Entscheidungsdatum
14.02.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I419 2126887-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX alias XXXX, StA. IRAK, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 19.04.2016, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A) 1. Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben. Gemäß § 8 Abs. 1
AsylG 2005 wird XXXX der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
2. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird ihm eine für ein Jahr gültige befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
3. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
4. Die Spruchpunkte II, III und IV des angefochtenen Bescheids werden aufgehoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste am 03.09.2015 illegal ein und beantragte von der Polizei aufgegriffen internationalen Schutz. Er ängstige sich vor dem "IS" und dem Krieg. Nach 6,5 Monaten gab er an, von irgendwelchen Milizen wegen seiner Haartracht bedroht worden zu sein. Man werde ihn umbringen, wenn er die Haare nicht schneide.
2. Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers betreffend die Status des Asyl- und des subsidiär Schutzberechtigten bezogen auf Irak ab (Spruchpunkte I und II), erteilte keinen Aufenthaltstitel "aus berücksichtigungswürdigen Gründen" "gemäß §§ 57 und 55 AsylG", erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass dessen Abschiebung in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III) und die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft beträgt (Spruchpunkt IV).
3. Beschwerdehalber wird vorgebracht, im Herkunftsstaat sei der Beschwerdeführer durch seinen betont westlichen Lebensstil aufgefallen. Er habe sich regelmäßig mit gleichgesinnten Jugendlichen getroffen, um auf Partys Alkohol zu trinken und Musik zu hören, sich Ohrringe stechen lassen und seine Haare lang getragen. Daher sei er von paramilitärischen Gruppen wegen seiner religiösen Gesinnung verfolgt worden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Aufenthalt des Beschwerdeführers ist überwiegend durch die Verfahrensdauer begründet, die deutliche, im Beschwerdeverfahren auch überlange Verzögerungen beinhaltet, die den Behörden zurechenbar sind.
Der Beschwerdeführer ist Ende 20, ledig, Schiit und Araber. Er lebte mit seiner Familie bis 2004 in Najaf, anschließend in Basra. Dort leben nach wie vor sein Bruder und seine vier Schwestern im Alter von ca. 30 bis 42. Er hat in der Beschwerdeverhandlung angegeben, zuletzt etwa Mitte 2019 Kontakt mit seinem Bruder gehabt zu haben, ansonsten keinen mehr zu seinen Angehörigen. Festgestellt wird, dass er mit den Geschwistern zumindest bis Herbst 2019 etwa monatlich Kontakt hatte.
Diese sind alle verheiratet und leben jeweils mit ihren Familien zusammen, der Bruder hat drei oder vier Kinder und lebt in einer Wohnung. Über Facebook hat der Beschwerdeführer Kontakt zu Bekannten im Herkunftsstaat und zu Landsleuten in anderen Staaten. Seine Eltern sind verstorben, 2003 oder 2004 der Vater, 2017 die Mutter. Im Herkunftsstaat leben weiters seine Onkel und Tanten. Dort hat er elf oder zwölf Jahre lang die Schule besucht und als Lebensmittelverkäufer auf einem Markt gearbeitet. Zusätzliches Einkommen erzielte er als Fußballspieler.
Er hat im August 2015 den Herkunftsstaat verlassen und ist über die Türkei, wo er sich etwa einen Monat aufhielt, nach Griechenland und in andere EU-Länder gereist. Seine Identität steht fest. Er hält sich seit seiner Antragstellung am Morgen des Einreisetages nach dem Aufgriff durch Polizeibeamte nahe der Grenze von Ungarn im Inland auf.
Seit April 2018 arbeitet er in Oberösterreich als Reinigungskraft auf einer Tankstelle und in einem Arbeiterwohnheim. Dazu betreibt er am Hauptwohnsitz das freie Gewerbe der "Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten". Die Einkünfte daraus beliefen sich von Mai bis Oktober 2019 auf durchschnittlich €
1.894,-- monatlich. Davon bezahlt er ein Zimmer im genannten Wohnheim und seine Untermietwohnung und bestreitet seinen Lebensunterhalt.
Er hat in Österreich zahlreiche Freunde, darunter auch viele Österreicher, mit denen er Fußball spielt und ausgeht. Seit etwa zwei Jahren hat er eine Freundin österreichischer Staatsbürgerschaft, mit der er keine Lebensgemeinschaft führt und keine Heiratspläne hegt. Er ist nicht Mitglied eines Vereins oder einer anderen Organisation und verrichtet keine ehrenamtliche Tätigkeit. Er ist ferner gerichtlich unbescholten, hat keine Sorgepflichten und erwartet keine Vaterschaft.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich und sonst in Europa keine Angehörigen. Er hat 2017 an einem eintägigen Werte- und Orientierungskurs teilgenommen sowie 2018 eine Deutschprüfung auf Niveau A1 mit "sehr gut" bestanden.
Der Beschwerdeführer spricht Arabisch, hat nur für sich selbst zu sorgen und wäre körperlich und geistig in der Lage, das im Herkunftsstaat wie vor seiner Ausreise zu tun. Er ist gesund, arbeitsfähig und nicht in ärztlicher Behandlung. Mit den Gepflogenheiten, der Kultur und der Mehrheitsreligion des Herkunftsstaats ist er vertraut. In zwei von dessen Großstädten hat er jeweils mehr als ein Jahrzehnt gelebt. Er spricht arabisch und hat dort mehr als 10 Jahre die Schule besucht und auch bereits Arbeitserfahrung gesammelt.
