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19/05 MenschenrechteNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. April 2019, W177 2132269-1/16E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M K), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin in seinen Spruchpunkten A II. und A III., wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 29. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 25. Juli 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
3 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies nach Durchführung einer Verhandlung die dagegen erhobene Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. ab, gab der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Weiters sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 4 Begründend führte das BVwG - zusammengefasst und soweit für das gegenständliche Verfahren von Bedeutung - aus, der in Mazar-e Sharif geborene Mitbeteiligte gehöre der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung an. Er habe sich ab seinem zweiten Lebensjahr bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 durchgehend im Iran aufgehalten und sei danach nie wieder in Afghanistan gewesen. Der Mitbeteiligte habe etwa vier Jahre lang im Iran die Schule besucht und verfüge über erste Berufserfahrungen als Hilfsarbeiter. Er sei gesund und arbeitsfähig. Seine Mutter sowie seine Geschwister seien weiterhin im Iran aufhältig, wobei der Mitbeteiligte bei einer Ansiedlung in Afghanistan nicht mit finanzieller Unterstützung seitens seiner Familie rechnen könne. Im Übrigen verfüge er weder über familiäre noch soziale Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat. Der Vater des Mitbeteiligten sei ein Mujaheddin gewesen und mehrmals nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei er im Zuge dieser Aufenthalte in Ghazni getötet worden sei.
5 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erwog das BVwG, es könne keine Herkunftsregion des Mitbeteiligten identifiziert werden, weil er keinerlei Nahebezug zu der Region im Herkunftsstaat habe, in welcher er geboren worden sei. Daher habe das BVwG auf die Feststellung einer Herkunftsregion als Voraussetzung für die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative verzichtet.
6 Weiters sei neben der allgemeinen und für alle Afghanen herrschenden prekären Versorgungslage im Hinblick auf Zugang zu Arbeit und Wohnraum im Fall des Mitbeteiligten hervorzuheben, dass sich seine Situation als "Iran-Rückkehrer" bei einer Ansiedlung insbesondere in Kabul oder in einer anderen vergleichbaren größeren Stadt entscheidungswesentlich von der Situation jener afghanischen Staatsangehörigen unterscheide, die ihr ganzes Leben in Afghanistan - wenn auch nicht in einer der Großstädte - verbracht hätten und dort zur Gänze sozialisiert worden seien. Der Mitbeteiligte wäre aufgrund individueller Gefährdungsfaktoren - geringe Kenntnis der kulturellen Gepflogenheiten, fehlende Kenntnis der infrastrukturellen Gegebenheiten, fehlendes Unterstützungsnetzwerk, Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, Exponiertheit als "Iran-Rückkehrer", geringe Bildung und Berufserfahrung - als "Fremder im eigenen Land" exponiert und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei der Arbeits- sowie Wohnraumsuche Diskriminierungen ausgesetzt. Er wäre daher nicht in der Lage, nach anfänglichen Schwierigkeiten in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein relativ normales Leben ohne unangemessene Härten zu führen. Daher sei ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen. 7 Gegen die Spruchpunkte A II. und A III. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Amtsrevision. In ihr wird zur Zulässigkeit vorgebracht, die Revision hänge von der Rechtsfrage ab, welcher Gefährdungsmaßstab in Fällen, in denen ein Fremder niemals in seinem Herkunftsstaat im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 17 Asylgesetz 2005 gelebt habe, im Hinblick auf den Zielort der Rückführung heranzuziehen sei. Es stelle sich die Rechtsfrage, ob eine Rückkehr in dieser Konstellation unter dem Blickwinkel einer Verletzung des Art. 3 EMRK oder der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu beurteilen sei.
8 Überdies bringt die Revision vor, das Erkenntnis des BVwG weiche von den Leitlinien der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative ab. Die dabei vom BVwG angeführten Schwierigkeiten für "Iran-Rückkehrer" bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche würden jedoch nicht per se die Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative begründen. Dass eine Person im Iran geboren und aufgewachsen sei, mache für die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative keinen wesentlichen Unterschied, wenn die Person aufgrund ihrer Erziehung mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut sei. Dies habe der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach erkannt und sei auch einem näher genannten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zugrunde gelegen. In Hinblick auf das zusätzliche Argument des BVwG, dass der Mitbeteiligte als schiitischer Hazara diskriminiert werde, habe der Verwaltungsgerichtshof bereits erkannt, dass diesem Umstand keine entscheidende Bedeutung zukomme. Da es auf den Umstand, dass der Mitbeteiligte schiitischer Hazara sei, nicht entscheidungswesentlich ankomme und die Länderberichte nicht aufzeigen würden, dass der Mitbeteiligte vom Zugang zu Arbeit und Wohnraum generell faktisch komplett ausgeschlossen sei, weiche das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab. 9 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Amtsrevision beantragte.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Amtsrevision ist zulässig, sie ist auch begründet.
