TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/30 I419 2224010-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.10.2019
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Entscheidungsdatum

30.10.2019

Norm

AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs7
AuslBG §3 Abs2
AuslBG §3 Abs8
BFA-VG §9 Abs2
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 8
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I419 2224010-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. NIGERIA, vertreten durch RA Edward W. DAIGNEAULT, gegen den Bescheid des Bundeamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29.08.2019, Zl. XXXX, zu Recht:

A) 1. Der Beschwerde wird gemäß § 55 Abs. 1 und 2 AsylG 2005

teilweise stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben. Ihnen wird der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

2. Ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" wird Ihnen nicht erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG betreffend

Spruchpunkt A) 1. nicht zulässig, betreffend Spruchpunkt A) 2. zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin beantragte am 03.09.2018 persönlich beim BFA die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus". Am 24.10.2018 zog sie diesen Antrag während ihrer niederschriftlichen Einvernahme dazu zurück. Eine Eingabe des rechtsfreundlichen Vertreters der Beschwerdeführerin vom 22.02.2019 enthält einen "Antrag auf Bescheiderlassung".

Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I) und erließ wider die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II). Unter einem stellte es fest, dass deren Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III) und die Frist für ihre freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft betrage (Spruchpunkt IV).

Beschwerdehalber wird vorgebracht, die Beschwerdeführerin sei Mutter eines Kindes österreichischer Staatsbürgerschaft und für dieses sorgepflichtig. Sie sorge für dessen Unterhalt und sei dessen einzige Bezugsperson.

Aufgrund dessen sei sie nicht nur bereits seit zehn Jahren in Österreich, sondern führe auch ein Familienleben mit einem österreichischen Staatsbürger, sodass eine Rückkehrentscheidung dauernd unzulässig sei. Ihr sei sohin eine Aufenthaltsbewilligung nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 zu erteilen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige Nigerias und war mit einem österreichischen Staatsbürger ab 30.01.2008 bis zu dessen Tod am 21.10.2016 verheiratet. Sie hat wie dieser in Frankreich gelebt, hatte aufgrund der Ehe einen bis 09.07.2011 gültigen französischen Aufenthaltstitel, ist seit 09.10.2009 durchgehend in Österreich mit Hauptwohnsitz gemeldet und verfügt über nachgewiesene Deutschkenntnisse auf Niveau A2. Sie hat keine aufrechte Aufenthaltsbewilligung für einen Staat des Unionsgebiets inne.

Die Beschwerdeführerin gebar am 05.06.2014 einen Sohn, der infolge ehelicher Geburt österreichischer Staatsbürger ist. Dieser wohnt mit ihr im gemeinsamen Haushalt in Wien. Sie ist ferner Mutter eines im Herkunftsstaat lebenden, unehelichen Kindes. Ihre Eltern sind verstorben, andere Familienangehörige leben noch dort.

Der genannte Sohn stammt nach den Angaben der Beschwerdeführerin biologisch nicht von ihrem verstorbenen Mann ab, sondern von einem Staatsangehörigen Nigerias. Ihr Mann hat die Vaterschaft zu ihrem Sohn nicht gerichtlich bestritten.

Der Sohn besucht den Kindergarten und bezieht eine Waisenpension von monatlich € 144,17. Der Beschwerdeführerin kommen die Pflege und die Obsorge für ihn zu. Sonntags besucht sie den katholischen Gottesdienst. Weitere Familienangehörige im Inland hat sie nicht. Außer diesen beiden Personen ist noch eine 32-jährige Staatsangehörige Kenias in derselben Wohnung gemeldet.

Als der Gatte der Beschwerdeführerin starb, führte er mit der Beschwerdeführerin kein gemeinsames Familienleben. Er hatte nie einen Wohnsitz mit ihr im Inland geteilt und nach eigenen Angaben die Ehe nicht vollzogen. Nach seinen Angaben hatte er gegen Geld in die Eheschließung eingewilligt.

Die Beschwerdeführerin hat am 22.08.2014 eine Aufenthaltskarte als Dokumentation ihres Aufenthaltsrechts als Angehörige ihres Gatten beantragt, worüber der LH von Wien wegen Vorliegens einer Aufenthaltsehe einen zurückweisenden Bescheid erließ, den das VwG Wien am 31.03.2016 bestätigte. Eine Revision dagegen wies der VwGH zu Ra 2016/22/0058 zurück.

Einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel als Familienangehörige ihres Sohnes hat der LH von Wien am 29.11.2017 abgewiesen, da es im Hinblick auf die Antragsmöglichkeit nach §§ 54 ff AsylG 2005 nicht nötig sei, die Angehörigenaufzählung des § 2 Abs. 1 Z. 9. NAG unionsrechtskonform erweitert anzuwenden. Der abweisende Bescheid wurde rechtskräftig.

Die strafrechtlich unbescholtene Beschwerdeführerin war von Anfang 2015 bis Anfang 2018 mit Ausnahme weniger Tage vollversichert unselbständig beschäftigt. Anschließend hat sie als Gewerbeinhaberin bis Ende Mai 2018 ein Kaffeehaus betrieben. Derzeit geht sie keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie verfügt über eine Einstellungszusage eines Restaurants und fünf Unterschriften auf gleichlautenden Empfehlungsschreiben, deren Urheber Anschriften in Wien und Niederösterreich sowie in Österreich nicht gebräuchliche Namen haben.

Einen Nachweis über Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich hat sie nicht erbracht.

Am 17.07.2018 hat die LPD Wien wider die Beschwerdeführerin ein Straferkenntnis wegen unrechtmäßigen Aufenthalts erlassen, welches das VwG Wien bestätigte, der VwGH jedoch am 19.09.2019 zu Ra 2019/21/0184-5 behob. Das VwG habe bei der zur Prüfung eines Strafausschließungsgrundes vorgenommenen Interessensabwägung für eine hypothetische aufenthaltsbeendende Maßnahme den familiären Bindungen der Beschwerdeführerin zu ihrem Sohn nicht das ihnen nach der Rechtsprechung des VwGH zukommende Gewicht beigemessen.

2. Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die weiteren Feststellungen ergeben sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Inhalt der Verwaltungsakten und jener des Gerichts. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) sowie den Sozialversicherungsdaten wurden ergänzend eingeholt und die angeführten in den fremdenrechtlichen Verfahren der Beschwerdeführerin ergangenen Entscheidungen eingesehen.

Aus den Angaben der Beschwerdeführerin und den beim Polizeieinsatz am 24.04.2019 in deren Betrieb vorgefundenen Urkunden (AS 157) ergibt sich, dass diese keine Aufenthaltsbewilligung für einen Staat des Unionsgebiets innehat.

3. Rechtliche Beurteilung:

Die Eingabe vom 22.02.2019 ("Antrag auf Bescheiderlassung") reicht mit Blick auf die fehlende Erklärung des Rechtsanwalts, dass ein neuerlicher Antrag auf Erteilung der Aufenthaltsbewilligung gestellt werde, als Basis für die vom BFA gewählte abweisende Entscheidung nicht hin, weil Letzterer die zuvor erfolgte Zurückziehung entgegenstand.

Die Zurückziehung des Antrags im Sinne des § 13 Abs. 7 AVG als prozessuale Willenserklärung ist empfangs-, jedoch nicht annahmebedürftig. Sie wird mit Einlangen bei der belangten Behörde wirksam und damit auch unwiderruflich. (VwGH 02.02.2012, 2011/04/0017 mwN)

Die Zurückziehung eines Antrags auf einen Aufenthaltstitel nach § 56 AsylG 2005 bewirkt den Wegfall der Zuständigkeit der Behörde zur Erlassung des Bescheides und damit (allenfalls nachträglich) dessen Rechtswidrigkeit (VwGH 31.01.2019, Ra 2018/22/0086 mwN). Da das BFA im Gegensatz dazu Bescheide nach § 55 AsylG 2005 nicht nur auf Antrag zu erlassen hat, sondern auch von Amts wegen, blieb das BFA für die Absprache über das Zustehen eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 ungeachtet der Zurückziehung zuständig. Es hat nach Prüfung der Rückkehrentscheidung auch den diesbezüglichen Anspruch beurteilt, wenngleich es von Amts wegen einen Ausspruch darüber nur im Fall der dauernden Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung vorzunehmen gehabt hätte (VwGH 29.05.2019, Ra 2019/20/0035 Rz 11 mwN).

Demnach ist die in Spruchpunkt I ausgesprochene Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 als ein Vorgehen des BFA von Amts wegen nicht unter dem Aspekt der Zuständigkeit, sondern dem Inhalt nach auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0187 Rz 14 aE).