Es kann nicht festgestellt werden, ob er derzeit die Möglichkeit hat, sich an seine Geschwister und seine Schwäger in Basra zu wenden, und auch nicht, ob und in welchem Ausmaß diese, andere Verwandte oder Bekannte in der Lage wären, ihn aufzunehmen oder sonst zu unterstützen. Die Sicherheitslage in Basra ist derzeit schlecht, sodass dort er in Gefahr wäre, durch willkürliche Gewalt einen ernsthaften körperlichen Schaden zu erleiden
Der Beschwerdeführer kann in Basra Arbeitsmöglichkeiten bei Armee und Milizen ausgegangen finden, die allerdings mit hohem Einsatzrisiko behaftet sind. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer derzeit in Basra eine Beschäftigung, bei der seine körperliche Unversehrtheit nicht gefährdet wäre, mit hinreichendem Lohn für eine Unterkunft und eine den örtlichen Lebensverhältnissen entsprechende Versorgung oder stattdessen ausreichend staatliche Unterstützung fände.
1.2 Zum Herkunftsstaat
Im angefochtenen Bescheid wurde das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" zum Irak mit Stand 20.11.2018 samt Kurzinformation vom 30.10.2019 zitiert. Im gegebenen Zusammenhang sind davon speziell die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:
1.2.1 Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen:
[...] Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (The Portal 9.10.2019).
Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 7.8.2019). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019). Der IS setzt nach wie vor auf Gewaltakte gegen Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter sowie beispielsweise auf Brandstiftung, um Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen (ACLED 7.8.2019).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 7.8.2019). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungseinheiten (PMF/PMU/Hashd al Shabi) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Am 7.7.2019 begann die "Operation Will of Victory", an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilization Forces (PMF), Tribal Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der US- geführten Koalition teilnahmen (ACLED 7.8.2019; vgl. Military Times 7.7.2019). Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel (Diyaruna 7.10.2019; vgl. The Portal 9.10.2019). Die am 7. Juli begonnene erste Phase umfasste Anbar, Salah ad-Din und Ninewa (Military Times 7.7.2019). Phase zwei begann am 20. Juli und betraf die nördlichen Gebiete von Bagdad sowie die benachbarten Gebiete der Gouvernements Diyala, Salah ad-Din und Anbar (Rudaw 20.7.2019). Phase drei begann am 5. August und konzentrierte sich auf Gebiete in Diyala und Ninewa (Rudaw 11.8.2019). Phase vier begann am 24. August und betraf die Wüstenregionen von Anbar (Rudaw 24.8.2019). Phase fünf begann am 21.9.2019 und konzentrierte sich auf abgelegene Wüstenregionen zwischen den Gouvernements Kerbala, Najaf und Anbar, bis hin zur Grenze zu Saudi-Arabien (PressTV 21.9.2019). Eine sechste Phase wurde am 6. Oktober ausgerufen und umfasste Gebiete zwischen dem südwestlichen Salah ad-Din bis zum nördlichen Anbar und Ninewa (Diyaruna 7.10.2019). [...]
Seit 1. Oktober kam es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019; Standard 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Im Zuge dieser Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig, vom 2. bis zum 5. Oktober, wurde eine Ausgangssperre ausgerufen (Al Jazeera 5.10.2019; vgl. ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und eine Internetblockade vom 4. bis 7. Oktober implementiert (Net Blocks 3.10.2019; FAZ 3.10.2019; vgl. Rudaw 13.10.2019).
Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verletzte (BBC News 30.10.2019). Insbesondere betroffen waren bzw. sind die Städte Bagdad, Nasiriyah, Hillah, Basra und Kerbala (BBC News 30.10.2019; vgl. Guardian 27.10.2019; Guardian 29.10.2019). Am 28. Oktober wurde eine neue Ausgangssperre über Bagdad verhängt, der sich jedoch tausende Demonstranten widersetzen (BBC 30.10.2019; vgl. Guardian 29.10.2019). Über 250 Personen wurden seit Ausbruch der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober getötet (Guardian 29.10.2019) und mehr als 8.000 Personen verletzt (France24 28.10.2019). [...]
In Basra wurde im August ein Vorfall ohne Opfer registriert. Es handelte sich dabei um eine gegen British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld gerichtete IED (Joel Wing 9.9.2019). Demonstrationen gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und mangelnde Grundversorgung halten an, wobei iranisch unterstützte PMFs beschuldigt werden, sich an der Unterdrückung der Proteste zu beteiligen und Demonstranten und Menschenrechtsaktivisten anzugreifen (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).
1.2.2 Sicherheitsupdate 2. Quartal 2019
[...] In Basra wurden im Juni zwei Vorfälle mit drei Verletzten registriert. Ein von internationalen Ölgesellschaften genutzter Gebäudekomplex wurde von Raketen getroffen. Mutmaßlich steckt eine pro-iranischen Gruppe hinter diesem Angriff (Joel Wing 1.7.2019).
1.2.3 Sicherheitsupdate 1. Quartal 2019, Südirak
Am 21.12.2018 setzte die Polizei scharfe Munition und Tränengas ein, um Demonstranten im südirakischen Basra an der Erstürmung eines Regierungsgebäudes zu hindern. Die zweitgrößte Stadt des Landes erlebt seit Juli 2018 ausgedehnte Proteste gegen Korruption, Misswirtschaft, die schlechte Grundversorgung und Arbeitslosigkeit (Guardian 18.7.2018; vgl. Reuters 21.12.2019). Auch 2019 kommt es weiterhin zu häufigen Protesten (Jane's 5.2.2019).
