TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/5 W239 2189311-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.03.2020
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Entscheidungsdatum

05.03.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W239 2189311-1/11E

W239 2189314-1/10E

W239 2189312-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) mj. XXXX , geb. XXXX , und 3.) mj. XXXX auch XXXX , geb. XXXX , alle StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.02.2018 zu den Zahlen 1.) XXXX , 2.) XXXX und 3.) XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.02.2019 zu Recht erkannt:

A) Den Anträgen auf internationalen Schutz wird stattgegeben und 1.)

XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., 2.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und 3.) XXXX auch XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) XXXX , 2.) XXXX und 3.) XXXX auch XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin ( XXXX ) ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin ( XXXX ) und des in Österreich geborenen minderjährigen Drittbeschwerdeführers ( XXXX auch XXXX ) . Alle sind Staatsangehörige Somalias. Die Erstbeschwerdeführerin stellte im österreichischen Bundesgebiet am 01.06.2016 im Rahmen eines Familienverfahrens für sich und als gesetzliche Vertreterin für ihre Tochter einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.06.2016 gab die Erstbeschwerdeführerin zu ihrer Person an, sie sei in Mogadischu in Somalia geboren, sei verheiratet, gehöre zur Volksgruppe der XXXX und bekenne sich zum sunnitischen Islam. Sie habe keine Berufs- oder Schulausbildung und sei zuletzt Hausfrau gewesen. Abgesehen von ihrer mitgereisten Tochter, die sich bei ihr befinde, seien die übrigen Angehörigen - nämlich ihre Eltern, ihr Ehemann und ihre sieben Geschwister - in Somalia wohnhaft. Sie sei derzeit im siebenten Monat schwanger.

Als Fluchtgrund brachte die Erstbeschwerdeführerin vor [Anm. BVwG:

in weiterer Folge werden Schreibfehler korrigiert bzw. wird eine einheitliche Schreibweise angestrebt]: "Ich habe Somalia verlassen, weil die Terrorgruppe Al Shabaab mich aufforderten, meinen Mann zu ihnen zu bringen. Mein Mann arbeitete im Innenministerium in Mogadischu. Ich wurde mit dem Umbringen bedroht, wenn ich die Forderungen der Terrorgruppe nicht erfülle und meinen Mann ausliefere. Die Terrorgruppe wollte meinen Mann auch töten und hat ihn auch angeschossen. Mein Mann ist daraufhin aus Mogadischu geflüchtet. Ich weiß nicht, wo sich mein Mann befindet. Aus Angst vor der Terrorgruppe bzw. von Ihnen getötet zu werden, habe ich Somalia mit Hilfe einer Schlepperin und meiner Schwiegermutter verlassen und will hier in Österreich für meine Tochter und mich um internationalen Schutz ansuchen." Im Falle einer Rückkehr nach Somalia befürchte sie, getötet zu werden.

2. Am 14.09.2016 brachte die Erstbeschwerdeführerin im Bundesgebiet ihren Sohn, den Drittbeschwerdeführer, zur Welt; sie stellte als gesetzliche Vertreterin für diesen am 21.10.2016 ebenso einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei im Antrag angegeben wurde, dass der Drittbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe habe.

In der Geburtsurkunde ist als Familienname XXXX vermerkt; später, am 04.09.2019, wurde beim Bundesverwaltungsgericht um Korrektur des Familiennamens auf XXXX ersucht.

3. Am 07.02.2018 fand die niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor dem BFA statt. Zu Beginn wurde die Erstbeschwerdeführerin gefragt, ob sie ausschließlich in Somalia verfolgt werde, woraufhin sie zu Protokoll gab: "Nein, werde ich nicht." Auf die Nachfrage: "Sie werden nirgends verfolgt?", antwortete sie abermals: "Nein, werde ich nicht." Auch habe sie keine Probleme mit Sicherheitsbehörden oder anderen staatlichen Institutionen gehabt. Sie habe sich in Somalia weder religiös noch politisch betätigt.

Zu ihrem Lebensmittelpunkt befragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie immer nur in Mogadischu gelebt habe. Sie sei dort geboren worden und sei auch von dort ausgereist. Sie habe mit ihren Eltern und ihren sieben Geschwistern im Haus ihres Vaters gelebt und glaube, dass diese noch immer dort wohnen würden. Kontakt habe sie nur mit einer ihrer zwei Schwestern. Nachgefragt, warum sie keinen Kontakt zu ihren Eltern habe, erklärte die Erstbeschwerdeführerin, dass sie nur Kontakt mit einer Schwester habe, da diese aus Liebe einen Mann geheiratet habe; sie sei nicht mehr bei ihren Eltern. Zu ihren Eltern habe die Erstbeschwerdeführerin nie ein gutes Verhältnis gehabt und deshalb habe sie keinen Kontakt mehr zu ihnen. Bis zu ihrer Heirat am 07.06.2013 habe sie in dem Haus gelebt. Außer den genannten Angehörigen lebe noch eine Tante und ein Onkel mütterlicherseits in Mogadischu. Bis zu ihrer Heirat hätten ihre Eltern für sie gesorgt, danach habe ihr Ehemann für sie gesorgt, der im Innenministerium gearbeitet habe. Die Erstbeschwerdeführerin sei verheiratet und habe zwei Kinder. Es sei ihr in Österreich verweigert worden, dem nachgeborenen Drittbeschwerdeführer den Familiennamen ihres Mannes zu geben ( XXXX ); er trage deshalb ihren Nachnamen ( XXXX ). Die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin trage als einzige den Nachnamen des Vaters, also des Mannes der Erstbeschwerdeführerin. Wo sich ihr Ehemann derzeit befinde, wisse sie nicht; Heiratsurkunde habe sie keine. Die Erstbeschwerdeführerin habe acht Jahre lang die Koranschule besucht; sie spreche Somalisch, Arabisch, Englisch und etwas Deutsch.