12 Wenn in der Revision vorgebracht wird, es sei unklar,
welcher Gefährdungsmaßstab in Fällen, in denen der Fremde niemals im Herkunftsstaat gelebt habe, im Hinblick auf den Zielort der Rückführung heranzuziehen sei, ist sie auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0221, zu verweisen, nach der "dem Konzept der innerstaatlichen Fluchtalternative (...) der subsidiäre Charakter des internationalen Schutzes zugrunde(liegt), wonach ein Antragsteller dann nicht als schutzbedürftig anzusehen ist, wenn für ihn die Möglichkeit besteht, in einem Teil seines Herkunftsstaates Schutz zu finden. Auch wenn dieses Konzept grundsätzlich auf einer Unterscheidung zwischen der Heimatregion eines Asylwerbers und einem anderen Teil des Herkunftslandes basiert (siehe dazu etwa die EASO, Practical Guide: Qualification for international Protection, 2018, 39), steht der Gesetzeswortlaut einer Übertragung auf Fälle, in denen der Asylwerber tatsächlich keine Heimatregion hat, nicht entgegen" (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221, mwN).
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 26. Februar 2020, Ra 2019/18/0017, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, zu einem in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ähnlich gelagerten Fall ausgeführt, dass es im Zuge der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht - wie das BVwG fälschlicherweise meinte - darauf ankommt, ob Asylwerber über keine detaillierten Ortskenntnisse betreffend die afghanischen Großstädte verfügen. Die Situation von sogenannten "Iran-Rückkehrern" unterscheide sich daher auch nicht maßgeblich von jener, in der sich afghanische Staatsangehörige befinden, die sich Zeit ihres Lebens in anderen Teilen Afghanistans aufgehalten haben und solche Kenntnisse gleichfalls nicht aufweisen (vgl. auch VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN). 14 Soweit das BVwG bei der Prüfung außerdem erwog, dass der Mitbeteiligte als "Fremder im eigenen Land" exponiert sei und bei der Arbeitsplatz- sowie Wohnraumsuche diskriminiert würde, ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0243, mwN).
15 Das BVwG hat im gegenständlichen Fall zwar die Möglichkeit einer schweren Lebenssituation für den Mitbeteiligten bei einer Rückführung nach Afghanistan aufgezeigt, nicht jedoch, dass damit im Sinn der oben zitierten Rechtsprechung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung des Mitbeteiligten vorliegen würde.
16 Auch hat es eine einzelfallbezogene Abwägung der Argumente, die für und wider das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen, zwar vorgenommen, dabei jedoch wesentliche Umstände außer Acht gelassen:
17 Im angefochtenen Erkenntnis geht das BVwG bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzes ausdrücklich davon aus, bei den Städten Herat oder Mazar-e Sharif handle es sich um Orte, in denen die willkürliche Gewalt ein derart geringes Ausmaß erreicht, dass es im Allgemeinen für Zivilisten nicht wahrscheinlich erscheint, tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes zu werden. Individuelle gefahrenerhöhende Umstände, aus denen sich eine spezielle Gefährdung des Mitbeteiligten ableiten ließe, seien nicht erkennbar. Weiters führte das BVwG aus, er sei ein Mann im erwerbsfähigen Alter, bei dem die Teilnahme am Erwerbsleben aufgrund der vierjährigen Schulbildung und der Berufserfahrung als Hilfsarbeiter grundsätzlich vorausgesetzt werden könne. Dennoch gelangte das BVwG zur Annahme der Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative, wobei es sich dabei auf die fehlenden Ortskenntnisse, geringe Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten sowie fehlende familiäre bzw. soziale Anknüpfungspunkte und fehlende finanzielle Unterstützung seitens des Mitbeteiligten stützte.
18 Für die Annahme, der Mitbeteiligte sei nicht mit den in Afghanistan herrschenden Gepflogenheiten vertraut, lässt sich dem Erkenntnis keine nachvollziehbare Begründung entnehmen. Mit dem Umstand, dass der Mitbeteiligte im Verband seiner afghanischen Familie aufgewachsen ist und sozialisiert wurde, setzte sich das BVwG in diesem Zusammenhang nur unzureichend auseinander. 19 In Hinblick auf das letzte Argument des BVwG, der Mitbeteiligte sei als Angehöriger der ethnischen und religiösen Minderheit der Hazara weitreichenden Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt, ist nicht ersichtlich, dass damit im Sinn der oben zitierten ständigen Rechtsprechung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung vorliegen würde (vgl. hierzu etwa VwGH 28.3.2019, Ra 2018/14/0428; mit Verweis auf EGMR 5.7.2016, A.M./Niederlande, 29.094/09). 20 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 20. März 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180194.L00Im RIS seit
19.05.2020Zuletzt aktualisiert am
19.05.2020