TE Vwgh Erkenntnis 2020/4/7 Ra 2018/11/0166

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Veröffentlicht am 07.04.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
68/01 Behinderteneinstellung

Norm

AVG §52
BEinstG §14 Abs1
BEinstG §2
EinschätzungsV 2010
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick, den Hofrat Dr. Grünstäudl und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision der R E in L, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in 1020 Wien, Praterstern 2/1.DG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 2018, Zl. W265 2148968-1/14E, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 1.1. Mit Bescheid vom 19. November 2015 hatte die belangte Behörde festgestellt, dass die Revisionswerberin ab 22. September 2015 mit einem Grad der Behinderung von 60 v.H. dem Kreis der begünstigten Behinderten angehöre.

2 1.2. Mit Bescheid vom 10. Jänner 2017 stellte die belangte Behörde nach Durchführung einer Nachuntersuchung gemäß §§ 2 und 14 Abs. 1 und 2 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) fest, dass die Revisionswerberin mit einem Grad der Behinderung von 30 v.H. die Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten nicht mehr erfülle. Die Revisionswerberin gehöre daher mit Ablauf des Monats, der auf die Zustellung des Bescheides folge, nicht mehr dem Kreis der begünstigten Behinderten an.

3 1.3. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der Revisionswerberin - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und bestätigte den angefochtenen Bescheid mit der Maßgabe, dass die Zitierung des Grades der Behinderung im Spruch entfalle. Unter einem sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4 1.3.1. Das Verwaltungsgericht führte in seiner Begründung aus, bei der Revisionswerberin bestünden Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern würden. Es handle sich um eine degenerative Veränderung der Wirbelsäule, eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung (COPD Stadium "Gold II"), nicht insulinpflichtiger Diabetes und leichter Bluthochdruck. Bei der Revisionswerberin liege zum Entscheidungszeitpunkt (des Verwaltungsgerichtes) kein Grad der Behinderung von mindestens 50 v.H. vor. Dies ergäbe sich aus einem orthopädischen Sachverständigengutachten vom 12. Mai 2017 bzw. einem allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten vom 19. März 2018, die jeweils vom Verwaltungsgericht eingeholt wurden.

5 1.3.2. Weiters führte das Verwaltungsgericht aus, dem Einwand der Revisionswerberin, wonach die Herabsetzung des Grades der Behinderung durch die belangte Behörde zu Unrecht erfolgt sei, sei nicht zu folgen, da durchaus eine Verbesserung des führenden Leidens im Vergleich zum Vorgutachten eingetreten sei. Die Revisionswerberin sei den eingeholten Sachverständigengutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten. Zu dem Antrag der Revisionswerberin auf Untersuchung durch einen Facharzt bzw. eine Fachärztin für Neurologie sei auf (näher zitierte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach kein gesetzlicher Anspruch auf die Beiziehung von Fachärzten bestimmter Richtung bestünde. Vielmehr komme es auf die Schlüssigkeit der eingeholten Gutachten an. In den im vorliegenden Fall eingeholten, schlüssigen Sachverständigengutachten werde auf sämtliche Einwendungen und vorgelegten Befunde eingegangen; die neurologischen Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Wirbelsäulenleiden seien berücksichtigt und korrekt eingestuft worden. Darüber hinaus fänden sich keinerlei Hinweise auf weitere neurologische Leiden der Revisionswerberin. Bei der Revisionswerberin liege mit einem Grad der Behinderung von 40 v.H. aktuell kein Grad der Behinderung von mindestens 50 v.H. (mehr) vor. Der Grad der Behinderung sei, da dieser mit weniger als 50 v.H. eingeschätzt werde, hingegen nicht bescheidmäßig festzustellen. Die Beschwerde sei daher mit der Maßgabe als unbegründet abzuweisen gewesen, dass die Zitierung des Grades der Behinderung im Spruch entfalle.

6 Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG - trotz des in der Beschwerde gestellten Antrages auf eine mündliche Verhandlung - entfallen können, weil der entscheidungsrelevante Sachverhalt (Art und Ausmaß der Funktionseinschränkungen) vor dem Hintergrund der vorliegenden, nicht substantiiert bestrittenen schlüssigen Sachverständigengutachten geklärt sei.

7 1.4. Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

8 2. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 2.1. Die Revision bringt zur Begründung der Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht habe seine Verhandlungspflicht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG verletzt, da im gegenständlichen Fall eine mündliche Verhandlung von der Revisionswerberin in der Beschwerde vom 20. Februar 2017 beantragt und zum Ergebnis der Beweisaufnahme vom 23. April 2018 ein zusätzliches Vorbringen der Revisionswerberin erstattet worden sei. Die mündliche Erörterung hätte entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Parteivorbringens und der Möglichkeit der Fragestellung an die beigezogenen Sachverständigen eine weitere Klärung der Rechtssache erwarten lassen und zu einer anderen Entscheidung führen können, weshalb gemäß § 24 VwGVG sowie Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten gewesen sei.

10 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch begründet.

11 2.2. Das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 24/2017, lautet (auszugsweise):

"Verhandlung

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn

1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder

2.

die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist;

3.

wenn die Rechtssache durch einen Rechtspfleger erledigt

wird.

(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.

(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.

(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden."

12 2.3.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ermöglicht es gerade die mündliche Verhandlung (deren Durchführung nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes steht) in einem Verfahren betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten, einerseits im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, ergänzende Fragen an den beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (vgl. unter vielen VwGH 15.7.2019, Ra 2017/11/0254, 8.7.2015, Ra 2015/11/0036, mwN). Die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zu den Sachverständigengutachten schriftlich Stellung zu nehmen, kann die Durchführung einer Verhandlung (jedenfalls) nicht ersetzen (vgl. nochmal VwGH Ra 2016/11/0029, mit Hinweis auf VwGH 11.5.2016, Ra 2016/11/0008).

13 2.3.2. Das Verwaltungsgericht durfte - worauf die Revision zutreffend hinweist vor diesem Hintergrund nicht davon ausgehen, dass es ungeachtet des von der Revisionswerberin in der Beschwerde vom 20. Februar 2017 bzw. der Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme vom 23. April 2018 gestellten Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von einer solchen absehen könne. Vielmehr war schon die erste Voraussetzung der genannten Bestimmung ("wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt") im vorliegenden Fall nicht erfüllt (vgl. auch insofern wiederum VwGH Ra 2017/11/0254; Ra 2016/11/0029; Ra 2016/11/0057). Dies war dem Verwaltungsgericht auch offenbar durchaus bewusst, hat es doch selbst die den Feststellungen zugrunde gelegten Gutachten eingeholt.

14 3.1. Das Verwaltungsgericht hat demnach gegen die Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung verstoßen. Bereits aus diesem Grund war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

15 3.2. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF. BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 7. April 2020

Schlagworte

Gutachten Beweiswürdigung der Behörde widersprechende Privatgutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2018110166.L00

Im RIS seit

26.05.2020

Zuletzt aktualisiert am

26.05.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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