TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/4 W103 1418235-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.03.2020
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Entscheidungsdatum

04.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch

W103 1418235-2/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.11.2019, Zl. 542540110-180551354, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 9 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4, 10 Abs. 1 Z 5, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, §§ 52 Abs. 2 Z 4 und Abs. 9, 55 und 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste im Jänner 2011 im Alter von zehn Jahren gemeinsam mit seiner Großmutter illegal ins Bundesgebiet ein und stellte durch seine gesetzliche Vertreterin am 14.01.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Großmutter des Beschwerdeführers gab anlässlich der am gleichen Datum abgehaltenen Erstbefragung im Wesentlichen an, sie habe den Beschwerdeführer, den Sohn ihrer seit zwei Jahren in Österreich lebenden Tochter, wegen des Krieges in Tschetschenien großgezogen und habe diesen nun zu seiner Mutter nachbringen wollen. Ihre gesamte Familie werde im Herkunftsstaat verfolgt.

Die Mutter des Beschwerdeführers, welche zu diesem Zeitpunkt bereits den Status einer subsidiär Schutzberechtigten im Bundesgebiet innehatte, gab anlässlich einer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 23.02.2011 an, ihr Sohn sei im Herkunftsstaat keinen Bedrohungen ausgesetzt gewesen. Dieser hätte bei seinem Vater gelebt, welcher zwar im Krieg gekämpft hätte, doch sei es bei ihnen nicht üblich, dass eine Frau mit ihrem Ex-Mann über so etwas spreche. Der Beschwerdeführer hätte jedoch nichts Derartiges erzählt.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.03.2011, Zahl 11 00.395-BAT, wurde der Antrag auf internationalen Schutz des damals minderjährigen Beschwerdeführers vom 14.01.2011 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen, dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und diesem eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Begründend hielt das Bundesasylamt im Wesentlichen fest, die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers hätte für diesen keine individuellen Fluchtgründe geltend gemacht. Im Herkunftsstaat hielten sich zahlreiche Familienangehörige des Beschwerdeführers auf. Da jedoch im Falle seiner Mutter aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes in Zusammenschau mit der schlechten Lage im Herkunftsland ein Abschiebehindernis festgestellt worden wäre, sei dem Beschwerdeführer nach den Bestimmungen des Familienverfahrens der gleiche Schutzumfang zu gewähren gewesen.

Dieser Bescheid erwuchs im Umfang der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unangefochten in Rechtskraft.

Die befristete Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers als subsidiär Schutzberechtigter wurde in den folgenden Jahren regelmäßig gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 verlängert, zuletzt erfolgte mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2018 eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung für den Zeitraum bis 01.08.2020.

3. Mit rechtskräftigen Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.02.2015, Zahlen W196 1418235-1/6E ua, wurden die Beschwerden des Beschwerdeführers, seiner Mutter, ihres Ex-Mannes und der Halbgeschwister der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

4. Infolge einer strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers (vgl. dazu die Feststellungen) leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 04.10.2019 ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ein, in welchem am 18.11.2019 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers, welcher sich seit dem 29.10.2019 wegen des Verdachts auf § 142 Abs. 1 StGB in Untersuchungshaft befindet, im Rahmen des Parteiengehörs stattgefunden hat. Der Beschwerdeführer gab zu Protokoll, seine Muttersprache sei Tschetschenisch, außerdem beherrsche er Russisch und Deutsch. Der Beschwerdeführer sei gesund, nehme keine Medikamente und könnte jederzeit arbeiten. Bislang sei er noch keiner Arbeit nachgegangen. Der Beschwerdeführer sei im Jahr 2000 in XXXX geboren worden und hätte dort die Grundschule sowie zwei Jahre lang die Hauptschule besucht. Im Jahr 2010 sei er aus Tschetschenien ausgereist, wo sich unverändert sein Vater mit dessen Familie aufhalte. Zu seinen Befürchtungen für den Fall einer aktuellen Rückkehr in den Herkunftsstaat gab der Beschwerdeführer an, vor den Gesetzen hätte er keine Angst; er habe dort jedoch nichts. In Österreich habe er zwei Jahre die Hauptschule besucht, jedoch keinen Abschluss erlangt. Danach sei er im Jahr 2014 ohne seine Mutter in die Ukraine gereist und habe dort für vier Jahre bei Verwandten seiner Mutter gelebt. 2018 sei er wieder nach Österreich zurückgekehrt. Seine Mutter hätte ihn in die Ukraine geschickt, da sie befürchtet hätte, dass der Beschwerdeführer hier Dummheiten machen würde. In der Ukraine hätte er keine Papiere gehabt. In Österreich habe er seine Mutter. Seinen Lebensunterhalt habe er mit Geld vom AMS bestritten, seine Mutter hätte Geld vom Sozialamt erhalten. Der Beschwerdeführer sei in Österreich in keinen Vereinen Mitglied und besuche keine Kurse oder Schulen. Er habe eine Vorstrafe und sei aktuell wegen des Verdachts auf Raub in Haft. Er sei jedoch nicht schuldig.