Zur Fluchtroute gab die Erstbeschwerdeführerin an, sie sei am 29.05.2016 aus Somalia ausgereist und mit dem Flugzeug nach Österreich gekommen. Eine Schlepperin habe die Reise organisiert, einen großen Teil der Kosten habe ihre Schwiegermutter bezahlt, den Rest habe sie von zuhause genommen. Sie sei nicht mit ihrem Mann geflüchtet, da sie ihn zur damaligen Zeit nicht finden habe können. In Österreich habe sie keine Freunde. Ihre Schwiegermutter wisse nur, dass sie in Europa seien, aber nicht, dass sie sich in Österreich aufhalten würden. Befragt nach ihrer Volksgruppe gab die Erstbeschwerdeführerin an, der Volksgruppe der XXXX , Stamm XXXX , Clan XXXX anzugehören.

Über Aufforderung, in einer freien Erzählung ihren Fluchtgrund darzulegen, führte die Erstbeschwerdeführerin Folgendes aus: "Als ich meinen Mann geheiratet habe, hatte ich ein zufriedenes Leben. Er hatte einen guten Job im Innenministerium. Kurz bevor er mich geheiratet hat, hat er diesen Job bekommen. Zuvor hat Al Shabaab ihn immer wieder angerufen, weil Al Shabaab wollte, dass mein Mann explosive Sachen in das Innenministerium bringt. Mein Mann wollte dies nicht. Eines Tages sind Al Shabaab zu uns nach Hause gekommen. Jemand hat an der Eingangstüre geklopft, zwei Männer sind reingekommen, ich war gemeinsam mit meinem Mann in einem Zimmer, die Männer haben meinen Mann mitgenommen, er war eine halbe Stunde weg und kam dann wieder zurück. Dann hat er mir gesagt, dass die Männer von Al Shabaab wollen, dass ich [Anm.: gemeint wohl: er, der Mann] für sie arbeite und eine Bombe in das Innenministerium bringe. Sie haben meinem Mann auch 5.000 Dollar geboten. Weiters fragten sie meinen Mann, ob er denn keine Angst um seine Familie hätte. Es kommt dann oft vor, dass Familien entführt werden. Es war dann zwei Monate eine Ruhe. Anfang März, es war ein Donnerstag, mein Mann ging in die Moschee um zu beten. Das ist ungefähr 10 Minuten von uns zuhause entfernt, in der Moschee gab es eine Schießerei; ich habe Angst bekommen, dass mein Mann ums Leben gekommen wäre. Ein Nachbar, der auch in der Moschee war, rief mich an und sagte mir, dass mein Mann in der Moschee war, und er weiß nicht, ob ihm etwas zugestoßen wäre. Meine Schwiegermutter kam zu mir nach Hause und sagte mir, dass die Verletzten in das Spital gebracht wurden. Mein Mann war nicht dabei, er war nirgends zu finden. Wir dachten, dass er vielleicht nach Hause kommen würde. Ich bin dann wieder zurück nach Hause gegangen, aber mein Mann war nicht zuhause. Wir konnten sechs Tage nichts von ihm hören. Am siebenten Tag gegen halb zwölf um Mitternacht hat jemand an die Türe geklopft. Ich habe Angst bekommen und die Türe nicht aufgemacht. Die Türe wurde dann geöffnet, sie haben Arbeitsunterlagen und den Laptop meines Mannes mitgenommen. Auf einmal hören wir, wie ein Nachbar an die Tür geklopft hat. Meine Tante hat dann die Türe aufgemacht und konnte sehen, dass jemand unser Zuhause durchsucht hat. Ich bin dann zu meiner Schwiegermutter gegangen. Von diesem Moment an habe ich entschieden, das Land zu verlassen."

Näher zum Vorfall befragt, bei dem die Al Shabaab zum Haus gekommen sei, führte die Erstbeschwerdeführerin aus, dass dieser sich Anfang März 2016 ereignet habe; es sei ein Dienstag gewesen. Konkrete Angaben rund um diesen Vorfall könne sie nicht machen. Nachdem jemand an die Türe geklopft habe, sei sie zum Zimmer ihrer Tante gelaufen. Sie habe, nachdem jemand so laut an die Türe geklopft habe, Angst bekommen und sei zu ihrer Tante ins Zimmer gegangen. Ihr Nachbar habe gesagt, dass Al Shabaab da gewesen sei. Nachgefragt, warum ihre Tante bei ihnen gewohnt habe, erklärte die Erstbeschwerdeführerin, dass das so üblich sei bei ihnen. Darauf hingewiesen, dass ihr Mann zu diesem Zeitpunkt vermisst gewesen sei, und nachgefragt, warum es nicht möglich gewesen sei, dass er an der Türe geklopft habe, entgegnete die Erstbeschwerdeführerin, dass ihr Mann nicht so an die Türe klopfen würde. Befragt, wieso Al Shabaab nicht in das Zimmer der Tante gekommen sei, erklärte die Erstbeschwerdeführerin, dass inzwischen die Nachbarn gekommen seien. Sie glaube, dass das die gleichen Leute gewesen seien, die damals ihren Mann mitgenommen hätten. Diese Männer könne sie nicht beschreiben, sie habe die Männer, die ihren Mann mitgenommen hätten, nie gesehen.

Aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung sei die Erstbeschwerdeführerin nicht verfolgt worden. Befragt, ob sie jemals aus eigenem Antrieb eine Sicherheitsbehörde aufgesucht habe, bejahte dies die Erstbeschwerdeführerin; sie sei zur Polizei gegangen, die hätten ihr aber nicht zugehört. AMISOM sei in ihrem Heimatdorf vertreten, sie würden den Präsidenten beschützen.

Abschließend wurde die Erstbeschwerdeführerin gefragt, ob sie beschnitten sei, was sie bejahte. An ihr sei die "Sunnit"-Art der Beschneidung durchgeführt worden. Als sie etwa zehn Jahre alt gewesen sei, sei sie von einer alten Frau beschnitten worden. Aufgrund der Beschneidung sei sie nicht in ärztlicher Behandlung.

Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer wurden altersbedingt nicht eigens einvernommen. Nach vorheriger Manuduktion gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie für sich und ihre Kinder Anträge im Rahmen eines Familienverfahrens gemäß § 34 AsylG 2005 stelle. Die Anträge der Kinder würden sich auf ihren eigenen Antrag beziehen; ihre Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe.

4. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 08.02.2018 wies das BFA die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und es wurde ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 08.02.2019 erteilt (Spruchpunkt III.).

5. Gegen diesen Bescheid erhoben die Beschwerdeführer durch ihre Vertretung rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde.

Inhaltlich wurde im Wesentlichen der Fluchtgrund wiederholt und ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin aufgrund des Verschwindens ihres Ehegatten und der geschilderten Vorfälle Angst vor der Al Shabaab habe; sie fürchte eine Verschleppung und Zwangsverheiratung und sei deshalb zusammen mit ihrer Tochter mit finanzieller Hilfe der Schwiegermutter geflüchtet. Die Zweitbeschwerdeführerin müsse bei einer Rückkehr nach Somalia befürchten, dass sie Opfer einer weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) werde.

Weiters wurden Fehler in der Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA bemängelt. So habe die Erstbeschwerdeführerin nicht gemeint, dass sie "nirgends" verfolgt werde, sondern sie sei ihrer Erinnerung nach gefragt worden, ob sie von der Regierung bzw. der Polizei verfolgt worden sei, was sie verneint habe. Der Ehegatte habe ihr nicht erzählt, dass Al Shabaab gewollt habe, dass er eine Bombe ins Innenministerium mitbringe, sondern er hätte eine Person mitbringen sollen, die eine Bombe dort platzieren wollte. Die in der Niederschrift erwähnte "Tante" sei nicht die Schwester der Mutter oder des Vaters der Erstbeschwerdeführerin, sondern die Erstbeschwerdeführerin und ihr Ehegatte hätten mit einer älteren Frau sowie einem älteren Ehepaar in einem Hof gelebt. In Somalia werde eine ältere Dame respektvoll als "Tante" bezeichnet.

Nicht zutreffend sei, dass die von der Erstbeschwerdeführerin angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes nicht glaubhaft seien. Den Beschwerdeführern drohe in ihrem Herkunftsland eine asylrelevante Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention. Die Erstbeschwerdeführerin befürchte einerseits eine Bedrohung durch Al Shabaab aufgrund der Tätigkeit ihres Ehegatten für die somalische Regierung und seiner Weigerung, mit der Terror-Miliz zu kooperieren, andererseits drohe ihr als Frau und Minderheitenangehörige ohne starkem Clanschutz und ohne den Schutz von männlichen Familienangehörigen, mit denen sie zusammenwohnen könne, die hohe Gefahr einer Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt. Zudem müsse die Zweitbeschwerdeführerin in Somalia mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine weibliche Genitalverstümmelung befürchten.

6. Am 28.02.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine mündliche Verhandlung statt, bei der die Erstbeschwerdeführerin die Gelegenheit erhielt, Ausführungen zur Identität und Herkunft sowie zu etwaigen Integrationsbemühungen in Österreich zu machen und anschließend ihre Fluchtgründe darzulegen sowie als gesetzliche Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers für diese ein Vorbringen zu erstatten.