In Qadisiya wurde im Dezember 2018 ein sicherheitsrelevanter Vorfall mit einer verwundeten Person registriert. In Babil waren es im Dezember 2018 zwei Vorfälle mit sechs Verletzten (Joel Wing 2.1.2019), im Jänner 2019 drei Vorfälle mit sechs Verletzten (Joel Wing 4.2.2019) und im Februar zwei Vorfälle mit zwei Verletzten (Joel Wing 4.3.2019). Im März wurde in Babil ein Vorfall registriert, bei dem zwei Personen getötet wurden (Joel Wing 3.4.2019). In Basra wurden bei einem Zusammenstoß zweier Stämme am 11.3.2019 mindestens drei Menschen getötet und sieben weitere verwundet (Kurdistan 24 12.3.2019).
1.2.4 Politische Lage - Protestbewegung
Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormen Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).
Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da'wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).
1.2.5 Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde, verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv, die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten. Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.2.2018). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (MIGRI 6.2.2018).
1.2.6 Sicherheitslage Süden
Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich der Provinz Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen und bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).
In der Provinz Basra kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bewaffneter Gruppierungen. In Basra und den angrenzenden Provinzen besteht ebenfalls das Risiko von Entführungen (AA 1.11.2018).
Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, zu Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018). Dies war auch im Juli und September 2018 der Fall, als Demonstranten bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet wurden (Al Jazeera 16.7.2018; vgl. Joel Wing 5.9.2018, AI 7.9.2018).
1.2.7 Verwestlichung, westlicher bzw. nicht-konservativer Lebensstil
Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten was das persönliche Erscheinungsbild betrifft (FH 16.1.2018). Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken (AA 12.2.2018). Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (USDOS 29.5.2018). Es gab mehrere Fälle, in denen Frauen in Basra schriftliche Mitteilungen erhielten, wonach sie in falscher Kleidung oder in kompromittierenden Situationen gesehen worden sind (Lattimer EASO 26.4.2017).
Zahlreiche Frauen sind aufgrund ihrer politischen Aktivitäten oder weil sie "moralische Verbrechen" begangen haben zum Ziel von Tötungen geworden (Lattimer EASO 26.4.2017). Auch wurden Cafes angegriffen, weil dort Frauen arbeiteten (ICSSI 19.10.2016; vgl. ACCORD 30.4.2018). 2018 wurden mehrere weibliche Instagram-Stars sowie eine plastische Chirurgin und eine Kosmetikerin gezielt ermordet. Das Motiv hinter den Morden soll stets die progressive und weltoffene Lebensart sowie die Eigenständigkeit der Entscheidungen der Frauen gewesen sein (Standard 23.10.2018).
Im Allgemeinen wird im Irak, auch in der kurdischen Autonomieregion, von Frauen erwartet, Männern gegenüber unterwürfig zu sein (Lattimer EASO 26.4.2017). Mädchen und Frauen haben immer noch einen schlechteren Zugang zu Bildung. Je höher die Bildungsstufe, desto weniger Mädchen sind vertreten. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für die Mädchen ab oder ziehen eine "frühe Ehe" für sie vor (GIZ 11.2018).
1.2.8 Grundversorgung und Wirtschaft
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.2.2018). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018).
Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Nach Angaben des UN-Programms "Habitat" leben 70 Prozent der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.2.2018).
In vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.2.2018).
Wirtschaftslage
Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des sogenannten Islamischen Staat und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mosul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits. vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im Oktober 2018 für das Jahr 2019. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt (GIZ 11.2018).
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 11.2018). Rund 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor (AA 12.2.2018).
Noch im Jahr 2016 wuchs die irakische Wirtschaft laut Economist Intelligence Unit (EIU) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um 11 Prozent. Im Folgejahr schrumpfte sie allerdings um 0,8 Prozent. Auch 2018 wird das Wachstum um die 1 Prozent betragen, während für 2019 wieder ein Aufschwung von 5 Prozent zu erwarten ist (WKO 2.10.2018). Laut Weltbank wird erwartet, dass das gesamte BIP-Wachstum bis 2018 wieder auf positive 2,5 Prozent ansteigt. Die Wachstumsaussichten des Irak dürften sich dank der günstigeren Sicherheitslage und der allmählichen Belebung der Investitionen für den Wiederaufbau verbessern (WB 16.4.2018). Die positive Entwicklung des Ölpreises ist dafür auch ausschlaggebend. Somit scheint sich das Land nach langen Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen wieder in Richtung einer gewissen Normalität zu bewegen. Dieser positiven Entwicklung stehen gleichwohl weiterhin Herausforderungen gegenüber (WKO 2.10.2018).
So haben der Krieg gegen den IS und der langwierige Rückgang der Ölpreise seit 2014 zu einem Rückgang der Nicht-Öl-Wirtschaft um 21,6 Prozent geführt, sowie zu einer starken Verschlechterung der Finanz- und Leistungsbilanz des Landes. Der Krieg und die weit verbreitete Unsicherheit haben auch die Zerstörung von Infrastruktur und Anlageobjekten in den vom IS kontrollierten Gebieten verursacht, Ressourcen von produktiven Investitionen abgezweigt, den privaten Konsum und das Investitionsvertrauen stark beeinträchtigt und Armut, Vulnerabilität und Arbeitslosigkeit erhöht. Dabei stieg die Armutsquote [schon vor dem IS, Anm.] von 18,9 Prozent im Jahr 2012 auf geschätzte 22,5 Prozent im Jahr 2014 (WB 18.4.2018).
