TE Vwgh Erkenntnis 2020/3/30 Ra 2019/05/0076

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Veröffentlicht am 30.03.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

ABGB §1332
AVG §71
AVG §72
VwGG §46 Abs1
VwGVG 2014 §33
VwGVG 2014 §33 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bayjones und den Hofrat Dr. Enzenhofer sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Wölfl, über die Revision des B E in K, vertreten durch die Heid und Partner Rechtsanwälte GmbH in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 88/2-4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Salzburg vom 12. März 2019, 405- 2/149/1/6-2019, 405-2/154/1/6-2019, betreffend Abweisung eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen einen abfallwirtschaftsrechtlichen Strafbescheid (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Salzburg-Umgebung), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1 Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Salzburg-Umgebung (im Folgenden: Bezirkshauptmannschaft) vom 17. September 2018 wurde dem Revisionswerber als handelsrechtlichem Geschäftsführer und somit als gemäß § 9 VStG zur Vertretung nach außen befugtem Organ der E. GmbH die Übertretung eines (näher bezeichneten) Tatbestandes des Abfallwirtschaftsgesetzes 2002 - WG 2002 durch ein (näher umschriebenes) Verhalten angelastet und über ihn eine Geldstrafe von EUR 2.100,00 (Ersatzfreiheitsstrafe von 84 Stunden) verhängt. Dieses Straferkenntnis wurde dem Revisionsvertreter am 20. September 2018 zugestellt.

2 Mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2018 stellte der Revisionswerber an die Bezirkshauptmannschaft den Antrag, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung der Beschwerde gegen diesen Bescheid zu bewilligen, und erhob gleichzeitig Beschwerde gegen den Bescheid. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages brachte er (unter der Überschrift "1.1 Darstellung des Systems der Fristenwahrung in der Kanzlei") im Wesentlichen vor, dass die einlangenden Poststücke in der Kanzlei von der Assistentin M. geöffnet und auf allfällige einzuhaltende Fristen kontrolliert würden. Diese Dokumente würden markiert und an die für den Rechtsanwalt jeweils zuständige Assistentin, im Verhinderungsfall an deren Vertretung, übergeben. Das gegenständliche Verfahren werde in der Kanzlei von Rechtsanwalt Dr. L. inhaltlich vertreten, dessen Assistentin B. sei. Werde von dieser festgestellt, dass eine Frist vorhanden sei, werde diese Frist im Fristenbuch unter Nennung des Aktes und der vorzunehmenden Handlung vermerkt, wobei B. auch prüfe, ob von M. eine Frist übersehen worden sei. In der Folge werde diese Frist von B. und einer zweiten Assistentin nach dem 4- Augen-Prinzip kontrolliert. Die Fristen würden weiters unmittelbar im Schriftstück unter Angabe des Fristendes und im Fristenbuch der Kanzlei wiederum nach dem 4-Augen-Prinzip mit der Anmerkung, welche Assistentinnen die Frist geprüft hätten, vermerkt. Die eingelangten Poststücke würden dann dem zuständigen Rechtsanwalt vorgelegt, der diese nochmals auf allenfalls vorhandene Fristen und auf die Richtigkeit der Fristberechnung kontrolliere. Bislang sei es zwar noch nie vorgekommen, dass Fristen nicht vermerkt worden seien. Sollte jedoch eine übersehene Frist vom Rechtsanwalt bemerkt werden, lasse er diese im Fristenbuch nachtragen. Parallel dazu werde von der jeweils zuständigen Sekretärin die Frist sowohl im allgemeinen elektronischen Kanzleikalender als auch im persönlichen elektronischen Kanzleikalender des jeweiligen Rechtsanwaltes zusätzlich vermerkt, der auch diese Eintragung unmittelbar nach Vorlage des Poststückes kontrolliere und gegebenenfalls eine Korrektur vornehme. Sämtliche Rechtsanwälte prüften täglich anhand ihrer persönlichen Kalender und des Fristenbuches, ob Fristen fällig seien.