Hinsichtlich ihrer eigenen Fluchtgründe brachte die Erstbeschwerdeführerin in der freien Erzählung Folgendes vor: "Am 07.06.2013 bin ich zu meinem Mann gezogen. Am Abend bin ich zu ihm gezogen nach der Hochzeitsfeier, am Vormittag wurde die Ehe geschlossen. Er hat damals für das Außenministerium gearbeitet. Am Anfang hatte ich Angst vor ihm, aber er war ein guter Mensch. Er hat mich gut behandelt. Al Shabaab hat ihn oft angerufen. Er hat mir davon erzählt. Ich habe das selbst nicht gesehen, ich habe es nur aus seinen Erzählungen. Am Anfang des Jahres 2016, genauer weiß ich es nicht, hat man an unserer Tür angeklopft. Mein Mann hat die Tür aufgemacht. Zwei Männer standen draußen. Nach der Begrüßung sagten sie ihm, sie wollen, dass er hinaus zu ihnen kommt. Sie haben dann das Haus und den Hof auch verlassen. Nach ca. 25 bis 30 Minuten ist er zurückgekommen. Er hatte Angst, als er zurückgekommen ist, ich fragte ihn: "Wer war das?" Er sagte mir dann, dass es die Al Shabaab waren. Sie haben ihm angeboten, 5.000 Dollar zu zahlen, wenn er ihren Auftrag erfüllt. Er sollte ein Auto ins Außenministerium hineinfahren lassen. Er hat das verweigert und dann haben sie ihm gesagt, ob er etwa keine Angst um seine Familie hat, wenn er das ablehnt. Zwei Monate nach dem Vorfall ist nichts passiert. Am Anfang des dritten Monats ist er zur Moschee beten gegangen, was für ihn eigentlich nicht üblich war. Er ist selten zur Moschee gegangen, da er Angst hatte. Nach dem Gebet und nachdem er die Moschee verlassen hat, gab es eine Schießerei draußen. Ein Nachbar hat angerufen und erzählte mir, dass mein Mann in dieser Schießerei verletzt wurde. Er stand vor der Moschee. Ich war schockiert, als ich das gehört habe. Ich dachte, er wird sterben und ist schwer verletzt. Ich habe dann meine Schwiegermutter angerufen, sie ist zu mir gekommen. Dann sind wir gemeinsam zum Spital gegangen. Die Verletzten wurden ins Spital gebracht. Mein Mann war leider nicht bei den Verletzten im Spital. Ich habe gedacht, vielleicht geht es ihm gut und er kommt selbst nach Hause. Er war nicht zuhause als ich nach Hause gekommen bin. Ich habe sechs Tage lang mein Handy ständig in der Hand gehabt und gewartet, dass ein Anruf von ihm kommt. Ich habe sein Handy angerufen, es war aber abgeschaltet, er war nicht erreichbar. Die Schießerei ist am Donnerstag passiert und am Dienstag hat man um ca. 00:00 Uhr oder 00:30 Uhr in der Nacht an die Tür vom Hof gehämmert. Ich habe Angst bekommen, ich und meine Tochter, ich war schwanger damals. Ich habe mein Zimmer verlassen und bin ins Zimmer des Nachbarehepaars gegangen. Es war das Zimmer gegenüber von meinem Zimmer. Die Frau gehörte dem selben Clan an. Wir haben gehört, dass die Tür aufgebrochen wurde. Die Tür war verriegelt mit einer Metallstange. Wir haben gehört, wie diese gebrochen wurde. Wir waren im Zimmer dieser Clanangehörigen. Wir haben feste Schritte gehört. Sie sind in unser Zimmer reingegangen. Sie haben eine Tasche meines Mannes genommen, wo er Akten oder Papiere drinnen hatte, ich weiß nicht genau, was es war, und einen Laptop und andere Schreiben und Papiere, die sonst im Zimmer liegen. Ich hatte dort eine Kommode. Auf dieser Kommode habe ich meine Kosmetiksachen gehabt und es gab auch Papiere vom Mann. Es gab eine Lade. Die Papiere haben sie mitgenommen. Die Papiere in der Lade haben sie auch genommen. Auf der Kommode gab es auch Ohrringe, eine Kette von mir und einen Ring. Diese Sachen haben sie aber liegen gelassen. Es gab auch eine Brosche vom Mann, wo eine somalische und amerikanische Flagge drauf war, diese haben sie mitgenommen. Die Nachbarn vom anderen Haus sind gekommen. Es waren zwei oder drei junge Männer. Als sie reingekommen sind, sind die anderen, die uns überfallen haben, aus dem Zimmer hinausgelaufen und haben die Nachbarn weggestoßen und sind weggegangen. Die Nachbarsmänner haben an unsere Tür geklopft und gesagt, dass sie die Nachbarn sind und die andern Männer gegangen sind. Wir sind dann hinausgekommen. Am nächsten Tag bin ich zu meiner Schwiegermutter gegangen. Seitdem bin ich nicht mehr zu dem Zimmer zurückgekommen. Das war mein letzter Tag dort. Ich bin zur Polizei gegangen am nächsten Tag und habe von dem Überfall erzählt. Die Polizei hat gefragt, ob ich geschlagen wurde von den Männern, ob sie mir irgendwas angetan haben. Ich sagte nein, dann sagten sie, dass ich nach Hause gehen soll. Ich soll mich wieder melden, wenn die Männer wiederkommen. Dann habe ich entschieden, das Land zu verlassen."

In weiterer Folge wurden der Erstbeschwerdeführerin zum Fluchtvorbringen zahlreiche Fragen gestellt und Vorhalte gemacht. Während der Verhandlung wurde der Erstbeschwerdeführerin auch die Möglichkeit gegeben, als gesetzliche Vertretung für ihre Tochter und ihren Sohn ein Vorbringen zu erstatten. Hinsichtlich ihrer Tochter führte sie aus, dass sie nicht wolle, dass ihre Tochter die gleichen Schwierigkeiten wie sie erleben müsse. Ihre Familie habe keinen Respekt vor Mädchen, Mädchen seien nichts wert für sie. Mädchen dürften keine Ausbildung bekommen, müssten den Mann heiraten, den die Familie aussuche, sie müssten beschnitten werden. Die Zweitbeschwerdeführerin sei noch unbeschnitten. Die Erstbeschwerdeführerin finde die in Somalia verbreitete Tradition der weiblichen Beschneidung falsch; sie habe das Gefühl, dass man damit ihre Zukunft ruiniert habe. Sie selbst sei zehn Jahre alt gewesen, als sie von einer alten Frau beschnitten worden sei. Sie glaube, dass ihr Ehemann und Vater der Tochter diese beschneiden lassen würde. Ebenso habe ihre Schwiegermutter gesagt, dass es besser sei, wenn man Mädchen beschneide, bevor sie älter würden. Auch ihre Familie würde Druck ausüben. Eine Beschneidung ihrer Tochter könne auch gegen ihren Willen vorgenommen werden, da die Familie in der Überzahl sei und das Wort habe. Sie habe Angst um ihre Tochter und auch um ihren Sohn. Hinsichtlich des Sohnes machte die Erstbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe geltend.