Jüngste Arbeitsmarktstatistiken deuten auf eine weitere Verschlechterung der Armutssituation hin. Die Erwerbsquote von Jugendlichen (15-24 Jahre) ist seit Beginn der Krise im Jahr 2014 deutlich gesunken, von 32,5 Prozent auf 27,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit nahm vor allem bei Personen aus den ärmsten Haushalten und Jugendlichen und Personen im erwerbsfähigen Alter (25-49 Jahre) zu. Die Arbeitslosenquote ist in den von IS-bezogener Gewalt und Vertreibung am stärksten betroffenen Provinzen etwa doppelt so hoch wie im übrigen Land (21,1 Prozent gegenüber 11,2 Prozent), insbesondere bei Jugendlichen und Ungebildeten (WB 16.4.2018).
Der Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.2.2018). Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Jobangebote sind mit dem Schließen mehrerer Unternehmen zurückgegangen. Im öffentlichen Sektor sind ebenfalls viele Stellen gestrichen worden. Gute Berufschancen bietet jedoch derzeit das Militär. Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt derzeit 350-1.500 USD, je nach Position und Ausbildung (IOM 13.6.2018).
Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD pro Tag verdienen, zu unterstützen.
Aufgrund der derzeitigen Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten (IOM 13.6.2018).
Stromversorgung
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.2.2018). Sie deckt nur etwa 60 Prozent der Nachfrage ab, wobei etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 22.12.2017). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.2.2018).
Wasserversorgung
Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen (AA 12.2.2018). Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Die Wasserknappheit dürfte sich kurz- bis mittelfristig noch verschärfen. Besonders betroffen sind die südlichen Provinzen, insbesondere Basra. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor, aber auch große Staudammprojekte in der Türkei und im Iran, die sich auf den Wasserstand von Euphrat und Tigris auswirken und zur Verknappung des Wassers beitragen. Niedrige Wasserstände führen zu einem Anstieg des Salzgehalts, wodurch das bereits begrenzte Wasser für die landwirtschaftliche Nutzung ungeeignet wird (UNOCHA 31.8.2018).
Parallel zur Wasserknappheit tragen veraltete Leitungen und eine veraltete Infrastruktur zur Kontaminierung der Wasserversorgung bei (UNOCHA 31.8.2018). Es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.2.2018). Im August meldete Iraks südliche Provinz Basra 17.000 Fälle von Infektionen aufgrund der Kontaminierung von Wasser. Der Direktor der Gesundheitsbehörde Basra warnte vor einem Choleraausbruch (Iraqi News 28.8.2018).
1.2.9 Rückkehr
Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Autonome Region Kurdistan finden regelmäßig statt (AA 12.2.2018).
Studien zufolge ist die größte primäre Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017). In der Autonomen Region Kurdistan gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Ob sich diese Tendenzen verstetigen, wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der Autonomen Region Kurdistan kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.2.2018).
Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger. Die Miete für 250m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD. In den Städten der kurdischen Autonomieregion liegt die Miete bei 300-600 USD für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 11 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 7-18 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 22-29 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000 IQD für private oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom (IOM 13.6.2018).
Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser im Land. Jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote (GIZ 11.2018). Wohnen ist zu einem der größten Probleme im Irak geworden, insbesondere nach den Geschehnissen von 2003 (IOM 13.6.2018). Die Immobilienpreise in irakischen Städten sind in den letzten zehn Jahren stark angestiegen (IEC 24.1.2018). Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem IS stellt der Wohnungsbau eine besonders dringende Priorität dar (Reuters 12.2.2018). Im November 2017 bestätigte der irakische Ministerrat ein neues Programm zur Wohnbaupolitik, das mit der Unterstützung von UN-Habitat ausgearbeitet wurde, um angemessenen Wohnraum für irakische Staatsbürger zu gewährleisten (UNHSP 6.11.2017). Öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche besteht für Rückkehrer nicht (IOM 13.6.2018).
1.2.10 Aktualisierung aufgrund aktueller Medienberichte
In Bagdad und im Süden des Irak protestieren Teile der Bevölkerung seit Anfang Oktober gegen Misswirtschaft und hohe Arbeitslosigkeit, Korruption und die nach Religion und Ethnie definierte Proporzregierung. Auch die Nähe der politischen Elite zum Iran steht im Fokus der Kritik.
Von offizieller Seite wurde versucht, mit verschiedenen Maßnahmen zur Beruhigung der Situation beizutragen: Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi reichte seinen Rücktritt ein, der eine zentrale Forderung der Demonstranten war, ein. Die oberste Justizbehörde des Irak erließ einen Haftbefehl gegen einen Militärchef, der für das tödliche Durchgreifen gegen Demonstranten in einer Provinz im Südirak verantwortlich war. (Deutsche Welle, Chaos oder Frieden:
Welchen Weg nimmt der Irak?
www.dw.com/de/chaos-oder-frieden-welchen-weg-nimmt-der-irak/a-51490474, 01.12.2019)
Eine Beruhigung der Lage konnte damit aber nicht erreicht werden: Am Freitag, 6. Dezember 2019, schossen Bewaffnete aus vier Fahrzeugen auf regierungskritische Protestierende am zentralen Al-Chalani Platz und töteten mindestens 16 Personen (die meisten Quellen sprechen von 24 Toten) und verletzten über 100 Menschen. Bereits vor dieser "Gräueltat" (laut UN) war eine Menschenrechtskommission von mehr als 400 Toten und mehr als 20.000 Verletzten ausgegangen (Zeit online, Irak Unbekannte erschießen mindestens 16 Protestierende, www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/irak-proteste-bagdad-regierung-tote 07.12.2019).