3 Üblicherweise würden Fristakten vom rechtsfreundlichen Vertreter bereits mehrere Tage vor Ablauf inhaltlich bearbeitet und werde dem Mandanten ein Entwurf des Schriftsatzes übermittelt. Nach Freigabe durch den Mandanten werde der Schriftsatz umgehend abgefertigt. Sobald der Schriftsatz freigegeben worden sei, weise der Rechtsanwalt die zuständige Assistentin an, diesen Schriftsatz samt Beilagen für die Abfertigung vorzubereiten, die in der Folge dem Rechtsanwalt unverzüglich den finalisierten Schriftsatz vorlege. Mehrmals wöchentlich werde von den Rechtsanwälten am Nachmittag geprüft, ob die unterfertigten und kuvertierten Schriftsätze tatsächlich im Postausgangsfach lägen. Sollten diese nicht dort liegen, werde bei den Assistentinnen rückgefragt, damit eine rechtzeitige Abfertigung gewährleistet sei. Unter einem werde von den Rechtsanwälten auch regelmäßig überprüft, ob die Post tatsächlich von der für den jeweiligen Tag zuständigen Mitarbeiterin aus dem Postausgangsfach mitgenommen und zur Post gebracht worden sei. Am nächsten Tag, nach Abfertigung, würden die Schriftstücke gemeinsam mit der Einschreibbestätigung dem zuständigen Rechtsanwalt vorgelegt. Bislang sei es in der Kanzlei noch nie zu Beanstandungen gekommen. Dabei sei anzumerken, dass die Kanzlei trotz Um- bzw. Neugründung am 1. September 2018 seit vielen Jahren existiere und das Personal bereits seit langer Zeit bei den tätigen Rechtsanwälten beschäftigt sei. Bislang seien sämtliche fristgebundenen Schriftstücke innerhalb der Frist abgefertigt worden.

4 Zum konkreten Fristversäumnis brachte der Revisionswerber im Wiedereinsetzungsantrag vor, dass der zu bekämpfende Bescheid am 20. September 2018 in der Kanzlei eingelangt sei und die Beschwerdefrist von B. entsprechend der oben dargestellten Vorgehensweise im Fristenbuch, dem elektronischen Kanzleikalender und dem persönlichen Kalender des Rechtsanwaltes Dr. L. eingetragen worden sei. Dem Revisionswerber sei von seiner rechtsfreundlichen Vertretung am 4. Oktober 2018 der Entwurf der Beschwerde übermittelt und dieser von jenem am 15. Oktober 2018 freigegeben worden. B. sei vom 15. Oktober 2018 bis zum 20. Oktober 2018 auf Urlaub gewesen. Ihre Vertreterin sei Sch. gewesen. Nach Freigabe durch den Revisionswerber habe Rechtsanwalt Dr. L. Sch. angewiesen, ihm den Schriftsatz zur Abfertigung rechtzeitig vor Fristende vorzulegen. Im Zuge der standardmäßigen Überprüfung seines Kalenders am 18. Oktober 2018 habe er festgestellt, dass ihm der Beschwerdeschriftsatz noch nicht vorgelegen sei, weshalb er bei Frau Sch. urgiert habe, die ihm unverzüglich den Schriftsatz zur Unterfertigung gebracht habe. Rechtsanwalt Dr. L. habe Frau Sch. den unterfertigten Schriftsatz übergeben, die diesen sodann kuvertiert habe. Versehentlich habe sie dabei ein Kuvert ohne Sichtfenster genommen, welches aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen auf dem Stapel mit den Sichtfensterkuverts gelegen sei, und dieses verschlossene Kuvert in das Postausgangsfach gelegt, dabei jedoch nicht kontrolliert, ob es sich dabei tatsächlich um ein Sichtfensterkuvert handle. Sch. habe in der Folge von Dr. L. mehrere weitere verschlossene Kuverts ohne Sichtfenster erhalten, die von ihr am nächsten Tag in der Früh persönlich bei einem Mandanten abzugeben gewesen seien. Am Ende des Arbeitstages habe Sch. die gesamten im Postausgangsfach befindlichen Schriftstücke genommen und diese gemeinsam mit den zum Mandanten zu bringenden Kuverts in ihre Handtasche gegeben. Bei der Postaufgabe habe sie sämtliche Schriftstücke, die an diesem Tag aufzugeben gewesen seien, genommen und die Kuverts mit Sichtfenster bei der Post aufgegeben. Dr. L. habe bei seinem abendlichen Kontrollgang vor dem Verlassen der Kanzlei festgestellt, dass das Postausgangsfach und der Schreibtisch von Sch. leer gewesen seien, und daher angenommen, dass die Beschwerde zur Post gebracht worden sei. Am nächsten Morgen habe Dr. L. ersucht, ihm den Einschreibnachweis für die Beschwerde zu übergeben. In der Folge sei ihm vom Mandanten mitgeteilt worden, dass sich bei den übergebenen Kuverts auch eines befunden habe, welches offenbar irrtümlich übermittelt worden sei.