Vorgelegt wurde ein Ambulanzbericht vom 11.02.2019 aus dem hervorgeht, dass die Zweitbeschwerdeführerin unbeschnitten ist.

7. Mit Stellungnahme vom 18.03.3019 führte die Vertretung der Beschwerdeführer zu den in der mündlichen Verhandlung eingebrachten Erkenntnisquellen aus, dass der herangezogene Bericht die Furcht der Erstbeschwerdeführerin vor geschlechtsspezifischer Gewalt untermauere und die weitverbreitete geschlechtsspezifische Gewalt in Somalia betonte. Die Zweitbeschwerdeführerin gehöre der sozialen Gruppe von Frauen und Mädchen an, die in Somalia einem hohen Risiko ausgesetzt seien, Opfer einer weiblichen Genitalverstümmelung zu werden. Zudem müssten die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin als Teil der sozialen Gruppe von Frauen und Mädchen aus einem Minderheitenclan ohne starkem Clanschutz und ohne tragfähiger familiärer Unterstützung in Somalia wohlbegründete Furcht vor geschlechtsspezifischer Verfolgung haben.

8. Mit Schreiben vom 13.02.2020 wurde den Beschwerdeführern die aktuelle Fassung des ins Verfahren eingebrachten Länderinformationsblatts der Staatendokumentation zu Somalia (LIB Somalia, Gesamtaktualisierung: 17.09.2019) zur Kenntnis gebracht; dazu erklärte die Vertretung der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 20.02.2020 erneut, dass der Länderbericht die Furcht der Beschwerdeführer vor geschlechtsspezifischer Gewalt untermauere.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer und den vorgebrachten Fluchtgründen:

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin und des in Österreich geborenen minderjährigen Drittbeschwerdeführers. Sie stellte im österreichischen Bundesgebiet am 01.06.2016 für sich und als gesetzliche Vertreterin für ihre Tochter sowie am 21.10.2016 als gesetzliche Vertreterin für ihren Sohn die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Es liegt ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 vor.

Alle Beschwerdeführer sind somalische Staatsangehörige. Die Erstbeschwerdeführerin gehört zum Clan der XXXX , Hauptclan XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Somalisch. Sie stammt aus Mogadischu und hat dort bis zur Ausreise gelebt; zuerst mit ihren Eltern und Geschwistern und später mit ihrem Ehemann.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Erstbeschwerdeführerin aufgrund der behaupteten Tätigkeit ihres Ehemannes von der Al Shabaab in Somalia Bedrohungen zu gewärtigen hatte.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist unbeschnitten.

Festgestellt wird, dass der Zweitbeschwerdeführerin in Somalia mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit landesweit eine an ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpfende Verfolgung von maßgeblicher Intensität in Form der Gefahr einer Genitalverstümmelung droht, wogegen sie vom somalischen Staat keinen effektiven Schutz erwarten kann. Aufgrund der landesweit üblichen Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) kommt der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zu.

Für den Drittbeschwerdeführer wurde kein eigenes Fluchtvorbringen erstattet.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zum Herkunftsstaat Somalia:

Die Feststellungen zur Lage in Somalia stützen sich (auszugsweise) auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung: 17.09.2019):

"(...)

2. Politische Lage

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 4.3.2019, S.5), aber als autonomer Staat mit eigener Armee und eigener Rechtsprechung funktioniert (NLMBZ 3.2019, S.7). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2018, S.4).

Im August 2012 endete die Periode der Übergangsregierung (BS 2018, S.5). Seit damals gibt es eine politische Entwicklung, die den Beginn einer Befriedung und Stabilisierung sowie eines Wiederaufbaus staatlicher Strukturen markiert. Am 1.8.2012 wurde in Mogadischu eine vorläufige Verfassung angenommen. Seitdem ist die Staatsbildung kontinuierlich vorangeschritten (AA 5.3.2019b). Das Land hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt (UNSC 15.5.2019, Abs.78), staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert (ISS 28.2.2019). Der Aufbau von Strukturen auf Bezirksebene geht hingegen nur langsam voran (UNSC 15.5.2019, Abs.50).

Somalia ist damit zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 4.3.2019, S.4f). Die Regierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 5.6.2019b, C1). Das Land befindet sich immer noch mitten im Staatsbildungsprozess (BS 2018, S.33).

Die Herausforderungen sind dabei außergewöhnlich groß, staatliche Institutionen müssen von Grund auf neu errichtet werden. Zusätzlich wird der Wiederaufbau durch die Rebellion von al Shabaab, durch wiederkehrende Dürren und humanitäre Katastrophen gehemmt. Außerdem sind Teile der staatlichen Elite mehr mit der Verteilung von Macht und Geld beschäftigt, als mit dem Aufbau staatlicher Institutionen (BS 2018, S.33). In vielen Bereichen handelt es sich bei Somalia um einen "indirekten Staat", in welchem eine schwache Bundesregierung mit einer breiten Palette nicht-staatlicher Akteure (z.B. Clans, Milizen, Wirtschaftstreibende) verhandeln muss, um über beanspruchte Gebiete indirekt Einfluss ausüben zu können (BS 2018, S.23). Zudem ist die Bundesregierung finanziell von Katar abhängig, das regelmäßig außerhalb des regulären Budgets Geldmittel zur Verfügung stellt (SEMG 9.11.2018, S.30).