Der Beschwerdeführer wurde darüber informiert, dass ihm sein Schutzstatus infolge Straffälligkeit und geänderter Lage im Heimatland voraussichtlich abzuerkennen sein werde. Der Beschwerdeführer gab dazu an, bezüglich des Vorwurfs des Raubes unschuldig zu sein. Auf Vorhalt der beabsichtigten Verhängung eines Einreiseverbotes gab der Beschwerdeführer an, er könnte dort im Falle einer Abschiebung nicht leben, da er keine Arbeit hätte. Er möchte den Schulabschluss und dann eine Lehre machen. Dem Beschwerdeführer wurden sodann die herangezogenen Länderberichte zu seinem Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und es wurde ihm vorgehalten, dass nichts festzustellen gewesen sei, das für den Beschwerdeführer eine reale Gefahr für sein Leben oder die Gesundheit bedeuten würde. Dieser könnte selbst unter schweren Bedingungen am Arbeitsmarkt nach einer Beschäftigung suchen, seinen Lebensunterhalt allenfalls durch Verrichtung von Gelegenheitsarbeiten bestreiten, zudem könnte er auch auf Unterstützung seiner in der Russischen Föderation lebenden Familie zurückgreifen. In Anbetracht fehlender enger familiärer oder privater Bindungen und der Verurteilung des Beschwerdeführers in Österreich sei nicht ersichtlich, dass eine Rückkehrentscheidung einen ungerechtfertigten Eingriff in dessen Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens darstellen würde. Der Beschwerdeführer erklärte, er wolle hierzu nichts sagen.

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.11.2019 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 23.03.2011 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), die mit Bescheid vom 21.07.2018 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.) Gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine Gefährdungs- oder Bedrohungslage zu befürchten hätte und eine aktuelle individuelle Furcht vor Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Dieser habe im nunmehrigen Verfahren keine Gefährdung im Falle einer Rückkehr in das Heimatland ins Treffen geführt. Der Beschwerdeführer könnte seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Dieser habe nach wie vor familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatland, habe dort bis zum Jahr 2010 gelebt, die Schule besucht und leide aktuell an keinen schwerwiegenden Erkrankungen. Dem Beschwerdeführer sei der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Februar 2011 nach den Bestimmungen des Familienverfahrens abgeleitet vom Status seiner Mutter zuerkannt worden; wie dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.05.2019 zu entnehmen wäre, sei bei Vorliegen von Straffälligkeit die damalige Schutzgewährung einer individuellen Neubewertung auf Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Entscheidungszeitpunkt zu unterziehen. Da der Beschwerdeführer durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX am XXXX verurteilt worden wäre, sei nunmehr eine solche Neubewertung durchzuführen. Es bestünden keine Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer als arbeitsfähiger gesunder Mann im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation den Lebensunterhalt bestreiten könne, zumal er die dort gebräuchliche Sprache beherrsche und mit den Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut wäre. Es hätten keine derart exzeptionellen Umstände im Hinblick auf die Russische Föderation festgestellt werden können, die einer in Art. 2 oder 3 EMRK genannten Gefährdung gleichzuhalten wären. Dem Beschwerdeführer sei der Status des subsidiär Schutzberechtigten folglich gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 1. Fall AsylG 2005 abzuerkennen gewesen. Der Beschwerdeführer falle aufgrund seiner Straffälligkeit nicht mehr in das Familienverfahren und hätte selbst nie eine Gefährdungslage vorgebracht.