5 Sch. sei seit 2009 in der Kanzlei tätig. Ihr sei bei der Postaufgabe und im Rahmen der Fristenwahrung noch nie ein Fehler unterlaufen. Sch. sei eine überdurchschnittlich sorgfältige Mitarbeiterin, die im Zuge der kanzleiinternen Organisation auch mit der Abwicklung des Zahlungsflusses beauftragt sei, wodurch das besondere Vertrauen in ihre Person noch unterstrichen werde. Das zur Fristwahrung in der Kanzlei eingerichtete System erlaube es, die einzuhaltenden Fristen zu wahren, wobei mehrfach abgesichert sei, dass auch allfällige Fehler einzelner Personen nicht dazu führten, dass Fristen versäumt würden. Im gegenständlichen Fall habe die Frist nur deshalb nicht eingehalten werden können, weil Sch. die Beschwerde irrtümlich in ein Kuvert ohne Sichtfenster gegeben und dieses daher irrtümlich nicht aufgegeben habe, weil sie gedacht habe, dass sie dieses Kuvert zu einem Mandanten bringen müsse. Der Rechtsanwalt (Dr. L.) habe dieses Versehen (der Assistentin Sch.) nicht rechtzeitig bemerken können, weil das Postausgangsfach leer gewesen sei und er daher habe annehmen dürfen, dass sämtliche Poststücke abgefertigt und zur Post gebracht worden seien. Ein derartiges Versehen sei weder dem seit 2009 eingetragenen Rechtsanwalt noch der seit 2009 tätigen Kanzleikraft jemals unterlaufen. Dem Revisionswerber könne daher kein Verschulden an diesem unvorhersehbaren und unabwendbaren Ereignis angelastet werden.

6 Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft vom 4. Dezember 2018 wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 71 Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG abgewiesen. Dazu führte die Bezirkshauptmannschaft im Wesentlichen (u.a.) aus, dass gerade in Fällen besonderer Dringlichkeit das Fehlen bzw. die Unzulänglichkeit eines Kontrollsystems, insbesondere ob zur Postaufgabe vorgesehene Sendungen tatsächlich zur Post gegeben und versendet worden seien, nicht mehr als minderer Grad des Versehens zu werten sei.

7 Der Revisionswerber erhob dagegen an das Landesverwaltungsgericht Salzburg (im Folgenden: Verwaltungsgericht) Beschwerde, das am 18. Februar 2019 eine mündliche Verhandlung durchführte, in der Sch. als Zeugin vernommen wurde.

8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde (Spruchpunkt I.) die Beschwerde als unbegründet abgewiesen und (Spruchpunkt II.) eine ordentliche Revision für unzulässig erklärt. In dem mit diesem Erkenntnis verbundenen Beschluss traf das Verwaltungsgericht den weiteren Ausspruch, dass (Spruchpunkt I.) die Beschwerde gegen den genannten Bescheid vom 17. September 2018 als verspätet zurückgewiesen werde und (Spruchpunkt II.) dagegen eine ordentliche Revision nicht zulässig sei.

9 Das Verwaltungsgericht führte dazu im Wesentlichen (u.a.) aus, dass das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft dem Rechtsvertreter des Revisionswerbers am 20. September 2018 zugestellt worden sei und die Beschwerdefrist somit am 18. Oktober 2018 geendet habe. Die Beschwerde sei am 18. Oktober 2018 vom zuständigen Rechtsanwalt Dr. L. unterfertigt, von Sch. einkuvertiert und in weiterer Folge in das Postausgangsfach der Kanzlei gelegt worden. Am Nachmittag dieses Tages sei sämtliche Post der Kanzlei von Sch. zur Post gebracht und seien Kuverts ohne Sichtfenster mitgenommen worden, um diese am nächsten Tag zu einem Mandanten zu bringen. Durch ein Versehen habe Sch. die Beschwerde in ein Kuvert ohne Sichtfenster gegeben und dieses Kuvert in weiterer Folge anstatt zur Post am nächsten Tag bei einem Mandanten abgegeben. Der Mandant habe mitgeteilt, dass sich bei den überbrachten Kuverts auch eines befunden habe, welches offenbar irrtümlich an ihn gelangt sei. Außerdem habe am nächsten Morgen Dr. L. den Einschreibenachweis für die Beschwerde verlangt, dieser sei jedoch nicht vorhanden gewesen. Sch. sei seit 2009 in der Kanzlei tätig. Die Kanzlei sei jedoch am 1. September 2018 neu gegründet worden. Sch. arbeite erst seit diesem Zeitpunkt mit Rechtsanwalt Dr. L. zusammen und dies auch nur in jenen Fällen, in denen dessen Assistentin B. auf Urlaub sei.