Somalia ist keine Wahldemokratie, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2018, S.13f). Es gibt keine freien und fairen Wahlen auf Bundes- (USDOS 13.3.2019, S.23; vgl. FH 5.6.2019b, A1) und auch keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler oder regionaler Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clan-Strukturen) vergeben (AA 4.3.2019, S.5f). Allgemeine Wahlen sind für das Jahr 2020 geplant (AA 5.3.2019b). Angesichts der bestehenden Probleme bleibt aber abzuwarten, ob diese Wahlen wirklich stattfinden werden (NLMBZ 3.2019, S.9). Bei den Vorbereitungen dafür wurden bisher nur wenige Fortschritte gemacht (FH 5.6.2019b, A3).

Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Dieser Prozess ist weiterhin nicht abgeschlossen (USDOS 13.3.2019, S.23), und es gibt diesbezüglich Konflikte mit den Bundesstaaten (NLMBZ 3.2019, S.7).

Die beiden Kammern des Parlaments wurden mittels indirekter Wahlen durch ausgewählte Älteste Ende 2016 / Anfang 2017 besetzt (USDOS 13.3.2019, S.1/23). Über 14.000 Wahlmänner und -frauen waren an der Wahl der 275 Abgeordneten beteiligt. Zuvor waren Abgeordnete unmittelbar durch einzelne Clanälteste bestimmt worden (AA 4.3.2019, S.6; vgl. AA 5.3.2019b). Das Unterhaus wurde nach Clan-Zugehörigkeit besetzt, das Oberhaus nach Zugehörigkeit zu Bundesstaaten. Die Wahlen zu beiden Häusern wurden generell als von Korruption durchsetzt und geschoben erachtet (USDOS 13.3.2019, S.1/23). Sie wurden von Schmiergeldzahlungen, Einschüchterungen, Stimmenkauf und Manipulation begleitet (BS 2018, S.14/19). Dieses Wahlsystem ist zwar noch weit von einer Demokratie entfernt und unterstreicht die Bedeutung der politischen Elite (BS 2018, S.22). Trotz allem waren die Parlamentswahlen ein bemerkenswerter demokratischer Fortschritt (AA 4.3.2019, S.6; vgl. AA 5.3.2019b; BS 2018, S.22).

Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 13.3.2019, S.26; vgl. BS 2018, S.13f). Die 4.5-Formel hat zwar politischen Fortschritt gewährleistet, ist aber zugleich Ursprung von Ressentiments (SRSG 13.9.2018, S.2).

Die Präsidentschaftswahl fand am 8.2.2017 statt. Die beiden Parlamentskammern wählten den früheren Premierminister Mohamed Abdullahi Mohamed "Farmaajo" zum Präsidenten (AA 4.3.2019, S.6; vgl. BS 2018, S.14; USDOS 13.3.2019, S.1). Seine Wahl wurde als fair und transparent erachtet (USDOS 13.3.2019, S.1). Im März 2017 bestätigte das Parlament Hassan Ali Kheyre als Premierminister (AA 5.3.2019b; vgl. BS 2018, S.14). Die aktuelle Regierung agiert wie eine Regierung der nationalen Einheit. Sie wurde so zusammengesetzt, dass alle relevanten Clans und Gruppen sich in ihr wiederfinden (AA 4.3.2019, S.10).

Gemäß einer Quelle üben aber salafistische Netzwerke zunehmend Einfluss auf die Regierung aus (NLMBZ, S.8f). Nach anderen Angaben kann von Salafismus keine Rede sein, vielmehr sind der Präsident und seine Entourage Moslembrüder bzw. deren Ideologie sehr nahestehend (ME 27.6.2019). Wieder eine andere Quelle berichtet, dass die politische Basis des Präsidenten eine nationalistische ist (ICG 12.7.2019, S.10). Gleichzeitig unterwandert al Shabaab das System, indem sie Wahldelegierte zur Kooperation zwingt (Mohamed 17.8.2019).

Das Konzept einer politischen Opposition ist nur schwach ausgeprägt, die Regeln der Politik sind abgestumpft. Misstrauensanträge, Amtsenthebungsverfahren und Wahlen werden zur Bereicherung und zum politischen Machtausbau missbraucht (SRSG 13.9.2018, S.4). Generell sind die Beziehungen zwischen Bundesregierung und Parlament problematisch. Außerdem kam es 2018 zu einer großen Zahl an Personaländerungen, so wurde etwa der Bürgermeister von Mogadischu, zahlreiche Minister und der Chief Justice ersetzt (NLMBZ, S.8f).

Gegen Ende 2018 war vom Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Farmaajo eingeleitet worden. Dieses Verfahren wurde jedoch Mitte Dezember 2018 aus formalen Gründen für ungültig erklärt bzw. zurückgezogen (VOA 20.12.2018; vgl. FH 5.6.2019b, A1; UNSC 15.5.2019, Abs.3). Auch zwischen Ober- und Unterhaus ist es zu politischen Auseinandersetzungen gekommen (AMISOM 15.1.2019a; vgl. UNSC 15.5.2019, Abs.3). Diese wurden im Juli 2019 vorläufig beigelegt (UNSC 15.8.2019, Abs.3).

Ein nationaler Versöhnungsprozess ist in Gang gesetzt worden. Dieser wird international unterstützt (UNSC 21.12.2018, S.6).