Zu A) Teilstattgebung und Erteilung eines Aufenthaltstitels

3.1 Das VwG Wien hat in der Bestätigung der Versagung des Aufenthaltstitels der Beschwerdeführerin gegenüber (29.11.2017, VWG-151/081/11756/2017-1) die Ansicht vertreten, dass deren Sohn nur bis zur rechtskräftigen Feststellung der Aufenthaltsehe als österreichischer Staatsbürger zu gelten (gehabt) habe.

Offenbar war damit die Entscheidung vom 31.03.2016 gemeint (VGW- 151/016/11360/2015-17), mit welcher das VwG Wien die Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt hatte (wogegen die Revision zu Ra 2016/22/0058 erfolglos blieb).

Diese Ansicht des VwG vom 29.11.2017 hat der VwGH im späteren Verfahren betreffend die Bestrafung der Beschwerdeführerin wegen unrechtmäßigen Aufenthalts verworfen (19.09.2019, Ra 2019/21/0184-5, Rz 4 aE).

Die Entscheidung der vorliegenden Rechtssache hat also auf der von Gesetzes wegen bestehenden österreichischen Staatsbürgerschaft des Sohns der Beschwerdeführerin zu basieren.

3.2 Weiters hat der VwGH dort (Ra 2019/21/0184 Rz 5 mwN) ausgeführt, dass - weil gegen die Beschwerdeführerin keine rechtskräftige aufenthaltsbeendende Maßnahme vorlag - das VwG mittels einer Abwägung der Interessen der Beschwerdeführerin im Sinn des Art. 8 EMRK an der Aufrechterhaltung ihrer privaten und familiären Bindungen in Österreich gegenüber den entgegenstehenden öffentlichen Interessen an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zu entscheiden hat, ob einer solchen - hypothetischen - Maßnahme das Überwiegen der Interessen am Verbleib entgegenstünde.

3.3 Nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z. 1), und dazu noch in Z. 2 genannte Integrationsmerkmale vorliegen. Wenn nur die Voraussetzung der Z. 1 erfüllt ist, dann gebührt gemäß Abs. 2 eine "Aufenthaltsberechtigung".

Beschwerdehalber wurde das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach § 55 Abs. 1 AsylG behauptet, also für eine "Aufenthaltsberechtigung plus", sodass die erwähnten Integrationsmerkmale als zusätzliche Voraussetzung vorliegen müssten, und zwar entweder die Ausübung einer erlaubten Erwerbstätigkeit im Entscheidungszeitpunkt, mit der die Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird, oder die Erfüllung des Moduls I der Integrationsvereinbarung. Letzteres würde nach § 11 Abs. 2 IntG fallbezogen außer den Deutschkenntnissen (auf Niveau A2) den Nachweis der Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich verlangen.

Da der letztgenannte Nachweis nicht erbracht wurde, ist das Vorliegen der Voraussetzungen für die "Aufenthaltsberechtigung" nach § 55 Abs. 2 AsylG 2005 zu prüfen, da diese gegebenenfalls von Amts wegen zu erteilen ist (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0187 Rz 14 aE).

3.4 Bei der Beurteilung, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325 mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nehmen die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247).

Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung ferner davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels ausnahmsweise nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120 mwN).

Der VwGH (zum Folgenden: 17.10.2016, Ro 2016/22/0005 mwN) hat unter anderem folgende Umstände - meist in Verbindung mit anderen Aspekten - als Anhaltspunkte dafür anerkannt, dass ein Fremder die in Österreich verbrachte Zeit zumindest in gewissem Ausmaß genützt hat, um sich zu integrieren: Die Erwerbstätigkeit des Fremden, das Vorhandensein einer Beschäftigungsbewilligung, eine Einstellungszusage, das Vorhandensein ausreichender Deutschkenntnisse, familiäre Bindungen zu in Österreich lebenden, aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen, ein Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich bzw. die Vorlage von Empfehlungsschreiben, eine aktive Teilnahme an einem Vereinsleben, freiwillige Hilfstätigkeiten, ein Schulabschluss bzw. eine gute schulische Integration in Österreich oder der Erwerb des Führerscheins.