Die Zahl der spurlos Verschwundenen und der willkürlich Verhafteten hat in den letzten Monaten stark zugenommen (Al Jazeera, Iraq protests: Increase in number of disappearances www.aljazeera.com/news/2019/12/iraq-protests-increase-number-disappearances-191219111900491.html 19.12.2019). Zugleich wird von den Demonstranten befürchtet, dass "Saboteure" versuchen, die Protestes zu diskreditieren und mit Gewalttaten in Verbindung zu bringen. So wurde nach einem Lynchmord an einem Jugendlichen, der sich gegen die Demonstranten gewandt hatte, eine Erklärung veröffentlicht, dass man sich von dieser Tat distanziere. Dennoch wurde vom einflussreichen Prediger Moktada al-Sadr nach Bekanntwerden des Vorfalls erklärt, dass er, wenn die Täter nicht gefunden würden, seine Milizionäre abziehen werde, die er nach dem blutigen Angriff auf die Demonstranten am 06.12.2019 zu deren Schutz entsandt hatte (Spiegel online, Irak Jugendlicher in Bagdad von Menge gelyncht
https://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-jugendlicher-in-bagdad-von-demonstranten-gelyncht-a-1300975.html 12.12.2019). Zugleich war auch das Büro von Al-Sadr, der sich gegen den Iran stellt, in Nadjaf Ziel eines Anschlages (Süddeutsche Zeitung, Irak - Gezielter Angriff auf Demonstranten www.sueddeutsche.de/politik/irak-gezielter-angriff-auf-demonstranten-1.4714665 08.12.2019)
Die USA haben gegen drei Milizführer Sanktionen ausgesprochen, da sie mit anderen für die brutale Vorgehensweise gegenüber den friedlichen Demonstranten verantwortlich gemacht werden (The Guardian, Defiant protesters back in Baghdad square within an hour of slaughter,
www.theguardian.com/world/2019/dec/07/protesters-return-baghdad-square-after-slaughter-iraq 07.12.2019); sie hätten im Auftrag des Iran gehandelt (The New York Times, U.S. Seeks to Punish Iraqi Militias That Targeted Protesters With Iran's Help,
www.nytimes.com/2019/12/06/us/politics/iraq-iran-sanctions.html 06.12.2019). Aktuell steht auch die schiitische Geistlichkeit an einer Weggabelung; der innerschiitische Konflikt zwischen den beiden größten schiitischen Ländern Iran und Irak wird weiter zunehmen (Deutsche Welle, Irak - Die Ordnung von 2003 ist gescheitert, www.dw.com/de/gastkommentar-irak-die-ordnung-von-2003-ist-gescheitert/a-51476583 30.11.2019)
Die Demonstrierenden zeigen sich trotz des harten Vorgehens gegen sie und des Vorfalls vom 06.12.2019 weiter entschlossen, ihre Proteste fortzusetzen. Jeder Versuch des Irans, zu intervenieren, könnte zu massiven Problemen führen, das Konsulat in Nadjaf wurde bereits zerstört und angezündet. Auch gibt es die Befürchtung, dass es zu Kämpfen zwischen Milizen, die den Protest unterstützen, und jenen, die ihn bekämpfen, kommen könnte (The Guardian, Defiant protesters back in Baghdad square within an hour of slaughter, a. a.O.).
In der Zwischenzeit wurde auch noch keine Lösung für eine neue Regierung gefunden; laut Verfassung leitete der zurückgetreten Al Mahdi die Regierungsgeschäfte interimsmäßig noch bis 19.12.2019, doch konnte kein Kandidat für das vakante Amt auf genügend Unterstützung zurückgreifen, so dass eine politische Einigung noch aussteht (Der Standard, Politische Lostage in Libanon und im Irak, www.derstandard.at/story/2000112506878/politische-lostage-in-libanon-und-im-irak 19.12.2019). Das Parlament schaffte es auch in seiner Sitzung am 18.12.2019 nicht, eine der zentralen Forderungen der Demonstranten, nämlich ein neues Wahlrecht, zu erlassen. Ayatollah Ali al-Sistani erklärte am 20.12.2019, dass baldige Neuwahlen der einzige Weg aus der Krise seien (Reuters, Iraq's Sistani says early election only way out of crisis,
www.reuters.com/article/us-iraq-protests/iraqs-sistani-says-early-election-only-way-out-of-crisis-idUSKBN1YO104 20.12.2019).
Die Lage eskalierte um den Jahreswechsel: Hunderte schiitische Milizionäre attackierten die US-Botschaft in Bagdad. Als die Demonstranten am Silvestertag versuchten, die US-Botschaft zu stürmen, bekamen sie Besuch von hochrangigen Kadern der Volksmobilisierungseinheiten, darunter: Jamal Jafaar Ibrahimi, mächtiger Kommandeur der Hisbollah-Brigaden und Vize-Chef der Volksmobilisierungseinheiten. Es wird vermutet, dass der Iran für diese Aktionen die Verantwortung trägt (Spiegel online, Angriffe auf US-Botschaft in Bagdad,
www.spiegel.de/politik/ausland/irak-sturm-auf-us-botschaft-in-bagdad-drahtzieher-ist-iran-a-1303278.html 01.01.2020). Die USA wiederum töteten bei einem Luftangriff nahe dem Flughafen von Bagdad in der Nacht zum 03.01.2020 Ghassem Soleimani, den Kommandanten der Spezialeinheit Al-Kuds-Brigaden der Elitetruppe Revolutionsgarden des iranischen Militärs, die von den Vereinigten Staaten als Terrororganisation eingestuft werden, sowie den stellvertretenden Kommandeur der irakischen, vom Iran unterstützten al-Shaabi-Milizen, Abu Mahdi al-Muhandis (Deutsche Welle, USA töten hohen iranischen General im Irak www.dw.com/de/usa-töten-hohen-iranischen-general-im-irak/a-51873948 03.01.2020).
