Entscheidungsdatum
26.11.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W212 2111863-2/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva SINGER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, gegen die Spruchpunkte I., II., IV., V. und VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.09.2019, Zl. 1020071800-190297102 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl. I Nr. 51/1991 idgF, sowie § 10 Abs. 1 Z 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52 Abs. 2 Z 2, 52 Abs. 9, 46 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Vorverfahren
Der Beschwerdeführer, ein ukrainischer Staatsangehöriger, stellte am 28.05.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde dazu durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung vor, dass er von bewaffneten Separatisten aufgefordert worden sei für die Unterstützung der Republik Donezk zu kämpfen. Er wolle jedoch niemanden Unschuldigen töten und nicht am Krieg teilhaben. Der Beschwerdeführer befürchte, im Falle seiner Rückkehr hingerichtet zu werden.
Mit Bescheid vom 06.07.2015, Zahl 1020071800/14663042, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkt II.) ab, erteilte einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht, erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei. Gem. § 55 Abs. 1-3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.).
Begründend führte das Bundesamt zu Spruchpunkt I. aus, dass der Beschwerdeführer keinen Einberufungsbefehl erhalten habe und es zudem im betreffenden Gebiet möglich sei, von Separatisten zur Teilnahme am Krieg aufgefordert zu werden. Im Übrigen bestehe im restlichen Gebiet der Ukraine allerdings keine Verfolgungsgefahr, sondern werde der Beschwerdeführer dort sogar willkommen geheißen. Auch hinsichtlich der Prüfung des subsidiären Schutzes stehe dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative offen und könne der Beschwerdeführer seine Grundbedürfnisse befriedigen. Mangels Vorliegen von Anhaltspunkten, die für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach § 57 AsylG 2005 sprechen, wurde eine solche nicht erteilt. Der Beschwerdeführer habe keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, es bestehe kein Eingriff in sein Familienleben. Weiters führte das Bundesamt eine Abwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK durch und kam zu dem Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung die privaten Interessen des Beschwerdeführers überwiegen würden, sodass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei. Da eine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG nicht vorliege, sei im Falle der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung sowie bei Vorliegen der in § 46 Abs. 1 Z 1-4 FPG genannten Voraussetzungen seine Abschiebung in die Ukraine zulässig. Die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides betrage, weil im gegenständlichen Fall keine Gründe für eine längere Frist hätten festgestellt werden können.
2. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid des Bundesamtes fristgerecht Beschwerde und brachte vor, die Länderinformationen seien veraltet, da die Einberufungspraxis der ukrainischen Behörden nicht behandelt worden sei und werde er in der Westukraine als ethnischer Russe von Anhängern einer Partei gefoltert und hingerichtet.
3. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.12.2015, Zl. W226 2111863-1/6E, wurde die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG sowie §§ 46, 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer habe versucht im Verfahren die Nachvollziehbarkeit seiner Angaben über seine persönlichen Verhältnisse, die konkrete Herkunft und sein Vorleben sowie seine sozialen und familiären Bindungen zu verschleiern, weshalb auch sein Fluchtvorbringen als unglaubhaft beurteilt wurde. So habe der Beschwerdeführer jegliche Kontakte in seinen Herkunftsstaat verneint. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder der Unversehrtheit sei trotz der bürgerkriegsartigen Zustände in den Regionen der Ostukraine aufgrund der innerstaatlichen Fluchtalternative im Westen der Ukraine nicht anzunehmen.
5. Mit Schreiben des Bundesamtes vom 10.06.2016 wurde für den Beschwerdeführer bei der Botschaft der Ukraine in Österreich um Ausstellung eines Heimreisezertifikates ersucht.
6. Am 03.01.2017 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf unterstützte freiwillige Rückkehr bei einer Rückkehrberatungseinrichtung.
7. Eine Kontaktaufnahme mit der Botschaft der Ukraine in Österreich erfolgte seitens des Bundesamtes.
8. Mit Email vom 08.06.2017 hat der Beschwerdeführer sein Ansuchen auf unterstützte freiwillige Rückkehr widerrufen.
9. Am 23.03.2019 stellte der Beschwerdeführer den (zweiten) verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
9.1. Der Beschwerdeführer gab in seiner am selben Tag aufgenommenen Erstbefragung an, dass seine alten Fluchtgründe aufrecht bleiben würden und er bei der ukrainischen Botschaft die Auskunft erhalten habe, dass seine Herkunftsregion Donezk weder zur Ukraine noch zur Russischen Föderation gehöre, weshalb er seine Heimreise nicht antreten könne und staatenlos sei.
9.2. Mit Verfahrensanordnung gem. § 29 Abs. 3 und § 15a AsylG wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass beabsichtigt sei seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da das Bundesamt davon ausgehe, dass eine entschiedene Sache i.S.d. § 68 AVG vorliege.