10 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht unter anderem unter Hinweis auf § 71 Abs. 1 Z 1, Abs. 2 und 3 AVG aus, dass der Wiedereinsetzungsantrag innerhalb der Frist des § 71 Abs. 2 AVG gestellt worden sei. Im gegenständlichen Fall sei das Fristversäumnis nicht unmittelbar vom Revisionswerber selbst, sondern vom beauftragten Rechtsvertreter bzw. von dessen Mitarbeiterin zu verantworten. Das Versehen der Anwaltssekretärin durch Kuvertierung in ein Kuvert ohne Sichtfenster sei zweifelsfrei als unvorhergesehenes Ereignis zu qualifizieren, weil der Vertreter des Revisionswerbers dies nach den getroffenen Feststellungen nicht habe erwarten können. Allerdings scheitere die beantragte Wiedereinsetzung an dem Umstand, dass dem Revisionswerber im Wege seiner Rechtsvertretung letztlich mehr als ein bloß minderer Grad des Versehens zuzurechnen sei. 11 Dazu sei anzumerken, dass Sch. erst seit 1. September 2018 mit dem zuständigen Rechtsanwalt Dr. L. zusammengearbeitet habe. Die Kanzlei sei am 1. September 2018 neu gegründet bzw. umgegründet worden. Auch wenn Sch. für ihre vorherige Kanzlei eine langjährige verlässliche Mitarbeiterin gewesen sei, habe der Vertreter des Revisionswerbers nicht mit Erfolg darlegen können, dass er seiner berufsgebotenen Sorgfalts- und Überwachungspflicht entsprechend nachgekommen sei. Das Fristversäumnis wäre nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes wohl vermeidbar gewesen, wenn der Rechtsanwalt vor Postaufgabe die Schriftstücke bzw. die Kuverts kontrolliert hätte. Dabei hätte dem Rechtsanwalt auffallen müssen, dass sich im Postausgang ein Kuvert ohne jegliche Adresse in einem Umschlag befunden habe. Da Sch. erst sehr kurze Zeit mit dem Vertreter des Revisionswerbers zusammengearbeitet habe und der Schriftsatz ohnehin erst am letzten Tag der Frist zur Post hätte gebracht werden sollen, hätte der Rechtsanwalt genaueste Kontrollen durchzuführen gehabt. Die Bezirkshauptmannschaft habe somit im Ergebnis den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht abgewiesen. 12 Da die Beschwerdefrist am 18. Oktober 2018 geendet habe, die Beschwerde gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft vom 17. September 2018 jedoch erst am 2. November 2018 eingebracht worden sei, sei diese als verspätet zurückzuweisen. 13 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.

14 Die Bezirkshauptmannschaft verwies in ihrem Schriftsatz vom 29. Juli 2019 auf ihren Bescheid vom 4. Dezember 2018 und das angefochtene Erkenntnis und stellte den Antrag, die Revision als unbegründet abzuweisen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

15 Die Revision ist in Anbetracht des Vorbringens in ihrer Zulässigkeitsbegründung (§ 28 Abs. 3 VwGG) unter dem Blickwinkel der hg. Judikatur zu den Sorgfaltsanforderungen an einen beruflichen rechtskundigen Parteienvertreter im Zusammenhang mit der Organisation seines Kanzleibetriebes und eines hinreichenden, wirksamen Kontrollsystems zur Sicherstellung der fristgerechten Setzung von Prozesshandlungen zulässig. Ihr kommt auch Berechtigung zu.