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 würden nicht vorliegen. Der Beschwerdeführer habe subsidiär schutzberechtigte Verwandte in Österreich, ginge hier keiner Arbeit nach und spreche ein wenig Deutsch. Überdies sei der Beschwerdeführer am XXXX wegen Körperverletzung, unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen und Diebstahls rechtskräftig verurteilt worden, sodass sein Verhalten eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle. Hinzu komme, dass er sich nunmehr wegen des Verdachts des Raubes in Untersuchungshaft befände. Im Verfahren seien keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer besonderen Integration des Beschwerdeführers in Österreich hervorgetreten. Die Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers werde durch dessen Straffälligkeit beträchtlich relativiert, sodass sich eine Rückkehrentscheidung als zulässig erweise. Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens des Beschwerdeführers sei unter Bedachtnahme auf sein Gesamtverhalten davon auszugehen, dass die im Gesetz umschriebene Annahme, dass er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, gerechtfertigt sei.

6. Mit am 08.11.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde gegen den dargestellten, dem Beschwerdeführer am 26.11.2019 zugestellten, Bescheid eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer lebe bereits seit so vielen Jahren in Österreich, dass er keine Bindungen mehr zur Russischen Föderation hätte. Er kenne das dortige soziale System nicht, habe nie in der Russischen Föderation gearbeitet, wüsste nicht, an welche Behörden er sich wenden müsste und würde demnach in eine ausweglose Lage geraten und über keine Existenzgrundlage verfügen. Aufgrund des Aufenthalts des Vaters des Beschwerdeführers in Tschetschenien, ginge das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon aus, dass der Lebensunterhalt des Beschwerdeführers im Heimatland gesichert sein werde. Dabei bleibe jedoch unberücksichtigt, dass der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme angegeben hätte, seit ca. einem halben Jahr keinen Kontakt mehr zu seinem Vater zu haben. Es sei somit höchst unsicher, ob der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr durch seinen Vater unterstützt werden könnte. Die im angefochtenen Bescheid enthaltenen Länderfeststellungen würden sich kaum mit dem konkreten Vorbringen des Beschwerdeführers befassen. Der angefochtene Bescheid enthalte keinerlei Feststellungen über die maßgeblichen Umstände, die sich im Herkunftsland des Beschwerdeführers geändert hätten, sodass ihm kein subsidiärer Schutz mehr zukommen solle. Im Bescheid sei nicht klar dargelegt worden, auf welchen Tatbestand die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gestützt werden solle. Die Behörde habe weder die Deutschkenntnisse noch das Familienleben des Beschwerdeführers in Österreich ausreichend gewürdigt. Aufgrund der Integration und des langen Aufenthalts des Beschwerdeführers in Österreich stelle die Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in dessen Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar. Die Behörde habe im Übrigen nicht einzelfallbezogen begründet, weshalb sie die Erlassung eines Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer als erforderlich erachte.

7. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 23.12.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des minderschweren Raubes nach § 142 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt, von der ihm ein Teil in der Höhe von neun Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der Beschwerdeführer reiste im Jänner 2011 im Alter von zehn Jahren zusammen mit seiner Großmutter illegal in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Der bereits zuvor gemeinsam mit ihrem damaligen Mann und den Halbgeschwistern des Beschwerdeführers ins Bundesgebiet eingereisten Mutter des Beschwerdeführers war mit Bescheid vom 28.07.2010 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden, was im Wesentlichen mit dem psychischen Gesundheitszustand der Mutter des Beschwerdeführers begründet worden war. Der Antrag auf internationalen Schutz des minderjährigen Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.03.2011 im Umfang der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (bestätigt durch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.02.2015, Zahl W196 1418235-1/6E), zugleich wurde dem damals minderjährigen Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten - abgeleitet vom Status seiner Mutter - zuerkannt. Im Verfahren des damals minderjährigen Beschwerdeführers waren seitens seiner gesetzlichen Vertreterin keine individuellen Rückehrbefürchtungen vorgebracht worden.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau, zudem beherrscht er Russisch und verfügt über Angehörige im Herkunftsstaat, welche ihm bei einer Wiedereingliederung unterstützend zur Seite stehen können werden. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Alter von zehn Jahren verlassen hat, nachdem er dort die Schule besucht hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. In Tschetschenien halten sich der Vater des Beschwerdeführers und weitere Angehörige auf.