Die Beschwerdeführerin war jahrelang unselbständig und dann mehrere Monate selbständig erwerbstätig. Sie hat eine Einstellungszusage und besucht den Gottesdienst. Ihre mit A2 zertifizierten Deutschkenntnisse reichen für all das sichtlich aus. Sie ist ferner Mutter eines hier lebenden, 5-jährigen Österreichers und hat Empfehlungsschreiben vorgewiesen.

Demnach kann keine Rede davon sein, dass sie die Aufenthaltsdauer überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sodass - trotz des im Herkunftsland verbliebenen weiteren Kindes der Beschwerdeführerin - von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Schon aus diesem Grund erweist sich eine Rückkehrentscheidung als unzulässig. Der VwGH hat darüber hinaus auch für den Fall eines Angewiesenseins eines Kindes mit österreichischer Staatsbürgerschaft auf die Pflege und Obsorge durch seine Mutter ausgesprochen, dass eine aufenthaltsbeendigende Maßnahme gegen die Mutter eine Verletzung nach Art. 8 EMRK darstellen kann, wenn dem Kind eine Ausreise mit der Mutter nicht zumutbar wäre. (27.03.2007, 2006/21/0376 mwN)

Zu diesem Angewiesensein ist später auch das Urteil des EuGH vom 15.11.2011, C- 256/11, Dereci u. a. gegen BMI) ergangen, welches im Folgenden berücksichtigt ist.

3.5 Mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft von Gesetzes wegen aufgrund der ehelichen Geburt des Beschwerdeführers wurde dieser zugleich Unionsbürger.

Wie der VwGH (unter Hinweis auf Dereci u. a. gegen BMI) ausgesprochen hat (21.03.2013, 2011/09/0142 mwN), verwehrt es zwar das Unionsrecht einem Mitgliedstaat nicht, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn dieser dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Unionsbürger ist, sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, allerdings nur, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte verwehrt wird, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht. Zur Sicherung des Kernbestands sind sowohl das Recht auf Aufenthalt als auch das auf eine Arbeitserlaubnis jener einem Drittstaat angehörenden Person zu gewährleisten, auf deren Unterhalt die betroffenen Unionsbürger angewiesen sind.

Daher ist zu prüfen, ob die Verweigerung gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, dazu führt, dass dem Familienangehörigen der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird, was der Fall ist, wenn ein Kind de facto gezwungen wäre, seine Mutter in deren Herkunftsstaat zu begleiten. (VwGH 31.05.2017, Ra 2016/22/0089; 17.10.2016, Ra 2016/22/0078)

Im Hinblick auf das Ausmaß der Waisenrente, das Alter des Sohnes und die Tatsache, dass er bei der Beschwerdeführerin wohnt, muss davon ausgegangen werden, dass er auf den von ihr geleisteten Unterhalt nicht verzichten kann.

Wird nun ferner berücksichtigt, dass die Beschwerdeführerin keine Aufenthaltsberechtigung für einen Staat der Union innehat, ergibt sich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dieser und ihrem Sohn, das dazu führen würde, dass der Sohn als Unionsbürger gezwungen wäre, sie im Fall einer Aufenthaltsbeendigung zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. (Vgl. 25.07.2019, Ra 2019/22/0017)

Demnach ist der Beschwerdeführerin sowohl das Recht auf Aufenthalt als auch das auf eine Arbeitserlaubnis zu gewährleisten.

3.6 In § 3 Abs. 2 AuslBG sind die alternativ erforderlichen Voraussetzungen aufgezählt, unter denen ein Ausländer eine Beschäftigung antreten und ausüben darf. Dazu gehören (u. a.) die Erteilung eine Beschäftigungsbewilligung oder Entsendebewilligung oder der Besitz einer "Aufenthaltsberechtigung plus", nicht aber der einer "Aufenthaltsberechtigung".

Nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist Drittstaatsangehörigen allerdings wie oben ausgeführt, nur dann eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn die in Z. 2 genannte Integrationsmerkmale vorliegen. Da die Beschwerdeführerin den Nachweis über Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich nicht erbrachte, gebührt ihr nach Abs. 2 eine "Aufenthaltsberechtigung".

Mit dieser ist nach der Literatur (Deutsch/Nowotny/Seitz, AuslBG2 [2018] § 4 Rz 11) die aufenthaltsrechtliche Voraussetzung einer Beschäftigungsbewilligung nach § 4 AuslBG gegeben, also ein beschränkter Arbeitsmarktzugang, im Gegensatz zum unbeschränkten mit einer "Aufenthaltsberechtigung plus", eine solche Bewilligung aber erforderlich (Szymanski in Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht, Anm. 2 zu § 55 AsylG 2005).

