Index
40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AlVG 1977 §10 Abs1 Z3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofräte Dr. Strohmayer und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima LL.M., über die Revision des Arbeitsmarktservice Wien Esteplatz in 1030 Wien, Ungargasse 37, als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juli 2016, W145 2119398-1/7E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: A A in W, vertreten durch Mag. Andreas Krautschneider, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Trautsongasse 6), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Der Bund hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.
Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis hob das Verwaltungsgericht in Stattgebung der Beschwerde des Mitbeteiligten den Bescheid der revisionswerbenden Partei (im Folgenden: AMS) vom 5. November 2015 sowie die (diesen Bescheid bestätigende) Beschwerdevorentscheidung des AMS vom 23. Dezember 2015 - worin jeweils ausgesprochen worden war, dass der Mitbeteiligte den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum vom 10. September bis zum 21. Oktober 2015 wegen Verweigerung der Teilnahme an einer Wiedereingliederungsmaßnahme gemäß den §§ 38, 10 Abs. 1 Z 3 AlVG ohne Erteilung einer Nachsicht und unter Ausschluss der aufschiebenden Wirkung verloren habe - auf.
2.2. Das Verwaltungsgericht führte in den "Feststellungen" aus, der Mitbeteiligte habe mit dem AMS im Zuge seiner Vorsprache am 20. August 2015 vereinbart, dass er eine (näher erörterte) Wiedereingliederungsmaßnahme besuche. Das diesbezügliche Einladungsschreiben habe aus technischen Gründen nicht sofort ausgefolgt werden können, sodass die Zustellung per Post angekündigt worden sei. Ort und Datum der Maßnahme seien bei der Vorsprache noch nicht bekannt gegeben worden, sondern sollten sich aus dem Einladungsschreiben ergeben. Laut dem Zustellnachweis sei das Schreiben nach einem erfolglosen Zustellversuch (am 27. August 2015) am 28. August 2015 zur Abholung bei der Poststelle hinterlegt worden; die Sendung sei in der Folge nicht behoben und nach Ablauf der Hinterlegungsfrist an das AMS retourniert worden. Der Mitbeteiligte habe weder vom Einladungsschreiben noch von der Hinterlegungsanzeige Kenntnis erlangt und daher die am 10. September 2015 begonnene Maßnahme nicht angetreten.
In der "Beweiswürdigung" hielt das Verwaltungsgericht (unter anderem) fest, der Mitbeteiligte habe laut seinem Vorbringen die Hinterlegungsanzeige nicht in sein Hausbrieffach bekommen. Das Verwaltungsgericht erachte dieses Vorbringen - im Gegensatz zum AMS - als durchaus "glaubhaft" und "nicht als unbeachtliche Schutzbehauptung". Der Mitbeteiligte habe auch nachvollziehbar angegeben, dass Poststücke manchmal zunächst in die falschen Brieffächer eingeworfen, in der Folge auf der Hausbrieffachanlage abgelegt und letztlich zusammen mit dem dort deponierten Werbematerial weggeworfen würden. Es erscheine daher "durchwegs denkmöglich und plausibel", dass eine in ein falsches Brieffach eingeworfene und sodann auf der Hausbrieffachanlage abgelegte Sendung verloren gehe. Dieses "keineswegs unplausible Vorbringen" lasse "berechtigte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Zustellvorgangs" aufkommen. Der Mitbeteiligte habe auch noch nie Vereitelungshandlungen gesetzt und die Termine stets eingehalten. Es sei daher "kein überzeugender Grund ersichtlich", warum er die Nichtzustellung des Schreibens "wahrheitswidrig behaupten sollte".
In der "rechtlichen Beurteilung" führte das Verwaltungsgericht (im Wesentlichen) aus, der Zustellnachweis (eine öffentliche Urkunde) erbringe vollen Beweis dafür, dass die Zustellung vorschriftsmäßig erfolgt sei, es sei jedoch der Gegenbeweis zulässig. Gegenständlich liege laut dem Vorbringen des Mitbeteiligten ein Zustellmangel vor, zumal Poststücke manchmal in die falschen Brieffächer eingeworfen, in der Folge auf der Hausbrieffachanlage abgelegt und letztlich zusammen mit dem Werbematerial weggeworfen würden. Es sei daher "durchaus im Bereich des Möglichen", dass die Hinterlegungsanzeige in ein falsches Brieffach eingeworfen bzw. auf der Hausbrieffachanlage deponiert worden sei und in der Folge verloren gegangen sei. Der Mitbeteiligte habe daher konkrete Umstände aufgezeigt, "die berechtigte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Zustellvorgangs" aufkommen ließen.