1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach §§ 15, 136 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter im Juli 2018 mit dem Vorsatz, sich unrechtmäßig zu bereichern, einer Person fremde bewegliche Sachen wegzunehmen versucht hat, indem die Täter durch die offene Beifahrertür in deren PKW eindrangen und diesen durchsuchten, wobei es bei Versuch blieb, weil sie keine Wertsachen fanden; im Anschluss an die genannte Tathandlung verletzten sie zwei Personen vorsätzlich am Körper, indem sie auf diese einschlugen, wodurch die Opfer Hämatome im Gesicht sowie an den Unterarmen erlitten. Im August 2018 hat der Beschwerdeführer gemeinsam mit Mittätern ohne Einwilligung des Berechtigten ein Moped in Gebrauch genommen, indem einer von ihnen mehrmals den Kickstarter nach untern drückte, bis das Moped startete und sie daraufhin zu dritt auf dem Moped davon fuhren. Im September 2018 haben der Beschwerdeführer und Mittäter versucht, einen PKW ohne Einwilligung des Berechtigten in Gebrauch zu nehmen, wobei sie versuchten, sich die Gewalt über das Fahrzeug durch eine in § 129 Abs. 1 StGB geschilderte Handlung, nämlich durch das gewaltsame Öffnen des Fensters, zu verschaffen, wobei es beim Versuch bleib, da sie keinen Schlüssel fanden und das Auto nicht in Betrieb nehmen konnten. Im Rahmen der Strafbemessung wurden als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel, der teilweise Versuch, das reumütige Geständnis und das Alter des Beschwerdeführers unter 21 Jahren, als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen, gewertet.

Mit rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des minderschweren Raubes nach § 142 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt, von der ihm ein Teil in der Höhe von neun Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden ist.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer und ein Mittäter im Oktober 2019 zwei Personen durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben fremde bewegliche Sachen, nämlich insgesamt 75 Euro Bargeld, mit dem Vorsatz abgenötigt haben, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem sie die Genannten unter Androhung von Schlägen zur Übergabe des Bargelds veranlassten, wobei die Tat ohne Anwendung erheblicher Gewalt an Sachen geringen Wertes begangen wurde und keine Folgen nach sich gezogen hat.

Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet stellt eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar, da anhand seines bisherigen Lebenswandels die Gefahr der neuerlichen Begehung von Straftaten im Bereich der Eigentums- und Körperverletzungsdelikte zu prognostizieren ist.

1.4. Der neunzehnjährige Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. In Österreich halten sich die Mutter und die Halbgeschwister des Beschwerdeführers als subsidiär Schutzberechtigte auf. Zu seiner Mutter und Geschwistern steht der Beschwerdeführer in keinem persönlichen oder finanziellen Abhängigkeitsverhältnis. Der Beschwerdeführer hat sich grundlegende Deutschkenntnisse angeeignet und im Bundesgebiet im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zwei Jahre lang die Hauptschule besucht. Er hat die Pflichtschule nicht abgeschlossen, hat keine sonstige Ausbildung absolviert und er ist nie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Der Beschwerdeführer war seit Erreichen der Volljährigkeit nicht selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer hat im Zeitraum von 2014 bis 2018 bei Verwandten mütterlicherseits in der Ukraine gelebt und sich in diesem Zeitraum nicht in Österreich aufgehalten. Mit Ausnahme des Aufenthalts seiner Mutter und seiner Halbgeschwister in Österreich hat der Beschwerdeführer keine in Österreich bestehenden Bindungen ins Treffen geführt.

1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

...

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019

-

BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

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Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019

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FH - Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019

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ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019

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US DOS - United States Department of State (13.3.2019):

Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus - das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht - bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

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AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!,

https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019

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DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019

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EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf,

S. 9, Zugriff 7.8.2019

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

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HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 7.8.2019

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ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 7.8.2019

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US DOS - United States Department of State (13.3.2019):

Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht un

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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