Das Parlament des Irak hat den Abzug von US-Truppen aus dem Land gefordert. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte für eine Resolution, die das Ende der ausländischen Militärpräsenz im Irak verlangt. Insbesondere wurde die Beendigung eines Abkommens mit den USA gefordert, in dem vor mehr als vier Jahren die Entsendung von US-Soldaten zum Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vereinbart worden war. 5.000 US-Soldaten sind aktuell im Irak stationiert (Zeit online, Irakisches Parlament fordert US-Truppenabzug,
www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/irak-resolution-us-truppen-abzug-iran-kassem-soleimani 05.01.2020). US-Präsident Donald Trump wiederum drohte dem Irak für den Fall eines feindseligen Rauswurfs amerikanischer Soldaten aus dem Land mit massiven Sanktionen (Zeit online, Donald Trump droht Irak bei Rauswurf von US-Truppen mit Sanktionen, www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/us-praesident-donald-trump-irak-truppenabzug-soldaten-sanktionen 06.01.2020).
Zur Lage in Basra:
Durch Zusammenstöße mit Sicherheitskräften kamen von Anfang Oktober bis Dezember mindestens 350 Demonstrierende bei Protesten in Bagdad und den südirakischen Städten ums Leben. Zusätzlich zu scharfer Munition haben die Sicherheitskräfte in Bagdad Tränengaspatronen abgefeuert, in einigen Fällen direkt auf Demonstranten, wobei mindestens 16 Menschen getötet wurden.
In den letzten 30 Jahren versäumten es die Behörden, die Menschen im Südirak und insbesondere in Basra mit sauberem Trinkwasser zu versorgen. Die Verschlechterung der Wasserquellen in Basra wurde im Sommer 2018 zu einer umfassenden Krise, als mindestens 118.000 Menschen aufgrund von Symptomen, die von Ärzten im Zusammenhang mit der Wasserqualität festgestellt wurden, in ein Krankenhaus eingeliefert wurden. Wegen hoher Niederschläge und Schneeschmelze Ende 2018 / Anfang 2019 trat die Gesundheitskrise im Jahr 2019 nicht auf, aber die Behörden unternahmen keine wesentlichen Schritte, um deren Ursachen zu beheben. (HRW - Human Rights Watch: World Report 2020 - Iraq, www.ecoi.net/de/dokument/2022678.html 14. Jänner 2020)
Obwohl Basra mehr als 50 Kilometer vom Persischen Golf entfernt liegt, ist das Wasser des Flusses Schatt al-Arab, der an der Stadt vorbeifließt und das Kanalsystem speist, inzwischen fast so salzig wie Meerwasser. Der Ärger über die katastrophalen Lebensbedingungen trieb bereits im Sommer 2018 Zehntausende Demonstranten in Basra auf die Straßen (Spiegel online, Umweltsünden im irakischen Basra, www.spiegel.de/politik/ausland/basra-im-irak-das-venedig-des-nahen-ostens-verkommt-zur-muellkippe-a-1251239.html 02.02.2019; und Deutschlandfunk, Umweltkrise im irakischen Basra, www.deutschlandfunk.de/umweltkrise-im-irakischen-basra-giftiges-wasser-giftiger.799.de.html?dram:article_id=455982 10.08.2019).
In Bagdad und im Süden des Landes kam es erneut zu Zusammenstößen zwischen irakischen Sicherheitskräften und regierungsfeindlichen Demonstranten, im Zuge derer mindestens fünf Demonstranten umkamen (Al Jazeera, Clashes erupt in Iraq despite Shia leader's call for calm,
www.aljazeera.com/news/2019/11/clashes-erupt-baghdad-shia-leader-call-calm-191108144423254.html 08.11.2019). Die tödlichen Proteste halten unter der Sorge an, dass die tatsächlichen Opferzahlen höher sind als berichtet. Die Proteste im ölreichen Basra hatten sich ausgebreitet, als die Zahl der Todesopfer stieg. Der in Basra lebende langjährige Aktivist und Anwalt Hassan Serhan sagte gegenüber Al-Monitor in einem Interview in der Stadt, dass die Zahl der Todesopfer viel höher ist als die offiziell veröffentlichten Zahlen, aber "niemand genau weiß, wie viele getötet wurden". (Al Monitor, 26.11.2019).
1.3 Zum Fluchtvorbringen und zur Rückkehrperspektive des Beschwerdeführers
1.3.1 Der Beschwerdeführer hat in der Beschwerdeverhandlung auf diesbezügliche Fragen angegeben, beim Drohanruf nackenlanges, blond gefärbtes Haar getragen zu haben, und vorgebracht, bei den ihm zunächst unbekannten Milizen, die ihn bedroht hätten handle es sich um die Aas'ib Ahl al-Haqq. Aus den Länderberichten ergibt sich betreffend diese Gruppe Folgendes:
Die Asa'ib Ahl al-Haqq (Liga der Rechtschaffenen oder Khaz'ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz'ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Asa'ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata'ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierung, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Khaz'ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017).