9.3. Mit Verfahrensanordnung wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass dieser gem. § 52a Abs. 2 BFA-VG verpflichtet sei ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
9.4. Am 05.04.2019 fand beim Bundesamt eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Beisein seines Rechtsberaters statt, in welcher der Beschwerdeführer im Wesentlichen angab, dass seine Fluchtgründe aufrecht seien und sich die Situation in seiner Herkunftsregion verschlechtert habe. Die Botschaft der Ukraine könne keine Unterlagen und identitätsbezeugenden Dokumente besorgen und wolle der Beschwerdeführer zudem in Österreich bleiben.
9.5. Mit Schreiben von 24.04.2019 brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den Länderinformationen ein und beantragte die Einvernahme seiner Lebensgefährtin als Zeugin.
9.6. Das Bundesamt hat mit undatierter Verfahrensanordnung gem. § 15b AsylG 2005 iVm § 7 1 Abs. 1 VwGVG die Unterkunftnahme in einer Betreuungsstelle angeordnet und die Anreise binnen 3 Tagen vorgesehen.
9.7. Am 18.07.2019 erfolgte eine ergänzende Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt im Wesentlichen hinsichtlich seines Gesundheitszustandes. Ebenfalls wurde die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers als Zeugin einvernommen.
9.8. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22.09.2019, Zl. 1020071800-190297102 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 23.03.2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde der Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei, sowie dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für eine freiwillige Ausreise bestehe und die Unterkunftnahme gemäß § 15b Abs. 1 AsylG 2005 aufgetragen.
Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass über das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers im Vorverfahren bereits mit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.1021.12.2015, Zl. W226 2111863-1/6E, 2018 rechtskräftig entschieden worden sei. In der Erstbefragung am 23.03.2015 habe der Beschwerdeführer keinen neuen Fluchtgrund angegeben, sondern konkret dargelegt, dass seine alten Fluchtgründe aufrecht bleiben würden und er nunmehr aufgrund der Lage in der Ostukraine staatenlos sei. im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesamt habe er eine Lebensgefährtin ins Treffen geführt. Im Vorbringen des Beschwerdeführers könne kein neuer, entscheidungsrelevanter asyl- bzw. refoulmentrelevanter Sachverhalt festgestellt werden. Nur eine wesentliche Änderung des Sachverhaltes - nicht bloß von Nebenumständen - könne zu einer neuerlichen Entscheidung führen. Ein neuer Sachverhalt, der eine anderslautende Entscheidung der Sache rechtfertigen würde, liege nicht vor, die ins Treffen geführte Lebensgefährtin sei mit einem Österreicher verheiratet.
9.9. Mit der fristgerecht eingebrachten Beschwerde des bevollmächtigten Vertreters des Beschwerdeführers wurde der im Spruch genannte Bescheid hinsichtlich der Spruchpunkte I., II., IV., V., und VI. angefochten und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde beantragt. Der Bescheid sei mit Rechtswidrigkeit belastet, da dem Beschwerdeführer aufgrund der Verweigerung der Wehrpflicht asylrelevante Verfolgung und eine bis zu 5jährige Freiheitsstrafe drohe. Aufgrund der prekären Sicherheitslage in der Ukraine im Falle der Rückkehr drohe ihm überdies eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK, was eine wesentliche Änderung des Sachverhaltes darstelle. Auch sei es zur Verletzung von Verfahrensvorschriften gekommen, da das Bundesamt den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt habe. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde wurde unter Hinweis auf die reale Gefahr der Verletzung von Art 2 und 3 EMRK im Falle einer Abschiebung nach "Afghanistan" begründet.
10. Mit Meldung vom 29.10.2019 wurde von der zuständigen Polizeiinspektion mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer bei der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Entwendung (Tatzeit 25.10.2019) angezeigt wurde.
11. Mit Email vom 07.11.2019 wurde das Bundesverwaltungsgericht in Kenntnis gesetzt, dass über den Beschwerdeführer rechtskräftig eine Geldstrafe iHv € 100,00 gemäß § 121 Abs. 1a FPG iVm § 15b AsylG wegen der Nichtbefolgung der angeordneten Unterkunftnahme verhängt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Ukraine und der russischen Volksgruppe zugehörig. Die Identität des Beschwerdeführers steht mangels Vorlage entsprechender Dokumente nicht fest. Er spricht Russisch als Muttersprache.
1.2. Im Mai 2014 hat der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat verlassen und reiste schließlich in das Bundesgebiet ein, wo er am 28.05.2014 den ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Als Fluchtgrund brachte er im Vorverfahren im Wesentlichen vor, dass er von Separatisten zur Teilnahme an Kampfhandlungen aufgefordert worden sei und ihm auch die Einberufung durch die ukrainische Regierung drohe. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 06.07.2015 abgewiesen.