16 Die Revision führt dazu (u.a.) aus, dass das angefochtene Erkenntnis offenbar irrtümlich von der Anwendbarkeit des § 71 AVG ausgehe. Nach der hg. Judikatur stelle das Verschulden eines Kanzleibediensteten für den Parteienvertreter dann ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis (im Sinne des § 33 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG) dar, wenn der Vertreter der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber dem Kanzleibediensteten nachgekommen sei. Entscheidend sei daher, ob dem Parteienvertreter ein grobes Auswahlverschulden, grobe Mängel der Kanzleiorganisation oder eine mangelhafte Kontrolle seiner Angestellten anzulasten seien. Die Zumutbarkeit von Kontrollmaßnahmen ende bei rein manipulativen Tätigkeiten von bewährten Kanzleikräften. So habe der Verwaltungsgerichtshof im Beschluss VwGH 28.2.2014, 2014/03/0001, sogar explizit festgehalten, dass es keine Verletzung der Sorgfaltspflicht darstelle, wenn der Rechtsanwalt sich nach Zusammenstellung und Kontrolle eines Mängelbehebungsschriftsatzes nicht von der richtigen Kuvertierung der Mängelbehebungspostsendung

überzeuge. Wenn das Verwaltungsgericht für den gegenständlichen Fall eine nicht zumutbare und der ständigen Rechtsprechung widersprechende Kontrollmaßnahme mit der Begründung der erst kurzen Zusammenarbeit zwischen Dr. L. und Sch. fordere, verkenne es, dass es sich bei der Kuvertierung und Postaufgabe um keine neue Aufgabe für die langjährige und verlässliche Rechtsanwaltsassistentin gehandelt habe (wie etwa in dem von der Bezirkshauptmannschaft angeführten Beschluss VwGH 17.12.2015, Ra 2015/02/0222) und es schon aus logischen Gründen keinen Unterschied mache, für welchen Rechtsanwalt ein Schriftstück kuvertiert und zur Post gebracht werde. Die versehentliche Kuvertierung in einem Kuvert ohne Sichtfenster hätte Sch. ebenso bei der Bearbeitung eines Schriftsatzes ihres zugeteilten Rechtsanwaltes passieren können. Für die langjährige und sonst zuverlässig arbeitende Assistentin sei dieser rein manipulative Vorgang alltägliche Arbeit gewesen und habe ihr daher ohne nähere Beaufsichtigung überlassen werden können. Eine Verletzung der Überwachungs- und Sorgfaltspflicht liege daher ebenso wenig wie ein fehlendes Kontrollsystem vor.

17 Bei Sch. handle es sich um eine sonst immer zuverlässig arbeitende Angestellte. Trotz der erst kurzen Zusammenarbeit mit Dr. L. habe die Postaufgabe eines Schriftstückes keine neue Tätigkeit für die erfahrene, bereits seit über neun Jahren in der Kanzlei beschäftigte Arbeitskraft dargestellt. Eine abweichende Aufgabenverteilungssituation, die eine erhöhte Aufmerksamkeit des Rechtsanwaltes erfordert hätte, sei nicht vorgelegen, weil die Postaufgabe von Schriftstücken zu den alltäglichen, rein manipulativen Aufgaben der Kanzleikräfte gehöre. Dies gelte unabhängig davon, ob es sich - wie gegenständlich - um eine Vertretungssituation gehandelt habe, weil es aus rein praktischen Gründen oft dazu komme, dass Schriftstücke auch von anderen als den "zugeteilten" Assistenten zur Post gebracht würden. Rechtsanwalt Dr. L. hätte daher diesen technischen Vorgang beim Abfertigen des Schriftstückes ohne nähere Beaufsichtigung der verlässlichen Kanzleikraft überlassen können, was er im Übrigen nicht getan habe, weil er das Postausgangsfach und den Schreibtisch von Sch. am Abend des 18. Oktober 2018 noch kontrolliert habe. Eine genaueste Kontrolle, ob Sch. den Schriftsatz tatsächlich zur Post gebracht habe - wie vom Verwaltungsgericht gefordert -, sei dem Rechtsanwalt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes jedenfalls nicht zumutbar und würde seine Sorgfaltspflicht überspannen. 18 Im Wiedereinsetzungsantrag - und in der Beschwerde - sei detailliert dargelegt worden, wie die Kontrolle der Fristen und der Postaufgabe in der Kanzlei des Rechtsvertreters des Revisionswerbers ablaufe. Das Verwaltungsgericht sei auf dieses Vorbringen überhaupt nicht eingegangen und habe aufgrund einer sich als unzutreffend erweisenden Rechtsmeinung diesbezüglich keine relevanten Tatsachenfeststellungen getroffen. Hätte das Verwaltungsgericht derartige Feststellungen getroffen, wäre es zu einem anderen Erkenntnisspruch, nämlich zur Stattgabe des Wiedereinsetzungsantrages, gelangt.