1.3.2 Der in der Verhandlung vorgelegten Pressemitteilung ist zu entnehmen, dass der US-Außenminister seine Absicht bekanntgegeben hat, entsprechend näher bezeichneten Rechtsnormen der Vereinigten Staaten die Asa'ib Ahl al-Haqq zur Ausländischen Terrororganisation zu erklären, ferner diese sowie zwei ihrer Führer, die Brüder Qais und Laith al-Khaz'ali, als speziell bezeichnete weltweite Terroristen zu deklarieren.
1.3.3 Der Beschwerdeführer legt Wert auf sein Äußeres, besonders auch auf das Aussehen seiner Haare und seiner Frisur. Er trug seine Haare im Herkunftsstaat zeitweilig deutlich länger als nun zum Zeitpunkt der Beschwerdeverhandlung in Österreich. Zu einem unbekannten Zeitpunkt hatte er im Herkunftsstaat auch hell gefärbte Haare. Als er das Passfoto für den 2013 ausgestellten Staatsbürgerschaftsnachweis anfertigen ließ, hatte er dunkelbraune oder schwarze Haare, bei seinem Eintreffen in Österreich braune.
In der Verhandlung hat der Beschwerdeführer vorgebracht, er trete individuell in Erscheinung und würde speziell im strengen muslimischen Süden Iraks auffallen und beträchtlicher Diskriminierung ausgesetzt und individuell gefährdet sein. Sowohl Männer als auch Frauen stünden unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betreffe.
Dem Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat weder jemand aus dem Familien- oder Bekanntenkreis noch ein anderer Mensch jemals persönlich gesagt, dass dessen Frisur oder sonstiges Aussehen unpassend sei. Es kann nicht festgestellt werden, dass ihn telefonisch jemand auf seine Haarlänge, sein sonstiges Aussehen oder seine Haarfarbe angesprochen hätte.
1.3.4 Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig oder Mitglied einer Gruppierung. Es kann nicht festgestellt werden, aus welchem Grund der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer eine Verfolgung oder eine telefonische oder andere Bedrohung durch schiitische oder andere Milizen erlitten hätte, durch Asa'ib Ahl al-Haqq oder andere, um ihn zum Schneiden seiner Haare zu bewegen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer Verfolgung oder Diskriminierung droht, weil ihm westlicher Lebensstil oder ein (religiösen oder sonstigen) Normen nicht entsprechendes persönliches Erscheinungsbild vorgeworfen oder unterstellt würden.
1.3.5 Betreffend die im Herkunftsstaat vorkommenden Reaktionen auf Kleidung oder Haartracht sind speziellen Informationen folgende Umstände zu entnehmen:
Im Februar 2012 sind in Bagdad Schilder und Flugblätter aufgetaucht die Personen namentlich mit dem "Zorn Gottes" bedrohten, wenn sie unter anderem nicht damit aufhören würden, sogenannte "satanische Kleidung" zu tragen. Dazu zählten Kleidungsstile, die von KritikerInnen mit der Emo-Jugendkultur, Metal-Musik und Rap in Verbindung gebracht würden. (ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Lage einer Person, die die herrschenden Sitten, jegliche Religion sowie die irakische Regierung offen ablehnt [a-8836], 9. September 2014)
Einige Jahre vor 2016 wurden so genannte "Emos" - junge Männer mit abweichender Kleidung - offen wegen ihres seltsamen Aussehens angegriffen. Nun [2016], da ihre Angreifer anderweitig beschäftigt sind, sind die Emos zurück. Ihnen wird mitunter Satanismus oder Homosexualität unterstellt (Emo Revival: In Iraq, Teenagers Who Dress Differently Have Much To Fear, 13.7.2016, www.niqash.org/en/articles/society/5310/)
Der Beschwerdeführer hat demgegenüber in der Verhandlung angegeben, nicht zu dieser Zielgruppe zu gehören (S. 10) und wohnte auch nicht in Bagdad.
Öfters wird, auch in letzter Zeit, über Maßnahmen gegen Friseursalons und Schönheitssalons berichtet, sowie gegen Frauen wegen deren Frisuren. (BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Lage von Friseurinnen, 9. November 2017, 4, 12 f, 17 f)
In Bagdad hat ein jugendlicher Rap-Künstler vor Jänner 2014 angegeben, von Asa'ib Ahl al-Haqq Todesdrohungen erhalten zu haben, die der Ansicht seien, dass Rap eine westliche Kunst sei, die auszuüben irakischen Jugendlichen verboten sei. Ferner wurde dort 2007 eine Person wegen ihrer Haarlänge von Sicherheitskräften mehr als eine Stunde lang nach den Gründen dafür befragt. (Report on The Situation of Personal Freedoms of Iraqi Youths, Jänner 2014 [www.iraqicivilsociety.org/wp-content/uploads/2014/01/English-Youth-report.pdf])
Die Volksmobilisierungseinheiten (PMF) richten sich gegen Menschen, die Zeichen abweichender Moral zeigen. Die Opfer sind aus der LGBT-Gemeinschaft oder unter kreativen Leuten, die sich zum Beispiel anders kleiden. Als Beispiel gilt Karar Nushi (s. u.), der 2017 in Bagdad getötet wurde. In anderen Fällen sind Christen und Jesiden betroffen, zum Beispiel die Spirituosenläden von Christen. Jedoch passiert dies weniger als zuvor, und die irakische Gesellschaft ist durch mehr Offenheit gekennzeichnet, als noch vor einigen Jahren. (The Danish Immigration Service, Northern Iraq Security situation and the situation for internally displaced persons [IDPs] in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq [KRI], November 2018, www.justice.gov/eoir/page/file/1111536/download)
Der Beschwerdeführer lebte demgegenüber im Südirak und hat auch nicht angegeben, einer der genannten Gruppen anzugehören.