1.3. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis als unbegründet abgewiesen und erwuchs dieses Erkenntnis in der Folge am 22.12.2015 in Rechtskraft.
1.4. Am 26.03.2019 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
1.5. Der Beschwerdeführer konnte seit Rechtskraft der letzten Entscheidung über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 28.05.2014 kein neues entscheidungsrelevantes individuelles Vorbringen glaubhaft dartun. Der Beschwerdeführer verweist auf seine alten Fluchtgründe.
1.6. Nicht festgestellt werden kann des Weiteren, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten sind, wonach dem Beschwerdeführer in der Ukraine aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr in die Ukraine die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Der Beschwerdeführer leidet an keiner zwischenzeitlich aufgetretenen lebensbedrohlichen oder im Herkunftsland nicht behandelbaren Krankheit. Außerdem kann nicht festgestellt werden, dass zwischenzeitlich eine entscheidungswesentliche Änderung der Situation in der Ukraine eingetreten ist.
1.7. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer - auch unter Berücksichtigung der bereits im Vorverfahren vorgebrachten Erkrankungen - und seines aktuellen Gesundheitszustandes - an einer dermaßen schweren, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankung leidet.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und in der Lage im Herkunftsstaat seinen notwendigen Unterhalt zu sichern. Der Beschwerdeführer ist vor der Ausreise einer Beschäftigung nachgegangen, mit der er seinen Lebensunterhalt sichern konnte. Er spricht als Muttersprache Russisch. Er ist weder in Vereinen noch Organisationen tätig und verfügt auch über keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer ist seit 2014 mit einer ukrainischen Staatsangehörigen, die mit einem Österreicher verheiratet ist, befreundet. Es ist nicht feststellbar, aber auch nicht auszuschließen, sondern wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer über familiäre und soziale Bindungen in der Ukraine verfügt. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Deutschkenntnisse und hat bis dato keine Deutschkurse besucht oder Deutschprüfungen abgelegt.
1.8. Der Beschwerdeführer ist seit seiner illegalen Einreise ins Bundesgebiet im Mai 2014 nicht mehr in sein Heimatland zurückgekehrt. Der Beschwerdeführer stellte nunmehr den verfahrensgegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz.
1.9. Der Beschwerdeführer wurde bei der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Entwendung (Tatzeit 25.10.2019) angezeigt. Über den Beschwerdeführer wurde eine Geldstrafe iHv € 100,00 gemäß § 121 Abs. 1a FPG iVm § 15b AsylG wegen der Nichtbefolgung der angeordneten Unterkunftnahme rechtskräftig verhängt.
1.10. Zur Lage im Herkunftsstaat Ukraine werden die vom Bundesamt herangezogenen Länderfeststellungen dem Verfahren zugrunde gelegt:
KI vom 30.08.2019 (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage)
Am 29.8.2019 ist die ukrainische Oberste Rada zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammengetreten. Die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Diener des Volkes, hatte bei der Wahl mehr als 250 der insgesamt 450 Sitze gewonnen (DS 29.8.2019; vgl. Ukrinform 30.8.2019).
Sechs Fraktionen wurden gebildet: Diener des Volkes mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform "Für das Leben" mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion "Für die Zukunft" mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019).
Für die neue Regierung stimmten 281 Parlamentarier. Neuer Premierminister ist der 35-jährige
Jurist Olexij Hontscharuk (DS 29.8.2019; vgl. Ukrinform 30.8.2019).
Zum neuen Ministerkabinett gehören:
Vizepremierminister für europäische und euroatlantische Integration Dmytro Kuleba
Vizepremierminister und Minister für IT-Transformation Mychailo Fedorow
Minister des Ministerkabinetts Dmytro Dubilet
Außenminister Wadym Prystaiko
Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk
Innenminister Arsen Awakow (Bereits in der Vorgängerregierung tätig)
Minister für Wirtschaftsentwicklung, Handel und Landwirtschaft Tymofij Mylowanow
Justizminister Denys Maljuska
Finanzministerin Oxana Markarowa (Bereits in der Vorgängerregierung tätig)
Minister für Energiewirtschaft und Kohleindustrie Olexij Orschel
Minister für Infrastruktur Wladyslaw Kryklij
Ministerin für Entwicklung von Gemeinden und Territorien Olena Babak
Ministerin für Bildung und Wissenschaft Hanna Nowosad
Gesundheitsministerin Zorjana Skalezka
Minister für Kultur, Jugend und Sport Wolodymyr Borodjanskyj
Ministerin für Sozialpolitik Julia Sokolowska
Ministerin für Angelegenheiten von Veteranen, vorläufig besetzen Gebieten und Binnenflüchtlingen Oxana Koljada (Ukrinform 30.8.2019)
Zu den unmittelbaren Vorhaben der neuen Regierung zählen nun wirtschaftspolitische Maßnahmen, die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität (eine weithin geforderte Maßnahme zur Korruptionsbekämpfung, welche allerdings eine Zweidrittelmehrheit verlangt), die Schaffung einer Möglichkeit zur Absetzung des Präsidenten und ein Gesetz zum Whistleblowing in Korruptionsangelegenheiten (RFE/RL 30.8.2019).