Föderalisierung: Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, wurden im Rahmen eines international vermittelten Abkommens von 2013 bis 2016 die Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und HirShabelle neu gegründet (AA 5.3.2019b; vgl. USDOS 13.3.2019, S.1; BS 2018, S.4f/12). Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (AA 5.3.2019b; vgl. UNSC 15.5.2019, Abs.22). Mit der Gründung der Bundesstaaten und einem relativ demokratisch erfolgten Machtwechsel konnten wichtige Weichen in Richtung Demokratisierung, legitimer Staatsgewalt und Föderalismus gestellt werden (AA 4.3.2019, S.4). Beim Prozess der Föderalisierung gab es in den letzten Jahren signifikante Fortschritte (BS 2018, S.3). Allerdings hat keine dieser Verwaltungen die volle Kontrolle über die ihr nominell unterstehenden Gebiete (USDOS 13.3.2019, S.1; vgl. BS 2018, S.15).

Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance:

Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, S.55f).

Wichtige Detailfragen zur föderalen Staatsordnung sind weiterhin ungeklärt, z.B. die Einnahmenverteilung zwischen Bund und Bundesstaaten; die jeweiligen Zuständigkeiten im Sicherheitsbereich; oder die Umsetzung der für 2020 geplanten Wahlen (AA 5.3.2019b; vgl. NLMBZ 3.2019, S.7) - und die gesamte Frage der Machtverteilung zwischen Bund und Bundesstaaten (UNSC 15.5.2019, Abs.25; vgl. UNSC 21.12.2018, S.5).

Die Bundesregierung tut sich schwer, in den Bundesstaaten Macht und Einfluss geltend zu machen (NLMBZ 3.2019, S.7). Außerdem kommt es in den Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesstaaten immer wieder zu (politischen) Spannungen (AA 5.3.2019b; vgl. NLMBZ 3.2019, S.7), die manchmal auch in Gewalt eskalierten (BS 2018, S.4).

Zusätzlich haben die Bundesstaaten abseits des Nationalen Sicherheitsrates 2017 einen Kooperationsrat der Bundesstaaten (CIC) geschaffen, welcher unter Ausschluss der Bundesregierung arbeitet (SEMG 9.11.2018, S.5; vgl. AA 5.3.2019b). Während andere Mitglieder des CIC den Dialog mit der Bundesregierung verweigerten (AMISOM 12.10.2018), hat der Präsident von HirShabelle, Mohamed Abdi Waare, diesen zwischenzeitlich gesucht (AMISOM 12.10.2018; vgl. UNSC 21.12.2018, S.1). Der CIC hat bereits zweimal die Kooperation mit der Bundesregierung suspendiert (SEMG 9.11.2018, S.31f), so etwa im September 2018. Im Oktober 2018 haben alle Bundesstaaten außer HirShabelle angekündigt, gemeinsame Sicherheitskräfte aufzustellen (UNSC 21.12.2018, S.1). Generell herrscht zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten ein besorgniserregendes Maß an Misstrauen (SRSG 13.9.2018, S.3). Dadurch wird auch die Lösung von Schlüsselfragen zu Politik und Sicherheit behindert (UNSC 15.5.2019, Abs.2; vgl. SRSG 3.1.2019, S.2).

Bei dieser Auseinandersetzung kommt u.a. die Krise am Golf zu tragen: In Somalia wird eine Art Stellvertreterkrieg ausgetragen, bei welchem die unterschiedlichen Interessen und Einflüsse speziell von Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) eine Rolle spielen. Dies hat die schon bestehenden Spannungen zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten weiter verschärft, erstere ist in zunehmende Isolation geraten (SEMG 9.11.2018, S.4/30; vgl. ICG 12.7.2019, S.9; FH 5.6.2019b, C1). Diese Entwicklung hat zur Destabilisierung Somalias beigetragen (NLMBZ 3.2019, S.10). Allerdings gibt es zumindest Anzeichen für eine Verbesserung der Situation (UNSC 15.5.2019, Abs.80). So hat sich Präsident Farmaajo für die Verschlechterung der Beziehungen zu den Bundesstaaten öffentlich entschuldigt (ICG 12.7.2019, S.9). Die Bundesregierung versucht insbesondere HirShabelle und Galmudug in ihr Lager zu ziehen (BMLV 3.9.2019). Trotzdem bleiben die Spannungen bestehen (UNSC 15.8.2019, Abs.2).

1) Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba): Jubaland wurde im Jahr 2013 gebildet, damals wurde auch Ahmed Mohamed Islam "Madobe" zum Präsidenten gewählt (USDOS 13.3.2019, S.24). Bis Anfang August hatten sich für die Neuwahl des Präsidenten neun Kandidaten registrieren lassen (UNSC 15.8.2019, Abs.6). Am 22.8.2019 wurde dann Ahmed Madobe als Präsident bestätigt. Die Wahl war allerdings umstritten: Da die Bundesregierung mehr Kontrolle gewinnen möchte, hat sie erklärt, die Wahl nicht anzuerkennen und den Wahlkandidaten der Opposition, Abdirashif Mohamad Hidig, zu unterstützen (BAMF 26.8.2019, S.6). Der Verwaltung von Jubaland ist es gelungen, zumindest in Kismayo eine Verwaltung zu etablieren. Dadurch, dass die Ogadeni auch mit anderen Clans kooperieren und diese in Strukturen einbinden, wurde die Machtbalance verbessert (BFA 8.2017, S.57ff). Diese Inkorporation funktioniert auch weiterhin, die Verwaltung in Kismayo hat sich weiter gefestigt. Außerdem konnten durch die Kooperation mit Teilen der Marehan auch die nicht der al Shabaab zuneigenden Gebiete von Gedo gefestigt werden (ME 27.6.2019).