Karar Nushi, ein männliches Fotomodell wurde 2017 in Bagdad ermordet, nachdem es bedroht worden war, allerdings nicht nur wegen seiner Frisur, langen, blondgefärbten Haaren, sondern auch wegen seiner Kleidung und seiner Freundschaft mit Schauspielerinnen. Der Ermordete wollte auch an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen. Der Mord wird islamistischen oder radikal-islamistischen Gruppen zugeschrieben (BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Lage von Friseurinnen, 9. November 2017, 7 f)
Dem Beschwerdeführer war der letztgenannte Fall bei der Verhandlung bekannt, allerdings erwähnte er ihn nicht von sich aus. Erst auf Vorhalt eines zu Lebzeiten entstandenen Fotos des Getöteten nannte er dessen Namen und erklärte, das Opfer sei Kunststudent und Schauspieler gewesen, habe aus einer armen Familie gestammt und sei getötet worden, weil es westlich orientiert gewesen sei.
1.3.6 Der Beschwerdeführer wird nach seiner Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein, auch nicht als arabischer Schiit, der sich modisch und nicht traditionell kleidet und seine Haarfarbe und -länge wechselt.
1.3.7 Für seine Rückkehr kommt angesichts seiner mehrjährigen Abwesenheit und seines früheren langjährigen Wohnsitzes primär Basra infrage. Da sich auch nur dort Angehörige mit festgestelltem Wohnort befinden, nämlich seine Geschwister mit ihren Familien, ist eine Alternative (z. B. in Orten, wo Onkel oder Tanten leben) in einem anderen Landesteil des Irak nicht feststellbar, wo es dem Beschwerdeführer möglich wäre, sich niederzulassen. Basra ist für den Beschwerdeführer wie auch andere arabische Schiiten erreichbar, auch per Flugzeug von oder über Bagdad.
1.3.8 Aufgrund der seit Monaten andauernden Proteste und der anderen Feststellungen zur Lage im Irak ist allerdings von einer höchst instabilen Sicherheitslage in Basra auszugehen, sodass von einer Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers, unabhängig von seiner Haltung gegenüber den Protesten, auszugehen ist. Zudem droht der Irak im Konflikt zwischen den USA und dem Iran zwischen die Fronten zu geraten, so dass eine weitere Eskalation der Situation nicht unwahrscheinlich ist. Ferner stellt sich die Versorgungslage in Basra aktuell als für Menschen wie den Beschwerdeführer äußerst problematisch dar, wenn sie keine Unterstützung erfahren.
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben im Rahmen der Verhandlung, wo der Beschwerdeführer als Partei befragt wurde, und durch die Einsichtnahme in den Akt des BFA unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers, ferner in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden, seine Stellungnahme vom 10.12.2019 sowie die Schreiben der Gewerbebehörde, das ÖSD-Zertifikat und die Bestätigungen betreffend das Einkommen des Beschwerdeführers und den Werte- und Orientierungskurs.
2.1 Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des BFA und des vorliegenden Gerichtsakts. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Gewerbeinformationssystem und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.
2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit sowie seiner Glaubenszugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und die Feststellungen des bekämpften Bescheids, ebenso zur Ausbildung und Tätigkeit des Beschwerdeführers, jeweils aktualisiert durch die jüngsten Angaben, zuletzt bei der Verhandlung.
Das Gericht folgte dagegen nicht jenen letzten zur Familie und zwar aus folgendem Grund: Dem BFA gegenüber sagte der Beschwerdeführer aus, Kontakt zu seiner Familie zu haben (AS 57) und noch im Dezember 2019 hatte der Beschwerdeführer angegeben, etwa einmal monatlich Kontakt zu seinen Geschwistern im Herkunftsstaat zu haben. "Seit den letzten zwei Monaten" bestehe aber bedingt durch die Unruhen "fast gar kein Kontakt mehr". In der Beschwerdeverhandlung - nur etwa fünf Wochen später - verneinte er jeden Kontakt zu den Angehörigen, lediglich mit dem Bruder habe er sechs Monate zuvor Kontakt gehabt.
Das Gericht kommt - auch mit Blick auf die Länderfeststellungen - aufgrund des auffälligen Widerspruchs zum Schluss, dass die zuletzt gemachten Angaben der schwächeren Darstellung des vorhandenen Netzwerks dienen, wogegen es den in der Stellungnahme enthaltenen folgt, die der Lebenserfahrung entsprechen, wonach jahrelang gepflogene regelmäßige Kontakte mit Angehörigen im Ausland, z. B. dort studierenden oder dort verheirateten, nicht ohne besonderen Anlass abgebrochen oder eingeschränkt werden, jedoch z. B. wegen einer Internetblockade wie sie für Oktober 2019 festgestellt wurde.
Betreffend seine Frisur bei der Bedrohung hat der Beschwerdeführer bei der Verhandlung ein Lichtbild vorgewiesen, welches ihn zwar deutlich jünger zeigt als nun, aber keinen Rückschluss darauf zulässt, wie lange vor der Ausreise des Beschwerdeführers es entstand.
Wie die Länderfeststellungen zeigen, sind Maßnahmen betreffend Arbeitslose derzeit reduziert oder suspendiert, während die hohe Arbeitslosigkeit Grund für Proteste ist. Wegen der nicht feststellbaren Unterstützung seitens der Familie