KI vom 23.07.2019 (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage)
Die Partei "Sluha Narodu" (Diener des Volkes) von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die ukrainische Parlamentswahl vom 21.07.19 gewonnen. Noch liegt das amtliche Endergebnis nicht vor, aber nach Auszählung von etwa 70% der Stimmen steht fest, dass die Partei auf rund 42,7% kommt. Es folgen die russlandfreundliche Oppositionsplattform mit etwa 13%, die Partei "Europäische Solidarität" des früheren Präsidenten Petro Poroschenko mit etwa 8,4%, die Vaterlandspartei der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit 7,4% und die Partei "Holos" (Stimme) des Rocksängers Swiatoslaw Wakartschuk mit 6,2%. Dies sind die fünf Parteien, die die 5%-Hürde überwinden konnten. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019).
Zusammen mit den gewonnenen Sitzen aus den Direktwahlkreisen kommt Selenskyjs Partei auf knapp 250 der insgesamt 450 Sitze im Parlament. Das gute Ergebnis über die Parteiliste war vorausgesagt worden, jedoch überrascht der Gewinn von mehr als 120 Direktmandaten , da die Kandidaten durchwegs Polit-Neulinge sind und über keinerlei Erfahrung im Parlament verfügen. Die enorme Wählerzustimmung für Selenskyjs Partei bedeutet, dass das erste Mal in der Ukraine eine politische Kraft die absolute Mehrheit der Sitze in der Rada erreicht hat. Damit entfallen die komplizierten Koalitionsverhandlungen, mit denen im Vorfeld der Wahl viele Experten gerechnet hatten. Offenbar wurde auch Selenskyj selbst davon überrascht, denn noch am Wahlabend hatte er Wakartschuks "Holos", auch diese eine erst vor kurzem gegründete Partei mit ausschließlich politisch unerfahrenen Kandidaten und radikaler Antikorruptions-Agenda, Koalitionsverhandlungen angeboten. Dies dürfte nun unnötig geworden sein (BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019).
Politische Lage
Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20.05.2019 Präsident Wolodymyr Selensky, Regierungschef ist seit 14.4.2016 Ministerpräsident Wolodymyr Hroisman. Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wird über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt (AA 20.5.2019). Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Auch die unterschiedlichen Auslegungen der Gerichte in Bezug auf das Wahlrecht sind Gegenstand der Kritik. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus. Die im Oktober 2014 abgehaltenen vorgezogenen Parlamentswahlen wurden im Allgemeinen als kompetitiv und glaubwürdig erachtet, aber auf der Krim und in von Separatisten gehaltenen Teilen des Donbass war die Abstimmung erneut nicht möglich. Infolgedessen wurden nur 423 der 450 Sitze vergeben (FH 4.2.2019). Der neue Präsident, Wolodymyr Selensky, hat bei seiner Inauguration im Mai 2019 vorgezogene Parlamentswahlen bis Ende Juli 2019 ausgerufen (RFE/RL 23.5.2019). In der Rada sind derzeit folgende Fraktionen und Gruppen vertreten:
Partei Sitze
Block von Petro Poroschenko (Blok Petra Poroschenka) 135
Volksfront (Narodny Front) 81
Oppositionsblock (Oposyzijny Blok) 38
Selbsthilfe (Samopomitsch) 25
Radikale Partei von Oleh Ljaschko (Radykalna Partija Oleha Ljaschka) 21
Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna) 20
Gruppe Wolja Narodu 19
Gruppe Widrodshennja 24
Fraktionslose Abgeordnete 60
(AA 20.5.2019)
Nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 verfolgte die Ukraine unter ihrem Präsidenten Petro Poroschenko eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Zu den Schwerpunkten seines Regierungsprogramms gehörte die Bekämpfung der Korruption sowie eine Verfassungs- und Justizreform. Dennoch wurden die Erwartungen der Öffentlichkeit zu Umfang und Tempo der Reformen nicht erfüllt. Die Parteienlandschaft der Ukraine ist pluralistisch und reflektiert alle denkbaren Strömungen von national-konservativ und nationalistisch über rechtsstaats- und europaorientiert bis links-sozialistisch. Die kommunistische Partei ist verboten. Der Programmcharakter der Parteien ist jedoch kaum entwickelt und die Wähler orientieren sich hauptsächlich an den Führungsfiguren (AA 22.2.2019).