2) South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle): Der SWS wurde in den Jahren 2014/2015 etabliert, Sharif Hassan Sheikh Adam zum ersten Präsidenten gewählt (USDOS 13.3.2019, S.24). Im Dezember 2018 wurde im SWS neu gewählt (AA 5.3.2019b). In der Folge ist im Jänner 2019 mit Abdulaziz Hassan Mohamed "Lafta Gareen" ein neuer Präsident angelobt worden (AMISOM 17.1.2019a; vgl. UNSC 27.12.2018; UNSC 15.5.2019, Abs.4). Zuvor war es zu Anschuldigungen gegen die Bundesregierung gekommen, sich in den Wahlkampf eingemischt zu haben. Ein Kandidat - der ehemalige stv. Kommandant der al Shabaab, Mukhtar Robow - war verhaftet worden, was zu gewaltsamen Demonstrationen geführt hat (SRSG 3.1.2019, S.2f; vgl. UNSC 21.12.2018, S.2). Beim Aufbau der Verwaltung konnten Fortschritte erzielt werden (BMLV 3.9.2019).

3) HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle): HirShabelle wurde 2016 etabliert. Zum Präsidenten wurde Ali Abdullahi Osoble gewählt. Anführer der Hawadle hatten eine Teilnahme verweigert (USDOS 13.3.2019, S.24f). Im Oktober 2017 wurde Mohamed Abdi Waare zum neuen Präsidenten, nachdem sein Vorgänger des Amtes enthoben worden war (UNSOM, 24.10.2017). Nach politischen Spannungen haben sich die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative verbessert (UNSC 15.5.2019, Abs.8). Die im Zuge der Bildung des Bundesstaates neu aufgeflammten Clankonflikte sind gegenwärtig weitgehend abgeflaut (ME 27.6.2019). Dazu beigetragen haben Bemühungen des Premierministers und Katars, wobei letzteres Investitionen in Aussicht gestellt hat. Man ist auf die Hawadle zugegangen. Die Clans - v.a. in Middle Shabelle - haben daraufhin ihre Proteste gegen die Regionalverwaltung reduziert. Unklar ist, ob diese neue Haltung Bestand haben wird. In Belet Weyne hingegen treffen Vertreter von HirShabelle nach wie vor auf unverminderte Ablehnung (BMLV 3.9.2019). Sowohl in den von HirShabelle in Middle Shabelle kontrollierten Gebieten wie auch in Belet Weyne ist eine Verbesserung der Verwaltung zu verzeichnen (BMLV 3.9.2019).

4) Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug): Im Jahr 2015 wurde die Regionalversammlung von Galmudug vereidigt. Sie wählte Abdikarim Hussein Guled zum ersten Präsidenten. Dieser trat im Feber 2017 zurück. Unter dem neuen Präsidenten Ahmed Duale Gelle "Haaf" wurden Friedensgespräche mit der Ahlu Sunna Wal Jama'a (ASWJ) initiiert. Die Gruppe kontrolliert Teile von Galgaduud (USDOS 13.3.2019, S.24). Ende 2017 wurde mit der ASWJ ein Abkommen zur Machtteilung abgeschlossen (UNSC 15.5.2019, Abs.7; vgl. AMISOM 5.7.2019). Ab September 2018 wuchsen die politischen Spannungen. Im Oktober 2018 wurde in Cadaado ein Gegenpräsident gewählt, während Ahmed "Haaf" weiterhin von Dhusamareb aus regiert (UNSC 21.12.2018, S.2). In der Folge kam es zu Diskussionen und Spannungen über das Datum der nächsten Wahlen. Im März 2019 hat die NISA sogar die Kontrolle über das Gelände des Präsidentensitzes übernommen (UNSC 15.5.2019, Abs.7). Während Haaf das Abkommen mit der ASWJ für nichtig erklärt hat, hat diese mit der Bundesregierung eine Einigung erzielt (UNSC 15.8.2019, Abs.5). Galmudug wird von Hawiye/Habr Gedir/Sa'ad dominiert (EASO 2.2016, S.17).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (Deutschland) (5.3.2019b): Somalia - Innenpolitik, URL, Zugriff 10.4.2019

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AMISOM (17.1.2019a): 17 January 2019 - Morning Headlines [Quelle:

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AMISOM (15.1.2019a): 15 January 2019 - Daily Monitoring Report [Quelle: Halbeeg News], Newsletter per E-Mail

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AMISOM (12.10.2018): 12 October 2018 - Daily Monitoring Report [Quelle: Jowhar News], Newsletter per E-Mail

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Mohamed, Abdirizak Omar / Hiiraan.com (17.8.2019): The Recent Al-Shabab Resurgence: Policy Options for Somalia, URL, Zugriff 23.8.2019

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USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Somalia, URL, Zugriff 18.3.2019

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VOA - Voice of America / Mohamed Olad Hassan (20.12.2018):

Somalia's Parliament Drops Impeachment of President, URL, Zugriff 22.1.2019

2.1. Puntland

(...)

3. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Die Sicherheitslage bleibt instabil und unvorhersagbar (AMISOM 7.8.2019, S.2). Zwar ist es im Jahr 2018 im Vergleich zu 2017 zu weniger sicherheitsrelevanten Zwischenfällen und auch zu einer geringeren Zahl an Todesopfern gekommen, doch ist die Sicherheitslage weiterhin schlecht. Sie ist vom bewaffneten Konflikt zwischen AMISOM (African Union Mission in Somalia), somalischer Armee und alliierten Kräften auf der einen und al Shabaab auf der anderen Seite geprägt. Zusätzlich kommt es in ländlichen Gebieten zu Luftschlägen (NLMBZ 3.2019, S.17). Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (USDOS 13.3.2019, S.1). Wer sich in Somalia aufhält, muss sich der Gefährdung durch Terroranschläge, Kampfhandlungen, Piraterie sowie krim

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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