19 Dazu ist Folgendes auszuführen:

Das Verwaltungsgericht hatte seiner Entscheidung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zugrunde zu legen (vgl. etwa VwGH 28.5.2019, Ra 2018/05/0188, mwN).

20 Bei Versäumen der Beschwerdefrist ist § 33 VwGVG (und sind nicht die §§ 71, 72 AVG) als maßgebliche Bestimmung für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzuwenden, weil es sich dabei um ein Verfahren über eine im VwGVG geregelte Beschwerde handelt (vgl. etwa Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte2 § 33 VwGVG K 19 und E 21; ferner etwa VwGH 5.12.2018, Ra 2018/20/0441, mwN). Auf diese Bestimmung kann die zu § 71 AVG ergangene hg. Judikatur im Hinblick darauf, dass diese Gesetzesbestimmung im Wesentlichen inhaltlich § 33 VwGVG entspricht (vgl. dazu Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte2 § 33 VwGVG K 1 und 7), übertragen werden (vgl. etwa VwGH 13.9.2017, Ra 2017/12/0086, und VwGH 25.9.2018, Ra 2016/05/0018, mwN).

21 § 33 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, in der Fassung

BGBl. I Nr. 24/2017 lautet auszugsweise:

"Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

§ 33. (1) Wenn eine Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, dass sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist oder eine mündliche Verhandlung versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

...

(3) Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist in den Fällen des Abs. 1 bis zur Vorlage der Beschwerde bei der Behörde, ab Vorlage der Beschwerde beim Verwaltungsgericht binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses zu stellen. In den Fällen des Abs. 2 ist der Antrag binnen zwei Wochen

1. nach Zustellung eines Bescheides oder einer gerichtlichen Entscheidung, der bzw. die das Rechtsmittel als unzulässig zurückgewiesen hat, bzw.

2. nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Stellung eines Antrags auf Vorlage Kenntnis erlangt hat, bei der Behörde zu stellen. Die versäumte Handlung ist gleichzeitig nachzuholen.

..."

22 Nach der hg. Judikatur ist ein Verschulden des Vertreters einer Partei an der Fristversäumung dem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten. Das Versehen einer Kanzleiangestellten eines Rechtsanwalts ist dem Rechtsanwalt (und damit der Partei) dann als Verschulden anzulasten, wenn er die ihm zumutbare und nach der Sachlage gebotene Überwachungspflicht gegenüber der Kanzleiangestellten verletzt hat. Ein berufsmäßiger Parteienvertreter hat die Organisation seines Kanzleibetriebes so einzurichten, dass auch die richtige Vormerkung von Terminen und damit die fristgerechte Setzung von - mit Präklusion sanktionierten - Prozesshandlungen gesichert erscheint. Dabei ist durch entsprechende Kontrollen u.a. dafür vorzusorgen, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind. Das, was der Wiedereinsetzungswerber in Erfüllung seiner nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht vorgenommen hat, hat er im Wiedereinsetzungsantrag substantiiert zu behaupten. Rein technische Vorgänge beim Abfertigen von Schriftstücken kann ein Rechtsanwalt ohne nähere Beaufsichtigung einer ansonsten verlässlichen Kanzleikraft überlassen. Solche Vorgänge sind etwa die Kuvertierung, die Beschriftung eines Kuverts oder die Postaufgabe, also manipulative Tätigkeiten. Eine regelmäßige Kontrolle, ob eine erfahrene oder zuverlässige Kanzleikraft rein manipulative Tätigkeiten auch tatsächlich ausführt, ist dem Parteienvertreter nicht zuzumuten, will man seine Sorgfaltspflichten nicht überspannen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 29.5.2018, Ra 2018/15/0023, mwN).