Der ukrainische Schauspieler, Jurist und Medienunternehmer Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj gewann am 21. April 2019 die Präsidentschaftsstichwahl der Ukraine gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko mit über 73% der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung: 61,4%). Poroschenko erhielt weniger als 25% der Stimmen (RFE/RL 30.4.2019). Beobachtern zufolge verlief die Wahl im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Selenskyj wurde am 20.5.2019 als Präsident angelobt. Er hat angekündigt möglichst bald parlamentarische Neuwahlen ausrufen zu lassen, da er in der Verkhovna Rada über keinen parteipolitischen Rückhalt verfügt und demnach kaum Reformen umsetzen könnte. Tatsächlich hat er umgehend per Dekret vorgezogene Parlamentswahlen bis Ende Juli 2019 ausgerufen (RFE/RL 23.5.2019).
Es ist ziemlich unklar, wofür Präsident Selenskyj politisch steht. Bekannt wurde er durch die beliebte ukrainische Fernsehserie "Diener des Volkes", in der er einen einfachen Bürger spielt, der eher zufällig Staatspräsident wird und dieses Amt mit Erfolg ausübt. Tatsächlich hat Selenskyj keine nennenswerte politische Erfahrung, ist dadurch jedoch auch unbefleckt von politischen Skandalen. Eigenen Aussagen zufolge will er den Friedensplan für den umkämpften Osten des Landes wiederbeleben und strebt wie Poroschenko einen EU-Beitritt an. Über einen Nato-Beitritt der Ukraine soll jedoch eine Volksabstimmung entscheiden (DS 21.4.2019; ZO 21.4.2019). Selenskyj hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf seine Fahnen geschrieben (UA 27.2.2019).
Kritiker sehen Selenskyj als Marionette des Oligarchen Igor Kolomojskyj, dessen weitgehende Macht unter Präsident Poroschenko stark beschnitten wurde, und auf dessen Fernsehsender 1+1 viele von Selenskyjs Sendungen ausgestrahlt werden. Diesen Vorwurf hat Selenskyj stets zurückgewiesen (UA 27.2.2019; CNN 21.4.2019; Stern 23.4.2019).
Sicherheitslage
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 22.2.2019).
Durch die Besetzung der Krim, die militärische Unterstützung von Separatisten im Osten und die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen die Ukraine, kann Russland seinen Einfluss auf den Verlauf des politischen Lebens in der Ukraine aufrechterhalten. Menschen, die in den besetzten Gebieten des Donbass leben, sind stark russischer Propaganda und anderen Formen der Kontrolle ausgesetzt (FH 4.2.2019).
Nach UN-Angaben kamen seit Beginn des bewaffneten Konflikts über 10.000 Menschen um; es wurden zahlreiche Ukrainer innerhalb des Landes binnenvertrieben oder flohen ins Ausland. Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) stockt trotz hochrangiger Unterstützung im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die u.a. aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Dennoch hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten "Sonderstatusgesetzes" bis Ende 2019 verlängert (AA 22.2.2019).
Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019).
Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, "das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen". In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).
Halbinsel Krim
Auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 22.2.2019).
Im Feber 2014 besetzten russische Truppen die Halbinsel Krim militärisch. Im März wurde die Krim nach einem Scheinreferendum schließlich annektiert und zum Teil der Russischen Föderation erklärt. Die Vereinten Nationen verurteilten diesen Schritt und riefen dazu auf, dies nicht anzuerkennen. Auf der Krim gilt seither de facto russisches Recht, es wurde eine russische Regierung installiert, die von Sergey Aksyonov als "Premierminister" des "Staatsrats der Republik Krim" geführt wird. Der "Staatsrat" ist für die tägliche Verwaltung und andere Regierungsfunktionen zuständig. Es werden unverhältnismäßig repressive Gesetze verhängt und angewendet. Die russischen Sicherheitsbehörden auf der Krim schränken die Menschenrechte ein. Die schwerwiegendsten Probleme beinhalten: Verschwindenlassen; Folter, einschließlich strafweise psychiatrische Einweisung; Misshandlung von Inhaftierten als Strafe oder zur Erpressung von Geständnissen; harte Haftbedingungen und Überführung von Gefangenen nach Russland; willkürliche Festnahme und Inhaftierung, auch aus politischen Gründen; allgegenwärtige Missachtung der Privatsphäre; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der Medien einschließlich Schließungen und Gewalt gegen Journalisten; Beschränkungen des Internets; grobe und weit verbreitete Unterdrückung der Versammlungsfreiheit; starke Einschränkung der Vereinigungsfreiheit, einschließlich Verbot der Selbstverwaltung (Mejlis) der Krimtataren; Einschränkung von Bewegungsfreiheit und Teilnahme am politischen Prozess; systemische Korruption; und systematische Diskriminierung von Krimtataren und ethnischen Ukrainern. Die russischen Behörden unternehmen kaum Schritte, um Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu verfolgen, wodurch eine Atmosphäre der Straflosigkeit und Gesetzlosigkeit geschaffen wurde (USDOS 13.3.2019b).