Aber selbst für den Fall, dass die Zustellung ordnungsgemäß erfolgte, könnte dem Mitbeteiligten jedenfalls kein von § 10 AlVG vorausgesetztes (zumindest bedingt) vorsätzliches Handeln unterstellt werden. Da das Verwaltungsgericht im Vorbringen des Mitbeteiligten, wonach dieser keine Kenntnis von der Hinterlegungsanzeige erlangt habe, keine (bloße) Schutzbehauptung sehe, könnte er die Hinterlegungsanzeige lediglich bei Sichtung der Post übersehen haben. Ein diesbezügliches vorsätzliches Handeln sei aber nicht ersichtlich, zumal der Mitbeteiligte als sorgfältiger Mensch zu erachten sei, der bei Sichtung der Post mit der gehörigen Sorgfalt agiert und nicht nachlässig bewusst in Kauf genommen habe, dass er behördliche Sendungen übersehe. Eine Vereitelung des Erfolgs der Wiedereingliederungsmaßnahme durch den Mitbeteiligten liege daher nicht vor.
2.3. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht zulässig sei.
3. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, zu der der Mitbeteiligte - nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung erstattete.
Das AMS führt zur Zulässigkeit der Revision aus, das Verwaltungsgericht sei in mehreren - im Folgenden näher erörterten - Punkten von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen. Das AMS zeigt dabei jedoch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG auf.
4. Voranzustellen ist zunächst, dass die Beurteilung der Zulässigkeit der außerordentlichen Revision ausschließlich im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe zu erfolgen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist daher weder verpflichtet, solche Gründe anhand der übrigen Revisionsausführungen gleichsam zu suchen, noch berechtigt, von Amts wegen erkannte Gründe, die zur Zulässigkeit der Anfechtung führen könnten, aufzugreifen (VwGH 7.8.2017, Ra 2015/08/0134).
5.1. Das AMS macht geltend, das angefochtene Erkenntnis weise keine ausreichende Feststellung des wesentlichen Sachverhalts auf, zumal der Entscheidung nicht zu entnehmen sei, ob das Einladungsschreiben als zugestellt anzusehen sei oder nicht.
5.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs hat die Begründungspflicht nach § 29 Abs. 1 VwGVG grundsätzlich jenen Anforderungen zu entsprechen, die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden (vgl. VwGH 19.5.2017, Ra 2017/03/0044). Demnach sind in der Begründung die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen sowie die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen (vgl. VwGH 21.10.2014, Ro 2014/03/0076). Was die - hier im Blick stehende - erstgenannte Voraussetzung betrifft, so erfordert diese eine eindeutige und konkrete, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts (vgl. VwGH 14.9.2016, Ra 2015/08/0145).
5.3. Vorliegend ist dem AMS zwar zuzugestehen, dass die vom Verwaltungsgericht getätigten "Feststellungen" den relevanten Sachverhalt nicht deutlich zum Ausdruck bringen. Allerdings lässt sich den - wenngleich disloziert - im Rahmen der "Beweiswürdigung" und der "rechtlichen Beurteilung" getroffenen weiteren Feststellungen (siehe die obige Wiedergabe in Punkt 2.2.) klar entnehmen, dass das Verwaltungsgericht die Darstellung des Mitbeteiligten, wonach dieser die Hinterlegungsanzeige nicht in sein Hausbrieffach bekommen hat und daher keine wirksame Zustellung erfolgt ist, als erwiesen angenommen hat. Im Hinblick darauf liegt aber eine konkrete und eindeutige Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts vor, auf deren Basis eine Rechtsverfolgung durch die Parteien und auch eine nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof möglich ist.
6.1. Das AMS führt aus, das angefochtene Erkenntnis gehe in keiner Weise auf den Einwand ein, dass der Mitbeteiligte wegen des zu erwartenden Einladungsschreibens (zeitnahe zu seiner Vorsprache) beim AMS hätte nachfragen müssen.
6.2. Ob den Mitbeteiligten eine diesbezügliche Erkundigungsobliegenheit traf, kann hier freilich dahingestellt bleiben.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung erkennt, ist Voraussetzung dafür, dass eine Verweigerung bzw. Vereitelung einer Wiedereingliederungsmaßnahme angenommen werden kann, ein Verschulden des Leistungsbeziehers in Form des Vorsatzes (vgl. VwGH 23.1.2015, Ra 2014/08/0051; 6.9.2007, 2007/08/0103 ua.).
Vorliegend wurde jedoch vom AMS in keiner Weise vorgebracht, dass der Mitbeteiligte die in Rede stehende Erkundigung beim AMS wegen des zu erwartenden Einladungsschreibens vorsätzlich (und nicht bloß fahrlässig) unterlassen habe. Anhaltspunkte für ein qualifiziertes Verschulden in Form des Vorsatzes sind im Verfahren auch in keiner Weise hervorgekommen.