23 Wenn im Wiedereinsetzungsantrag in keiner Weise dargelegt wird, ob irgendwelche Kontrolleinrichtungen vorgesehen sind oder ob jemals eine Kontrolle der manipulativen Vorgänge im Kanzleibetrieb oder der Kanzleiangestellten erfolgt ist, kann von einer Organisation des Kanzleibetriebes, die eine fristgerechte Setzung von Vertretungshandlungen mit größtmöglicher Zuverlässigkeit sicherstellt, und von einer wirksamen Überwachung keine Rede sein. Fehlt es an einem diesbezüglichen Vorbringen, liegt jedenfalls kein bloß minderer Grad des Versehens vor (vgl. etwa VwGH 23.7.2013, 2013/05/0115; ferner etwa VwGH 19.9.2017, Ra 2017/20/0102, mwN).

24 Im vorliegenden Fall hat, wie oben dargestellt, der Revisionswerber im Wiedereinsetzungsantrag die internen Organisationsabläufe des Kanzleibetriebes umfassend dargelegt. Unter anderem wurde von ihm dargestellt, dass mehrmals wöchentlich von den Anwälten am Nachmittag geprüft werde, ob die unterfertigten und kuvertierten Schriftsätze tatsächlich im Postausgangsfach lägen, und, sollten diese nicht dort liegen, bei den Assistentinnen rückgefragt werde, damit eine rechtzeitige Abfertigung gewährleistet sei. Zusätzlich werde von den Rechtsanwälten auch regelmäßig überprüft, ob die Post tatsächlich von der für den jeweiligen Tag zuständigen Mitarbeiterin aus dem Postausgangsfach mitgenommen und zur Post gebracht worden sei. Am nächsten Tag, nach Abfertigung, würden die Schriftstücke gemeinsam mit der Einschreibbestätigung dem zuständigen Rechtsanwalt vorgelegt. Im konkreten Fall habe der Vertreter bei seinem abendlichen Kontrollgang vor Verlassen der Kanzlei sogar nochmals festgestellt, dass das Postausgangsfach und der Schreibtisch von Frau Sch. leer gewesen seien, weshalb er angenommen habe, dass die Beschwerde zur Post gebracht worden sei. Trotz Umbzw. Neugründung der Kanzlei am 1. September 2018 existiere diese seit vielen Jahren und sei das Personal bereits seit langer Zeit bei den tätigen Rechtsanwälten beschäftigt. Bislang seien sämtliche fristgebundenen Schriftstücke innerhalb der Frist abgefertigt worden.

25 Im angefochtenen Erkenntnis hat sich das Verwaltungsgericht mit diesem Vorbringen des Revisionswerbers nicht auseinandergesetzt und insbesondere keine Feststellungen zu dem bereits im Wiedereinsetzungsantrag dargelegten Organisationsablauf in der Kanzlei des Rechtsvertreters des Revisionswerbers getroffen. Diese Feststellungen wären jedoch für die Beurteilung, ob das in der Kanzlei eingerichtete Kontrollsystem geeignet ist, eine fristgerechte Setzung von Prozesshandlungen mit größtmöglicher Zuverlässigkeit sicherzustellen, entscheidungswesentlich gewesen.

26 Dazu kommt, dass die Fristversäumung im vorliegenden Fall auf einem Versehen einer bereits seit dem Jahr 2009 in der Kanzlei tätigen und - dem Vorbringen zufolge - sonst zuverlässig arbeitenden Kanzleiangestellten im Rahmen von rein technischen (manipulativen) Vorgängen beim Abfertigen von Schriftstücken beruhte. Eine regelmäßige Kontrolle, ob eine erfahrene oder zuverlässige Kanzleikraft rein manipulative Tätigkeiten auch tatsächlich ausführt, ist jedoch einem Parteienvertreter nicht zuzumuten, will man dessen Sorgfaltspflicht nicht überspannen (vgl. nochmals VwGH 29.5.2018, Ra 2018/15/0023, mwN). 27 Da somit entscheidungswesentliche Feststellungen zu den internen Organisationsabläufen in der Kanzlei des Rechtsvertreters des Revisionswerbers im oben genannten Sinn im angefochtenen Erkenntnis nicht getroffen wurden und sich das Verwaltungsgericht mit dem diesbezüglichen Vorbringen des Revisionswerbers im angefochtenen Erkenntnis nicht auseinandergesetzt hat, war dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. 28 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff iVm der Verordnung, BGBl. II Nr. 518/2013, in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 30. März 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019050076.L00

Im RIS seit

18.05.2020

Zuletzt aktualisiert am

18.05.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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