Die Einwohner der Krim wurden pauschal in die Russische Föderation eingebürgert und es wurde begonnen, sie mit russischen Inlandspässen, seit September 2014 auch mit russischen Auslandsreisepässen, auszustatten. Besorgniserregend sind weiterhin Meldungen, wonach exponierte Vertreter der tatarischen Minderheit aufgrund politisch motivierter Vorwürfe inhaftiert werden, verschwinden, nicht mehr auf die Krim zurückreisen dürfen bzw. vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Außerdem werden tatarische Vereine in ihrer Handlungsfähigkeit beschnitten und unter Druck gesetzt, teilweise auch kriminalisiert oder zur Auflösung gezwungen. Die gewählte Versammlung der Krimtataren wird von den de-facto-Behörden als terroristische Vereinigung eingestuft, ihre Mitglieder verfolgt. Versuche, die tatarische Minderheit in eine den de-facto-Behörden willfährige Parallelstruktur einzubinden, blieben bisher ohne nennenswerten Erfolg. Unabhängige Medien werden unterdrückt, dem unabhängigen Fernsehsender der Tataren ATR wurde die Lizenz entzogen; er hat seinen Sitz nach Kiew verlegt. Eine offene Zivilgesellschaft gibt es nicht mehr. Religiöse Literatur gilt den Behörden als extremistisch. Auch jüngste Berichte von UNHCR, Amnesty International sowie des Hochkommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen listen eine Reihe von Verletzungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der Krim auf, die von einer Einschränkung des Versammlungsrechts über willkürliche Verhaftungen bis hin zu Entführungen, Folter und Ermordung reichen. Versuche der Vereinten Nationen, der OSZE oder des Europarats eine kontinuierliche Beobachtung der Menschenrechtssituation auf der Krim vorzunehmen, sind bisher gescheitert. Die Einwohner der Krim werden von der Russischen Föderation, wenn sie nicht ihr Widerspruchsrecht genutzt und damit u. a. den Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung verloren haben, als russische Staatsangehörige behandelt (AA 22.2.2019).
Seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim häufen sich Berichte über den Versuch der systematischen Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch die russischen Behörden unter dem Vorwand sicherheitspolitischer Erwägungen. Dies wirkt sich insbesondere auf die Aktivitäten der Krimtataren, jedoch auch auf Vertreter der ukrainischen Minderheit aus (ÖB 2.2019; vgl. HRW 17.1.2019).
Seit 2014 sind konstant Menschenrechtsverletzungen seitens der russischen Behörden zu beobachten: Gefangene legen Geständnisse ab, die durch Misshandlung und Folter erlangt wurden. Individuen bestimmter Gruppen werden in psychiatrische geschlossene Anstalten zwangseingewiesen. Anwälte können nicht uneingeschränkt ihrer Arbeit nachgehen. Menschen, die keinen russischen Pass haben, wird der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwehrt. Weiters besteht Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Genderidentität. Menschen mit abweichender politischer Meinung werden verhaftet und unter Bezugnahme auf russische Antiterror-Gesetzgebung zu Haftstrafen verurteilt. Auch werden Personen entführt oder verschwinden plötzlich. Wenige bis keine dieser Fälle werden ausreichend strafverfolgt. Besonders die ethnische Gruppe der Krimtataren, aber auch Ukrainer anderer ethnischer oder religiöser Gruppen, sind von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wird massiv eingeschränkt (ÖB 2.2019).
Ukrainer von der Krim mit russischen Reisepässen
Die Gesetzgebung der Ukraine sieht die einzige Staatsbürgerschaft vor. Wenn ein ukrainischer Staatsbürger legal die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation annehmen möchte, muss er auf die ukrainische Staatsbürgerschaft verzichten. Von den russischen Behörden werden jedoch, entgegen ukrainischen und internationalen rechtlichen Normen, russische Reisepässe an die Bevölkerung der Krim mit ukrainischer Staatsbürgerschaft ausgegeben. Diese Reisepässe der Russischen Föderation für Einwohner der Krim, werden international nur von einigen Ländern anerkannt (Nordkorea, Bolivien, Nicaragua, Armenien) (VB 28.1.2019). Die Frage der Staatsangehörigkeit der Einwohner der Krim ist damit eigentlich ungeklärt. Da die Beendigung der Staatsbürgerschaft der Ukraine erst durch einen entsprechenden Erlass des Präsidenten der Ukraine erfolgen kann, ist davon auszugehen, dass nach ukrainischem Recht die Einwohner der Krim Staatsbürger der Ukraine geblieben sind (BFH 30.6.2016).
