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19/05 MenschenrechteNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Oktober 2019, Zl. W193 2161780- 1/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: S S in W, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 10. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er damit, er sei von zwei seiner Brüder, die bei den Taliban aktiv gewesen seien, gedrängt worden, sich den Taliban anzuschließen. Überdies sei er von den "Daesh" mit Drohbriefen aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen.
2 Mit Bescheid vom 12. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und setzte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) der Beschwerde des Mitbeteiligten statt, erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten zu und stellte fest, dass dem Mitbeteiligten kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Gleichzeitig sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
4 Das Verwaltungsgericht ging - zusammengefasst - davon aus, der Mitbeteiligte sei in seiner Heimat Rekrutierungsversuchen durch die Taliban ausgesetzt gewesen. Im Falle seiner Rückkehr drohe ihm Gefahr, auf Grund seiner durch die Flucht gewerteten Weigerung, für die Taliban tätig zu werden, und seiner dadurch zum Ausdruck kommenden (unterstellten) politischen Gesinnung von den Taliban getötet zu werden. Diese Bedrohung beziehe sich auf das gesamte afghanische Staatsgebiet. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob das BFA die vorliegende Amtsrevision. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf kostenpflichtige Zurückweisung, in eventu Abweisung der Amtsrevision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Die Amtsrevision ist hinsichtlich der im Zulässigkeitsvorbringen aufgezeigten Abweichung des angefochtenen Erkenntnisses zur näher dargelegten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu einem weitgehend identen Sachverhalt hinsichtlich unzureichender Feststellungen zum Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative zulässig; sie ist auch begründet.
7 Der vorliegende Revisionsfall gleicht in den für seine Erledigung wesentlichen Punkten jenem, den der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ra 2019/19/0069, entschieden hat. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.
8 Die Amtsrevision moniert zu Recht betreffend die Annahme einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr des Mitbeteiligten im gesamten Staatsgebiet Afghanistans und die daraus folgende Verneinung einer innerstaatlichen Fluchtalternative, ausgehend von den Länderberichten eine fehlende Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichts dazu, ob die Taliban Personen, wie den Mitbeteiligten, der nach der im Bescheid des BFA getroffenen Annahme kein "high value target" darstellt, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans, insbesondere in Gebieten, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen, über Jahre hinweg wegen der Weigerung, sich ihnen anzuschließen, suchen und finden. Der bloße Hinweis auf ein "landesweites Netz der Taliban" überzeugt nicht. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wenn es von einer Entscheidung des BFA abweichen will, gehalten, auf die beweiswürdigenden Argumente des BFA einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. zuletzt VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, Rn. 30, mwN).
9 Weiters verkennt das Verwaltungsgericht die bisherige Rechtsprechung zur Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative, wonach allein die Tatsache, dass der Mitbeteiligte in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere (vgl. grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001).
10 Darüber hinaus ist in der vorliegenden Revisionssache zu beachten, dass das vom Verwaltungsgericht als glaubwürdig erachtete Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten bereits mehrere Jahre zurückliegt. Daher wäre für die Frage der Verfolgungsgefahr im gesamten Heimatstaat konkret zu prüfen, ob der Mitbeteiligte im Zeitpunkt der Entscheidung (hier des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit und nicht mit einer entfernten Möglichkeit mit Verfolgungshandlungen im gesamten Staatsgebiet Afghanistans rechnen müsste (Aktualität der Verfolgung; vgl. zuletzt VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, Rn. 31, mwN).
11 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.
Wien, am 6. April 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010443.L00Im RIS seit
16.06.2020Zuletzt aktualisiert am
16.06.2020