3.7 Zum vorliegenden Sachverhalt ist allerdings zu fragen, ob die Beschwerdeführerin überhaupt den Bestimmungen des AuslBG unterliegt. In § 3 Abs. 8 AuslBG ist dem AMS aufgetragen, Ausländern, die gemäß § 1 Abs. 2 oder aufgrund einer Verordnung gemäß § 1 Abs. 4 AuslBG von dessen Geltungsbereich ausgenommen sind, auf Antrag eine Bestätigung darüber auszustellen.

Wie der VwGH dazu ausgeführt hat, treffen die Überlegungen, wonach Drittstaatsangehörigen, obwohl das abgeleitete Recht betreffend das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen nicht anwendbar ist, ausnahmsweise das Aufenthaltsrecht nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, auch auf die Ausstellung einer Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 AuslBG zu. (17.12.2013, 2013/09/0153; 21.03.2013, 2011/09/0142)

Auf diesem Weg wird die Beschwerdeführerin also in den Genuss des Arbeitsmarktzugangs gelangen, sodass keine Notwendigkeit besteht, auf Basis unionsrechtlicher Erwägungen die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erwägen.

3.8 Im Ergebnis ist der Beschwerde demnach teilweise stattzugeben, nämlich indem der Beschwerdeführerin zwar kein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus", aber eine "Aufenthaltsberechtigung" erteilt wird.

Gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 sind solche Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen. Dies war sohin zusätzlich auszusprechen, um damit die Basis für die Ausstellung durch das BFA nach § 58 Abs. 7 AsylG 2005 zu schaffen.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist betreffend die Teilstattgabe und die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung" gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zur Bedeutung und Berücksichtigung von Integrationsmerkmalen bei Entscheidungen nach § 55 AsylG 2005 oder zur Einräumung eines Aufenthaltsrechts in Konstellationen, die den Kernbereich der Unionsbürgerrechte tangieren.

Die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Die Revision ist betreffend die Nichterteilung der "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, zumal es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur folgenden Frage fehlt:

Ist es in Fällen, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines österreichischen Staatsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft des Österreichers ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, und der Drittstaatsangehörige nur die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 erfüllt, unionsrechtlich dennoch geboten, Letzterem eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, oder wird dem Unionsrecht in einem solchen Fall bereits dadurch Genüge getan, dass diesem eine Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 AuslBG zu erteilen ist?

Dieses Gericht hat in einem anderen Beschwerdeverfahren entschieden, dass die Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 AuslBG kraft Unionsrecht auszustellen ist, um das Recht des Drittstaatsangehörig auf eine Arbeitserlaubnis zu gewährleisten, auf dessen Unterhalt die betroffenen Unionsbürger angewiesen sind, auch wenn die Voraussetzung des § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG (Arbeitnehmerfreizügigkeit aufgrund eines Rechtsaktes der Europäischen Union) nicht vorliegt. (BVwG 27.10.2015, W164 2017210-1/12E)

Es ist damit davon auszugehen, dass die Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage über den Einzelfall hinausreicht.

4. Zum Unterbleiben einer Verhandlung

Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint, konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben, zumal ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde (vgl. VfGH 14.03.2012, Slg. 19632).

Das Gericht musste sich auch keinen persönlichen Eindruck von der Beschwerdeführerin verschaffen, da es sich um einen eindeutigen Fall in dem Sinne handelt, dass für den Fremden kein günstigeres Ergebnis entsteht, wenn der persönliche Eindruck ein positiver ist (vgl. VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0422 mwH).

Auch der Sachverhalt ist aktuell, zumal zwischen der Einbringung der Beschwerde durch den Anwalt der Beschwerdeführerin (ohne Beantragung einer Verhandlung) rund ein Monat vergangen ist. Eine mündliche Verhandlung konnte daher unterbleiben.

Schlagworte

Aufenthaltsbeendigung, Aufenthaltsberechtigung plus, befristete
Aufenthaltsberechtigung, Integration, Interessenabwägung,
öffentliche Interessen, Privat- und Familienleben, private
Interessen, Revision teilweise zulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:I419.2224010.1.00

Zuletzt aktualisiert am

12.05.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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