Krim-Bewohner, die über keinen ukrainischen Reisepass, sondern nur über von russischen Behörden auf der Krim ausgestellte Reisedokumente verfügen, haben Schwierigkeiten bei der Einreise auf das ukrainische Festland, da diese Dokumente nicht anerkannt werden. Alle Krim-Bewohner wurden von der Russischen Föderation zu russischen Staatsbürgern erklärt. Krim-Bewohner, welche die russische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, gelten als Ausländer und benötigen eine Aufenthaltserlaubnis. Die Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft kann zur Ausweisung bzw. Abschiebung führen. In einigen Fällen wurden Krim-Bewohner von den Behörden gezwungen, ihren ukrainischen Reisepass abzugeben, was Auslandsreisen entsprechend erschwert (USDOS 13.3.2019b).
Im November 2018 wurde ein Einreiseverbot in die Ukraine für männliche russische Staatsbürger im Alter von 16 bis 60 Jahren verhängt, das weiterhin gilt. Wenn Einwohner der Krim die Grenze als Bürger der Russischen Föderation passieren wollen, gilt dieses Verbot auch für sie. Wenn sie jedoch noch einen gültigen ukrainischen Pass vorweisen können, gilt dieses Verbot für sie nicht (VB 28.1.2019).
Ostukraine
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 22.2.2019).
In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es insbesondere 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 22.2.2019).
In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz, und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. In der LPR wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten, die meist nicht einmal für eine kurzfristige Inhaftierung geeignet wären. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Hitze, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Ein unabhängiges Monitoring der Haftbedingungen wird von den Machthabern nicht oder nur eingeschränkt erlaubt. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie Folter, Hunger, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 13.3.2019).
In der Region Donbass unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 4.2.2019, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. Mittlerweile haben die Separatisten im Osten des Landes ihre Bemühungen verstärkt, Online-Inhalte zu blockieren, welche angeblich die ukrainische Regierung oder die ukrainische kulturelle Identität unterstützen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen "Behörden" unterstützt oder organisiert werden. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 13.3.2019).
Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019).
Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019).
Die Separatisten in der Ostukraine haben Berichten zufolge einige religiöse Führer inhaftiert. Im Februar 2018 wurden in Luhansk religiöse Gruppen, die nicht den "traditionellen" Religionen angehören, darunter Protestanten und Zeugen Jehovas, verboten (FH 4.2.2019).
Die separatistischen Kräfte erlauben keine humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung, sondern nur solche internationaler humanitärer Organisationen. Infolgedessen sind die Preise für Grundnahrungsmittel angeblich für viele Bewohner der nicht von der Regierung kontrollierten Gebiete der Ostukraine zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen "humanitären Hilfe" an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 13.3.2019).
Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019).
Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon Ajdar wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 22.2.2019).
Rechtsschutz / Justizwesen
Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Einige Richter behaupteten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 13.3.2019).
Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommenen Gesetzesänderung zur "Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren" sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung ("re-attestation") aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).
2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat ("council of prosecutors") ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).
Nachdem unter Präsident Janukowitsch die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eingemahnte Verfassungsreform jahrelang hinausgezögert wurde, wurde von Präsident Poroschenko durch seinen im Juli 2014 vorgelegten Gesetzesentwurf zur Änderung der ukrainischen Verfassung ein neuer Impuls gesetzt. Die darin vorgesehenen Schritte zu dezentraleren Strukturen mit erweiterten Kompetenzen der gewählten Gemeinde- und Bezirksräte, nicht zuletzt im Hinblick auf die Verteilung und Verwaltung öffentlicher Mittel, dem Ausbau der regionalen Selbstverwaltung und der erstmaligen Verankerung des Prinzips der Subsidiarität, wurden von der Venedig-Kommission begrüßt. Jedoch gibt es für die Annahme der Verfassungsreform in zweiter Lesung derzeit keine Mehrheit im Parlament. Vor allem die verfassungsrechtliche Absicherung der im Rahmen des Minsk-Prozesses zur Beilegung des Konflikts in der Ostukraine festgelegten Dezentralisierung steht unter starker Kritik einiger Parteien, weil diese eine "Ermächtigungsklausel" zur Schaffung eines Gesetzes über den Sonderstatus des Donbasss enthält. In der Praxis wurden jedoch bereits Erfolge bei der finanziellen Dezentralisierung erzielt, sowie zahlreiche Gemeinden zusammengelegt, die dadurch mit mehr finanziellen Mittel ausgestattet sind und effizienter arbeiten können. Ohne eine verfassungsmäßige Absicherung der Dezentralisierungsreform bleibt diese jedoch vorerst weiterhin unvollendet (ÖB 2.2019).
Die jüngsten Reforminitiativen bleiben hinter den Erwartungen zurück, werden aber fortgesetzt (FH 4.2.2019).
Sicherheitsbehörden
Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Sicherheitskräfte verhindern oder reagieren im Allgemeinen auf gesellschaftliche Gewalt. Zuweilen wenden sie jedoch selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen, oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen (z.B. im Falle der Zerstörung eines Roma-Camps durch Nationalisten, gegen die die Polizei nicht einschritt). Der ukrainischen Regierung gelingt es meist nicht, Beamte, die Verfehlungen begangen haben, strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen (USDOS 13.3.2019).
Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan, die im Juli 2015 in vorerst 32 Städten ihre Tätigkeit aufnahm. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte "Militsiya". Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen "Re-Attestierungsprozess" samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen,
4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Feber 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz "Über die Nationalpolizei" sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Katia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt "Detektive" - Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines "Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)" auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter der Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine "Strategie des Innenministeriums bis 2020" sowie ein Aktionsplan entwickelt.(ÖB 2.2019).
Die Nationalpolizei muss sich mit einer, das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinträchtigenden Zunahme der Kriminalität infolge der schlechten Wirtschaftslage und des Konflikts im Osten, einer noch im alten Denken verhafteten Staatsanwaltschaft und der aus sozialistischen Zeiten überkommenen Rechtslage auseinandersetzen. Über Repressionen durch Dritte, für die der ukrainische Staat in dem von ihm kontrollierten Staatsgebiet mittelbar die Verantwortung trägt, indem er sie anregt, unterstützt oder hinnimmt, liegen keine Erkenntnisse vor (AA 22.2.2019).
Korruption
Die Gesetze sehen strafrechtliche Sanktionen für Korruption vor, aber die Behörden setzen diese nicht effektiv um, und viele Beamte sind ungestraft korrupt, weniger in der Regierung, aber auf allen Ebenen der Exekutive, Legislative und der Justizbehörden. Trotz Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption durch die Regierung, bleibt diese ein Problem für Bürger und Unternehmen. Im Juni 2018 unterzeichnete der Präsident das Gesetz über das Hohe Antikorruptionsgericht (HACC), was das System der staatlichen Stellen zur Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene vervollständigte (USDOS 13.3.2019). Im April 2019, kurz vor der Stichwahl um die Präsidentschaft, hat Präsident Poroschenko 38 Richter des neu gegründeten Antikorruptionsgerichts offiziell ernannt (RFE/RL 11.4.2019).
Der Erfolg wird von der Integrität der Auswahlverfahren für seine Richter sowie von der Wirksamkeit und Unabhängigkeit der beiden anderen zuvor gegründeten Antikorruptionsbehörden, dem Nationalen Anti-Korruptionsbüro (NABU) und dem Sonderstaatsanwalt für Korruptionsbekämpfung (SAP), abhängen. Die neuen unabhängigen Antikorruptionsgremien wurden mit politischem Druck konfrontiert, was Besorgnis über das Bekenntnis der Regierung zur Korruptionsbekämpfung auslöste. Es gab auch Vorwürfe und Rücktrittsaufforderungen gegen den Leiter der SAP wegen Behinderung der Justiz. Es kam 2018 zu mehreren Verhaftungen hochrangiger Amtsträger wegen Korruptionsvorwürfen, darunter der Bürgermeister von Odessa. Das Gesetz schreibt vor, dass hohe Amtsträger Einkommens- und Ausgabenerklärungen vorlegen müssen und diese durch die Nationale Agentur für Korruptionsprävention (NAPC) geprüft werden. Beobachter stellen jedoch zunehmend in Frage, ob die NAPC über die Fähigkeit und Unabhängigkeit zur Erfüllung dieser Funktion verfügt, während sich NABU in der Praxis als wirksamer für diese Aufgabe erwiesen habe, obwohl dies nicht dessen Kernaufgabe ist. Bis Juli 2018 hatte NAPC erst 300 von 2,5 Millionen eingegangene Erklärungen geprüft. Im September 2018 wurde daraufhin ein automatisiertes Überprüfungssystem eingeführt, an dessen Wirksamkeit es Kritik gibt (USDOS 13.3.2019; vgl. ÖB 2.2019).
Korruption ist nach wie vor ein ernstes Problem, und trotz des starken Drucks der Zivilgesellschaft ist der politische Wille gering, dagegen anzugehen. Antikorruptionsagenturen wurden wiederholt in politisch belastete Konflikte mit anderen staatlichen Stellen und gewählten Vertretern verwickelt (FH 4.2.2019).
Die Ukraine hat einige Fortschritte bei der Förderung der Transparenz erzielt, zum Beispiel durch die Verpflichtung der Banken, die Identität ihrer Eigentümer zu veröffentlichen, und indem 2016 ein Gesetz verabschiedet wurde, das Politiker und Beamte dazu verpflichtet, elektronische Vermögenserklärungen abzugeben. Es ist jedoch möglich, einige Vorschriften zu umgehen, zum Teil, weil unterentwickelte Institutionen nicht in der Lage sind, Verstöße zu erkennen und zu bestrafen (FH 4.2.2019).
Ein institutioneller Rahmen für die Bekämpfung der endemischen Korruption wurde geschaf