7.1. Das AMS releviert, das Verwaltungsgericht habe festgestellt, dass es sich beim Mitbeteiligten um einen sorgfältigen Menschen handle, dem (selbst im Fall des Übersehens der Hinterlegungsanzeige bei Sichtung der Post) kein Vorsatz anzulasten sei. Das Verwaltungsgericht habe jedoch keine mündliche Verhandlung durchgeführt, um sich ein persönliches Bild vom Mitbeteiligten zu machen.
7.2. Vorliegend gründete das Verwaltungsgericht seine Entscheidung in erster Linie darauf, dass in Ansehung des Einladungsschreibens keine ordnungsgemäße Zustellung erfolgt sei, weil der Mitbeteiligte die Hinterlegungsanzeige nicht in sein Hausbrieffach bekommen habe. Alternativ führte es aus, dass selbst für den Fall der ordnungsgemäßen Zustellung kein (von § 10 AlVG vorausgesetztes) vorsätzliches Handeln unterstellt werden könne, weil der Mitbeteiligte als sorgfältiger Mensch zu erachten sei, der bei Sichtung der Post mit der gehörigen Sorgfalt agiert und nicht nachlässig bewusst in Kauf genommen habe, dass er behördliche Sendungen übersehe.
Das Verwaltungsgericht nahm somit eine alternative Begründung - einerseits für den Fall des Fehlens einer ordnungsgemäßen Zustellung des Einladungsschreibens, andererseits für den Fall des Vorliegens einer ordnungsgemäßen Zustellung - vor. Nur im zweitgenannten Fall bedarf es aber einer weitergehenden Prüfung, ob dem Mitbeteiligten eine (vorsätzliche) Verweigerung bzw. Vereitelung der Wiedereingliederungsmaßnahme anzulasten sei. Nur in Bezug auf diese Prüfung macht das AMS eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend (vgl. dazu auch S 11 der Revision:
"Das Arbeitsmarktservice vertritt die Ansicht, dass im gegenständlichen Verfahren eine mündliche Verhandlung (...) erforderlich gewesen wäre, da im Erkenntnis darauf verwiesen wird, dass es sich bei dem BF um einen sorgfältigen Menschen handelt und ihm nicht vorwerfbar wäre, dass er bei der Sichtung der Poststücke in nachlässiger Weise agiert hätte, durch die er bewusst in Kauf genommen hätte, behördliche Schriftstücke zu übersehen").
7.3. Beruht aber ein Erkenntnis - wie vorliegend - auf alternativen Begründungen und wird in Ansehung einer tragfähigen Begründungsalternative (hier: Fehlen einer wirksamen Zustellung des Einladungsschreibens) keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (hier: Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung) aufgezeigt, so erweist sich die Revision als nicht zulässig. Dies selbst dann, wenn davon auszugehen wäre, dass die andere Begründungsalternative rechtlich unzutreffend sei (VwGH 1.6.2017, Ra 2017/20/0145; 15.12.2016, Ra 2016/02/0144).
8. Das AMS macht geltend, die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach der Mitbeteiligte als sorgfältiger Mensch zu erachten sei, der bei Sichtung der Post mit der gehörigen Sorgfalt agiert und nicht nachlässig bewusst in Kauf genommen habe, dass er behördliche Sendungen übersehe, sei auch vor dem Hintergrund, dass er das Einladungsschreiben habe erwarten müssen, "unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten". Zudem werde in keiner Weise ausgeführt, dass der Mitbeteiligte damals besonders viel Post bekommen habe, was dazu hätte führen können, dass er die Hinterlegungsanzeige bei Sichtung der Post übersehe.
Diese Ausführungen beziehen sich ebenso auf jene andere Begründungsalternative, auf die es hier nicht ankommt (vgl. eingehend Punkt 7.). Im Hinblick darauf ist auch das weitere Vorbringen nicht geeignet, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufzuwerfen.
9. Das AMS moniert, das angefochtene Erkenntnis stütze sich auf eine (näher erörterte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts, die jedoch zu einer nicht vergleichbaren Fallkonstellation ergangen sei.
Dem ist zu entgegnen, dass es für die Zulässigkeit der Revision ausschließlich darauf ankommt, ob das angefochtene Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder eine Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht einheitlich beantwortet wird, was vorliegend jeweils nicht der Fall ist.
10. Insgesamt wird daher in der Revision keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb zurückzuweisen.
11. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 51 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 14. April 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2016080122.L00Im RIS seit
02.06.2020Zuletzt aktualisiert am
02.06.2020