).

Quellen:

-

BDA - Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

-

DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 2.9.2019

1.4.7. Rückkehr

Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Der Rückübernahme geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rücknahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Person von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Wenn die zu übernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rücknahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation mussten sich bislang alle Rückkehrer beim Föderalen Migrationsdienst (FMS) ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russische Staatsangehörige, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. 2016 wurde der FMS allerdings aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert. Die Zusammenarbeit zwischen föderalen und regionalen Behörden bei der innerstaatlichen Migration scheint verbesserungsfähig. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 12.2018).

Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft vor allem die im Vergleich zum Rest Russlands großen wirtschaftlichen Probleme sowie die damit einhergehende Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus. Hinzu kommen bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, zu deren Bewältigung zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützend tätig sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt. Aus informierten Kreisen mit direktem Praxisbezug war zu erfahren, dass Rückkehrer gewöhnlich nicht mit Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert sind (ÖB Moskau 12.2018).

Es besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern in den Nordkaukasus. Vereinzelt gibt es Fälle von Tschetschenen, die im Ausland einen negativen Asylbescheid erhalten haben, in ihre Heimat zurückgekehrt sind und nach ihrer Ankunft unrechtmäßig verfolgt worden sind. Das unabhängige Informationsportal Caucasian Knot schreibt in einem Bericht vom April 2016 von einigen wenigen Fällen, in denen Tschetschenen, denen im Ausland kein Asyl gewährt worden ist, nach ihrer Abschiebung drangsaliert worden wären (ÖB Moskau 12.2018). Die Stellung eines Asylantrags im Ausland führt aber nicht prinzipiell zu einer Verfolgung. Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufig willkürlichem Vorgehen der Polizei gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt (AA 13.2.2019).

Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen StaatsbürgerInnen Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an (IOM 2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

-

IOM - International Organisation of Migration (2018):

Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2, Zugriff 7.8.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 7.8.2019

1.5. Zur Situation der BF im Falle einer Rückkehr

Den BF ist die Rückkehr in die Russische Föderation - etwa in den Heimatort Gendergen - zumutbar.

Im Falle einer Rückkehr würden sie in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihnen nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden.

Sie laufen nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat sind die BF nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.

1.6. Zur Situation der BF in Österreich

Die BF1 ist am 20.12.2017 mit einem polnischen Schengenvisum legal in Österreich eingereist und stellte am 19.11.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die BF1 bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung und geht keinem Erwerb nach.

Die BF1 spricht nicht Deutsch, hat bislang keinen Deutschkurs besucht und ist auch für keinen Deutschkurs angemeldet. Sie besucht auch keine sonstigen Kurse oder Ausbildungen.

Die BF1 hat im April 2017 nach traditionell-muslimischem Ritus den damals asylberechtigten XXXX in Tschetschenien geheiratet. Ein gemeinsamer Haushalt in Österreich besteht spätestens seit 20.11.2018. Der gemeinsame Sohn, BF2, wurde am 14.12.2018 in Graz geboren. Ebenso im gemeinsamen Haushalt leben die beiden Kinder des Lebensgefährten der BF1 aus einer früheren Beziehung, wobei die BF1 nicht obsorgeberechtigt ist. Darüber hinaus verfügt die BF1 über keine weiteren, familiären oder sonstig verwandtschaftlichen bzw. familienähnliche, sozialen Bindungen im Bundesgebiet.

Die BF1 hat keine ehrenamtlichen Tätigkeiten ausgeübt und ist nicht Mitglied in einem Verein, einer religiösen Gruppe oder einer sonstigen Organisation.

Der BF2 hat keine über die eigenen Eltern hinausgehenden Bindungen in Österreich.

Es bestehen keine weiteren, substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens in Österreich.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person der BF1

2.1.1. Die Identität konnte aufgrund der Vorlage eines russischen Auslandsreisepasses, der im Zuge einer kriminaltechnischen Untersuchung als echt qualifiziert wurde, festgestellt werden.

2.1.2. Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF1 sowie ihrer tschetschenischen Herkunft gründen sich auf ihren insoweit glaubhaften Angaben in den bisherigen Befragungen sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG bzw. ihren Kenntnissen der russischen und tschetschenischen Sprachen. Die Feststellungen über ihren Schulbesuch und ihre abgebrochene Schneiderausbildung ergeben sich ebenso aus ihren glaubhaften Angaben. Die Feststellung über das Fehlen von Deutschkenntnissen ergibt sich aus ihrem Unvermögen, sich in der mündlichen Verhandlung auf Deutsch zu verständigen, und ihrer entsprechenden Aussage, Deutsch nicht zu verstehen und keine Kurse zu besuchen.

2.1.3. Die Feststellungen zum Geburts- und Wohnort, sowie zum Ableben des Vaters und zum Aufenthalt der Mutter, Geschwister und Verwandten sowie ihres Kindes aus einer früheren Ehe stützen sich auf die glaubhaften Angaben der BF1.

2.1.4. Nicht glaubhaft war die Angabe der BF1, nur mit ihrer Mutter und gelegentlich ihren Schwestern in Kontakt zu stehen (Niederschrift der mündlichen Verhandlung (in der Folge: NSV) S. 6). Dies folgt aus der Unglaubwürdigkeit ihres Fluchtgrundes (s. Punkt 2.3.), weshalb kein Grund ersichtlich ist, dass kein Kontakt mit den Brüdern bestünde.

2.1.5. Dass die BF1 im April 2017 in Tschetschenien traditionell-muslimisch geheiratet hat, ergibt sich aus ihren glaubhaften Angaben (NSV S. 8 und 10). Dass ihr Lebensgefährte zu jenem Zeitpunkt noch asylberechtigt war und nunmehr über ein Daueraufenthaltsrecht gem. § 45 NAG verfügt, folgt aus einer Abfrage des Zentralen Fremdenregisters. Die Feststellung, dass der BF2 der gemeinsame Sohn der BF1 und ihres Lebensgefährten ist und die BF1 erneut schwanger ist, folgt aus der vorgelegten Geburtsurkunde (AS 3 des BF2) und dem vorgelegten Mutter-Kind-Pass (AS 486ff).

2.1.6. Die Feststellung über die legale Einreise am 20.12.2017 ergibt sich aus einer Zu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten