TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/3 I403 2142230-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.02.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

03.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 2
EMRK Art. 3
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I403 2142230-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA. Irak, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.11.2016, Zl. 1103772909/160146439, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.11.2018, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III. XXXX wird gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine für ein Jahr gültige befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 29.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am selben Tag stattfindenden Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab er an, er sei aus dem Irak geflüchtet, da seine Mutter und sein Bruder auch geflüchtet seien. Darüber hinaus habe ihn die schiitische Miliz anstelle seines geflohenen Bruders zum Kampf rekrutieren wollen.

Am 16.11.2016 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA; belangte Behörde) einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen befragt führte er an, dass er und seine Familie Angehörige des Stammes Ban Amir seien. Der Beschwerdeführer sei bei seiner Großmutter aufgewachsen. Ende Oktober 2015 seien seine beiden Brüder, welche bei seinem Vater gelebt hätten, von der schiitischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq zwangsrekrutiert worden, da sich der Stamm Ban Amir stets aus Kämpfen zwischen der IS und der schiitischen Miliz herausgehalten habe, die Stammesangehörigen als Schiiten nach Auffassung der Asa'ib Ahl al-Haqq jedoch nunmehr verpflichtet seien, am Kampf gegen den IS teilzunehmen. Sein jüngerer Bruder sei den Milizen entkommen und in weiterer Folge mit der Mutter des Beschwerdeführers in die Türkei ausgereist. Als der Beschwerdeführer eines Tages, im Dezember 2015, bei der Arbeit gewesen sei, habe ihn seine Großmutter angerufen und gesagt, er solle nicht mehr nach Hause kommen, da die Milizen der Asa'ib Ahl al-Haqq ihn ebenfalls suchen würden. Der Beschwerdeführer habe sich in weiterer Folge noch einige Wochen bei einem Freund versteckt gehalten. Während dieser Zeit hätten ihn die schiitischen Milizen noch mehrfach im Haus seiner Großmutter gesucht und gesagt, der Beschwerdeführer müsse sich ihnen anschließen, ansonsten werde er bestraft. Schließlich habe sich der Beschwerdeführer einen Reisepass ausstellen lassen können und sei per Flugzeug nach Istanbul geflüchtet.

Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 21.11.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Gegen den am 29.11.2016 zugestellten Bescheid wurde fristgerecht mit Schreiben vom 07.12.2016 Beschwerde erhoben. Es wurde vorgebracht, die belangte Behörde hätte dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu Unrecht die Glaubhaftigkeit versagt sowie ihre amtswegige Ermittlungspflicht im Hinblick auf Zwangsrekrutierungen durch schiitische Milizen im Irak verletzt. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass dem Antrag auf internationalen Schutz stattgegeben und das beantragte Asyl gewährt wird; in eventu dass dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak zuerkannt wird; den Bescheid dahingehend abändern, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen erteilt wird; darüber hinaus die gegen den Beschwerdeführer ausgesprochene Rückkehrentscheidung sowie den Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak aufheben; in eventu den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung an die erste Instanz zurückverweisen; eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumen.

Beschwerde und Bezug habender Akt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 15.12.2016 vorgelegt. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 27.06.2018 wurde der Akt der Gerichtsabteilung I403 der Kammer I neu zugewiesen und dieser am 04.07.2018 vorgelegt. Am 22.11.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle XXXX, eine öffentliche mündliche Verhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers durchgeführt. Hierbei wiederholte dieser im Wesentlichen sein bisheriges Fluchtvorbringen. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.01.2019, Zl. I403 2142230-1/17E wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Die dagegen erhobene außerordentliche Revision wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 28.11.2019, Zl. Ra 2019/19/0393 zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtete; im restlichen Umfang wurde das Erkenntnis aufgehoben, da die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer keine Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt und keine Verletzung des Art. 3 EMRK drohen würde, im Hinblick auf die Feststellungen zur Lage in seinem Herkunftsort Basra aufgrund der "festgestellten eskalierenden Gesetzeslosigkeit und der schlechten Sicherheitslage" nicht nachvollziehbar sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Revision, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtete, zurückgewiesen wurde. Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ist daher rechtskräftig. Die Frage einer Verfolgung (im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention) ist daher nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens und wird daher auf das entsprechende Vorbringen, welches im diesbezüglich bestätigten Erkenntnis vom 10.01.2019 für nicht glaubhaft bewertet wurde, nicht mehr eingegangen.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige und unbescholtene Beschwerdeführer hält sich seit 29.01.2016 in Österreich auf. Seine Identität steht fest. Er ist Staatsangehöriger des Irak, gehört der Volksgruppe der Araber an und ist schiitischer Moslem. Überdies ist er Angehöriger des Stammes Ban Amir.

Der Beschwerdeführer ist in seinem Herkunftsland Irak in Basra geboren und aufgewachsen und hat dort insgesamt 12 Jahre lang die Schule besucht. Dies entspricht einem österreichischen Pflichtschulabschluss. Der Beschwerdeführer hat neben der Schule in einer Druckerei gearbeitet. Er ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Die Mutter sowie ein Bruder des Beschwerdeführers leben als Asylwerber in Schweden, seine übrige Familie befindet sich nach wie vor im Irak.

Der Beschwerdeführer wird im Irak nicht verfolgt; ihm droht keine Zwangsrekrutierung durch die Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq und auch keine Verfolgung aufgrund seiner säkularen Weltanschauung.

Aufgrund der seit Monaten andauernden Proteste ist aktuell von einer höchst instabilen Sicherheitslage in Basra auszugehen, so dass eine Gefährdung des Beschwerdeführers, unabhängig von seiner Haltung gegenüber den Protesten, nicht ausgeschlossen werden kann. Zudem droht der Irak im Konflikt zwischen den USA und dem Iran zwischen die Fronten zu geraten, so dass eine weitere Eskalation der Situation nicht ausgeschlossen werden kann. Auch stellt sich die Versorgungslage in Basra aktuell äußerst problematisch dar. Es ist dem Beschwerdeführer auch nicht möglich, sich in einem anderen Landesteil des Irak niederzulassen.

1.2. Zur Situation im Irak bzw. in Basra:

1.2.1. Zur Sicherheitslage im Süden des Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 30.10.2019) Folgendes festgestellt:

Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich der Provinz Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen und bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt.

Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).

In der Provinz Basra kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bewaffneter Gruppierungen. In Basra und den angrenzenden Provinzen besteht ebenfalls das Risiko von Entführungen (AA 1.11.2018).

Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, zu Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018). Dies war auch im Juli und September 2018 der Fall, als Demonstranten bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet wurden (Al Jazeera 16.7.2018; vgl. Joel Wing 5.9.2018, AI 7.9.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (1.11.2018): Irak: Reisewarnung, https://www.auswaertiges-amt.de/de/iraksicherheit/202738, Zugriff 1.11.2018

-

AI - Amnesty International (7.9.2018): Iraq: Effective Investigations needed into deaths of protesters in Basra, https://www.amnesty.org/download/Documents/MDE1490552018ENGLISH.PDF, Zugriff 2.11.2018

-

Al Jazeera (16.7.2018): Death toll rises in southern Iraq protests,

https://www.aljazeera.com/news/2018/07/death-toll-rises-southern-iraq-protests-180716181812482.html, Zugriff 2.11.2018

-

CEDOCA - Centre de documentation et de recherches du Commissariat général aux réfugiés et aux apatrides (28.2.2018): IRAK: Situation sécuritaire dans le sud de l'Irak, https://www.cgra.be/sites/default/files/rapporten/coi_focus_irak_situation_securitaire_dans_le sud_de_lirak_20180228.pdf, Zugriff 1.11.2018

-

Joel Wing - Musings on Iraq (5.9.2018): Basra Explodes In Rage and Riots Over Water Crisis,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/09/basra-explodes-in-rage-and-riots-over.html, Zugriff 2.11.2018

-

Landinfo - The Norwegian COI Centre (31.5.2018): Irak:

Sikkerhetssituasjonen i Sør-Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434620/1226_1528700530_irak-temanotatsikkerhetssituasjonen-i-syarirak-hrn-31052018.pdf, Zugriff 1.11.2018

1.2.2. Zu Grundversorgung und Wirtschaft im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 30.10.2019) Folgendes festgestellt:

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.2.2018). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018).

Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Nach Angaben des UN-Programms "Habitat" leben 70 Prozent der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.2.2018).

In vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.2.2018).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des sogenannten Islamischen Staates und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mosul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde.

Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im Oktober 2018 für das Jahr 2019. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt (GIZ 11.2018).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2018). Rund 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor (AA 12.2.2018).

Noch im Jahr 2016 wuchs die irakische Wirtschaft laut Economist Intelligence Unit (EIU) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um 11 Prozent. Im Folgejahr schrumpfte sie allerdings um 0,8 Prozent. Auch 2018 wird das Wachstum um die 1 Prozent betragen, während für 2019 wieder ein Aufschwung von 5 Prozent zu erwarten ist (WKO 2.10.2018). Laut Weltbank wird erwartet, dass das gesamte BIP-Wachstum bis 2018 wieder auf positive 2,5 Prozent ansteigt. Die Wachstumsaussichten des Irak dürften sich dank der günstigeren Sicherheitslage und der allmählichen Belebung der Investitionen für den Wiederaufbau verbessern (WB 16.4.2018). Die positive Entwicklung des Ölpreises ist dafür auch ausschlaggebend. Somit scheint sich das Land nach langen Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen wieder in Richtung einer gewissen Normalität zu bewegen. Dieser positiven Entwicklung stehen gleichwohl weiterhin Herausforderungen gegenüber (WKO 2.10.2018).

So haben der Krieg gegen den IS und der langwierige Rückgang der Ölpreise seit 2014 zu einem Rückgang der Nicht-Öl-Wirtschaft um 21,6 Prozent geführt, sowie zu einer starken Verschlechterung der Finanz- und Leistungsbilanz des Landes. Der Krieg und die weit verbreitete Unsicherheit haben auch die Zerstörung von Infrastruktur und Anlageobjekten in den vom IS kontrollierten Gebieten verursacht, Ressourcen von produktiven Investitionen abgezweigt, den privaten Konsum und das Investitionsvertrauen stark beeinträchtigt und Armut, Vulnerabilität und Arbeitslosigkeit erhöht. Dabei stieg die Armutsquote [schon vor dem IS, Anm.] von 18,9 Prozent im Jahr 2012 auf geschätzte 22,5 Prozent im Jahr 2014 (WB 18.4.2018).

Jüngste Arbeitsmarktstatistiken deuten auf eine weitere Verschlechterung der Armutssituation hin. Die Erwerbsquote von Jugendlichen (15-24 Jahre) ist seit Beginn der Krise im Jahr 2014 deutlich gesunken, von 32,5 Prozent auf 27,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit nahm vor allem bei Personen aus den ärmsten Haushalten und Jugendlichen und Personen im erwerbsfähigen Alter (25-49 Jahre) zu. Die Arbeitslosenquote ist in den von IS-bezogener Gewalt und Vertreibung am stärksten betroffenen Provinzen etwa doppelt so hoch wie im übrigen Land (21,1 Prozent gegenüber 11,2 Prozent), insbesondere bei Jugendlichen und Ungebildeten (WB 16.4.2018).

Der Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.2.2018). Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Jobangebote sind mit dem Schließen mehrerer Unternehmen zurückgegangen. Im öffentlichen Sektor sind ebenfalls viele Stellen gestrichen worden. Gute Berufschancen bietet jedoch derzeit das Militär. Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt derzeit 350-1.500 USD, je nach Position und Ausbildung (IOM 13.6.2018).

Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt.

Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten (IOM 13.6.2018).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.2.2018). Sie deckt nur etwa 60 Prozent der Nachfrage ab, wobei etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 22.12.2017). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.2.2018).

Wasserversorgung

Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen (AA 12.2.2018). Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Die Wasserknappheit dürfte sich kurz- bis mittelfristig noch verschärfen.

Besonders betroffen sind die südlichen Provinzen, insbesondere Basra. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor, aber auch große Staudammprojekte in der Türkei und im Iran, die sich auf den Wasserstand von Euphrat und Tigris auswirken und zur Verknappung des Wassers beitragen. Niedrige Wasserstände führen zu einem Anstieg des Salzgehalts, wodurch das bereits begrenzte Wasser für die landwirtschaftliche Nutzung ungeeignet wird (UNOCHA 31.8.2018).

Parallel zur Wasserknappheit tragen veraltete Leitungen und eine veraltete Infrastruktur zur Kontaminierung der Wasserversorgung bei (UNOCHA 31.8.2018). Es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.2.2018). Im August meldete Iraks südliche Provinz Basra 17.000 Fälle von Infektionen aufgrund der Kontaminierung von Wasser. Der Direktor der Gesundheitsbehörde Basra warnte vor einem Choleraausbruch (Iraqi News 28.8.2018).

Nahrungsversorgung

Laut Welternährungsorganisation sind im Irak zwei Millionen Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen (FAO 8.2.2018). 22,6 Prozent der Kinder sind unterernährt (AA 12.2.2018). Schätzungen des Welternährungsprogramms zufolge benötigen mindestens 700.000 Iraker Nahrungsmittelhilfe (USAID 23.2.2018).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Schätzungen zufolge hat der Irak in den letzten vier Jahren jedoch 40 Prozent seiner landwirtschaftlichen Produktion verloren. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurde unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Das Land ist stark von Nahrungsmittelimporten abhängig (AW 11.2.2018; vgl. USAID 1.8.2017).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten "Public Distribution System" (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen. Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schweren Ineffizienzen gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 20.4.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschlandauswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irakstand-dezember-2017-12-02-2018.pdf, Zugriff 12.10.2018

-

AW - The Arab Weekly (11.2.2018): Can Iraq's ailing economy liberate itself in 2018?,

https://thearabweekly.com/can-iraqs-ailing-economy-liberate-itself-2018, Zugriff 15.10.2018

-

Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (10.7.2018): More than infrastructures: water challenges in Iraq, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-07/PB_PSI_water_challenges_Iraq.pdf, Zugriff 15.10.2018

-

Fanack (22.12.2017): Energy file: Iraq, https://fanack.com/fanack-energy/iraq/, Zugriff 15.10.2018

-

FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (8.2.2018): Iraq: Recovery and Resilience Programme 2018-2019, http://www.fao.org/3/I8658EN/i8658en.pdf, Zugriff 15.10.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (11.2018): Irak: Die wirtschaftliche Lage im Überblick, https://www.liportal.de/irak/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 20.11.2018

-

Iraqi News (28.8.2018): Iraq's Basra declares 17000 infection cases from water pollution,

https://www.iraqinews.com/features/iraqs-basra-declares-17000-infection-cases-from-waterpollution/,Zugriff 15.10.2018

-

IOM - International Organization for Migration (13.6.2018):

Länderinformationsblatt Irak (2017), https://www.bamf.de/SharedDocs/MILo-DB/DE/Rueckkehrfoerderung/Laenderinformationen/Informationsblaetter/cfs_irakdl_de.pdf;jsessionid=0E66FF3FBC9BF77D6FB52022F1A7B611.1_cid294?__blob=publicationFile, Zugriff 16.10.2018

-

K4D - Knowledge for Development Program (18.5.2018): Iraqi state capabilities,

https://assets.publishing.service.gov.uk/media/5b18e952e5274a18eb1ee3aa/Iraqi_state_capabilities.pdf, Zugriff 15.10.2018

-

UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (31.8.2018): Iraq: Humanitarian Bulletin, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/OCHA%20Iraq%20Humanitarian%20Bulletin%20-%20August%202018.pdf, Zugriff 15.10.2018

-

USAID - Unites States Agency for International Development (1.8.2017): Iraq: Agriculture

https://www.usaid.gov/iraq/agriculture, Zugriff 16.10.2018

-

USAID - Unites States Agency for International Development (23.2.2018): Food Assistance Fact Sheet: Iraq, https://www.usaid.gov/sites/default/files/documents/1866/Iraq_-_Country_Fact_Sheet.pdf, Zugriff 15.10.2018

-

USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html, Zugriff 4.10.2018

-

WB - The World Bank (16.4.2018): Iraq's Economic Outlook - April 2018,

https://www.worldbank.org/en/country/iraq/publication/economic-outlook-april-2018, Zugriff 16.10.2018

-

WB - The World Bank (18.4.2018): Iraq: Overview, http://www.worldbank.org/en/country/iraq/overview, Zugriff 15.10.2018

-

WKO - Wirtschaftskammer Österreich (2.10.2018): Die irakische Wirtschaft,

https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-irakische-wirtschaft.html, Zugriff 15.10.2018

1.2.3. Aktualisierung aufgrund aktueller Medienberichte

In Bagdad und im Süden des Irak protestieren Teile der Bevölkerung seit Anfang Oktober gegen Misswirtschaft und hohe Arbeitslosigkeit, Korruption und die nach Religion und Ethnie definierte Proporzregierung. Auch die Nähe der politischen Elite zum Iran steht im Fokus der Kritik (Deutsche Welle, 01.12.2019)

Von offizieller Seite wurde versucht, mit verschiedenen Maßnahmen zur Beruhigung der Situation beizutragen: Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi reichte seinen Rücktritt, der eine zentrale Forderung der Demonstranten war, ein. Die oberste Justizbehörde des Irak erließ einen Haftbefehl gegen einen Militärchef, der für das tödliche Durchgreifen gegen Demonstranten in einer Provinz im Südirak verantwortlich war (Deutsche Welle, 01.12.2019).

Eine Beruhigung der Lage konnte damit aber nicht erreicht werden: Am Freitag, 6. Dezember 2019, schossen Bewaffnete aus vier Fahrzeugen auf regierungskritische Protestierende am zentralen Al-Chalani Platz und töteten mindestens 16 Personen (die meisten Quellen sprechen von 24 Toten) und verletzten über 100 Menschen. Bereits vor dieser "Gräueltat" (laut UN) war eine Menschenrechtskommission von mehr als 400 Toten und mehr als 20.000 Verletzten ausgegangen (Zeit online, 07.12.2019).

Die Zahl der spurlos Verschwundenen und der willkürlich Verhafteten hat in den letzten Monaten stark zugenommen (Al Jazeera, 19.12.2019). Zugleich wird von den Demonstranten befürchtet, dass "Saboteure" versuchen, die Protestes zu diskreditieren und mit Gewalttaten in Verbindung zu bringen. So wurde nach einem Lynchmord an einem Jugendlichen, der sich gegen die Demonstranten gewandt hatte, eine Erklärung veröffentlicht, dass man sich von dieser Tat distanziere. Dennoch wurde vom einflussreichen Prediger Moktada al-Sadr nach Bekanntwerden des Vorfalls erklärt, dass er, wenn die Täter nicht gefunden würden, seine Milizionäre abziehen werde, die er nach dem blutigen Angriff auf die Demonstranten am 06.12.2019 zu deren Schutz entsandt hatte (Spiegel online, 12.12.2019). Zugleich war auch das Büro von Al-Sadr, der sich gegen den Iran stellt, in Nadjaf Ziel eines Anschlages (Süddeutsche Zeitung, 08.12.2019)

Die USA haben gegen drei Milizführer Sanktionen ausgesprochen, da sie mit anderen für die brutale Vorgehensweise gegenüber den friedlichen Demonstranten verantwortlich gemacht werden (The Guardian 07.12.2019); sie hätten im Auftrag des Iran gehandelt (The New York Times, 06.12.2019). Aktuell steht auch die schiitische Geistlichkeit an einer Weggabelung; der innerschiitische Konflikt zwischen den beiden größten schiitischen Ländern Iran und Irak wird weiter zunehmen (Deutsche Welle, 30.11.2019)

Trotz des harten Durchgreifens der Sicherheitsbehörden und dem Vorfall am 06.12.2019 zeigen sich die Demonstranten entschlossener denn je, für ihre Forderungen einzutreten (The Guardian, 07.12.2019). Jeder Versuch des Irans zu intervenieren könnte zu massiven Problemen führen, das Konsulat in Nadjaf wurde bereits zerstört und angezündet. Auch gibt es die Befürchtung, dass es zu Kämpfen zwischen Milizen, die den Protest unterstützen, und jenen, die ihn bekämpfen, kommen könnte (The Guardian 07.12.2019).

In der Zwischenzeit wurde auch noch keine Lösung für eine neue Regierung gefunden; laut Verfassung leitete der zurückgetreten Al Mahdi die Regierungsgeschäfte interimsmäßig noch bis 19.12.2019, doch konnte kein Kandidat für das vakante Amt auf genügend Unterstützung zurückgreifen, so dass eine politische Einigung noch aussteht (Der Standard, 20.12.2019). Das Parlament schaffte es auch in seiner Sitzung am 18.12.2019 nicht, eine der zentralen Forderungen der Demonstranten, nämlich ein neues Wahlrecht, zu erlassen. Ayatollah Ali al-Sistani erklärte am 20.12.2019, dass baldige Neuwahlen der einzige Weg aus der Krise seien (Reuters, 20.12.2019).

Die Lage eskalierte um den Jahreswechsel: Hunderte schiitische Milizionäre attackierten die US-Botschaft in Bagdad. Als die Demonstranten am Silvestertag versuchten, die US-Botschaft zu stürmen, bekamen sie Besuch von hochrangigen Kadern der Volksmobilisierungseinheiten, darunter: Jamal Jafaar Ibrahimi, mächtiger Kommandeur der Hisbollah-Brigaden und Vize-Chef der Volksmobilisierungseinheiten. Es wird vermutet, dass der Iran für diese Aktionen die Verantwortung trägt (Spiegel online, 01.01.2020). Die USA wiederum töteten bei einem Luftangriff auf den Flughafen in Bagdad am 2. Jänner 2020 den Kommandanten der iranischen Elitetruppe Kassem Soleimani und den Kommandeur der irakischen Miliz Abu Mahdi al-Muhandis (Reuters, 03.01.2020).

Das Parlament des Irak hat den Abzug von US-Truppen aus dem Land gefordert. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte für eine Resolution, die das Ende der ausländischen Militärpräsenz im Irak verlangt. Insbesondere wurde die Beendigung eines Abkommens mit den USA gefordert, in dem vor mehr als vier Jahren die Entsendung von US-Soldaten zum Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vereinbart worden war. 5.000 US-Soldaten sind aktuell im Irak stationiert (Zeit online, 05.01.2020). US-Präsident Donald Trump wiederum drohte dem Irak für den Fall eines feindseligen Rauswurfs amerikanischer Soldaten aus dem Land mit massiven Sanktionen (Zeit online, 06.01.2020).

Nach monatelangen Anti-Regierungsprotesten im Irak haben Sicherheitskräfte am 25.01.2020 mit Gewalt versucht, die Versammlungen aufzulösen. Dabei kam es in der Hauptstadt Bagdad und in anderen Städten zu Zusammenstößen mit Demonstranten, wie Augenzeugen und irakische Medien am Samstag berichteten. Augenzeugen berichteten am Samstag, die Anhänger des einflussreichen schiitischen Predigers Muktada al-Sadr hätten sich auf dessen Geheiß von den Demonstrationen zurückgezogen und ihre Protestlager aufgelöst. Al-Sadrs Anhänger hatten die Proteste in den vergangenen Wochen unterstützt. Demonstranten zeigten sich enttäuscht und warfen dem Geistlichen "Verrat" vor. Auch im Süden des Landes kam es zu Unruhen. (Tagesspiegel, 25.01.2020, FAZ, 27.01.2020).

Zur Lage in Basra:

Obwohl Basra mehr als 50 Kilometer vom Persischen Golf entfernt liegt, ist das Wasser des Flusses Schatt al-Arab, der an der Stadt vorbeifließt und das Kanalsystem speist, inzwischen fast so salzig wie Meerwasser. 2018 wurden mehr als 120.000 Einwohner der Stadt wegen Krankheiten behandelt, die vom verdreckten und versalzenen Trinkwasser in Basra herrührten. Der Ärger über die katastrophalen Lebensbedingungen trieb bereits im Sommer 2018 Zehntausende Demonstranten in Basra auf die Straßen (Spiegel online, 02.02.2019 und Deutschlandfunk, 10.08.2019).

Auch die aktuellen, von Bagdad ausgehenden Proteste haben sich in den Süden ausgedehnt und gerade auch in Basra zu Demonstrationen geführt, im Zuge derer Demonstranten von den Sicherheitskräften erschossen wurden (Al Jazeera, 08.11.2019). Dies hat zu einer weiteren Ausdehnung der Proteste geführt (Al Monitor, 26.11.2019).

Seit dem 25.01.2020 versuchen die Sicherheitskräfte in Basra (ebenso wie in Bagdad) mit Gewalt die Demonstrationen aufzulösen und die Proteste unter Kontrolle zu bekommen; aktuell gibt es noch keine gefestigten Zahlen zu Opfern bzw. Verletzten (Human Rights Watch, 31.01.2020).

Quellen:

* Al Jazeera, Iraqi forces kill several protesters in Baghdad and Basra, 08.11.2019, abrufbar unter https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraqi-forces-kill-protesters-baghdad-basra-191107233914084.html

* Al Jazeera, Iraq protests: Increase in number of disappearances, 19.12.2019, abrufbar unter

https://www.aljazeera.com/news/2019/12/iraq-protests-increase-number-disappearances-191219111900491.html

* Al Monitor, Protests spread in oil-rich Basra as death toll rises, 26.11.2019, abrufbar unter:

https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/iraq-basra-protests.html

* Der Standard, Neuer designierter Premier in Beirut, Patt in Bagdad, Artikel in der Printausgabe vom 20.12.2019

* Deutsche Welle, Gastkommentar von Rainer Hermann (FAZ): Irak - Die Ordnung von 2003 ist gescheitert, 30.11.2019, abrufbar unter https://www.dw.com/de/gastkommentar-irak-die-ordnung-von-2003-ist-gescheitert/a-51476583

* Deutsche Welle, Chaos oder Frieden: Welchen Weg nimmt der Irak?, 01.12.2019, abrufbar unter

https://www.dw.com/de/chaos-oder-frieden-welchen-weg-nimmt-der-irak/a-51490474

* Deutschlandfunk, Giftiges Wasser, giftiger Boden, 10.08.2019, abrufbar unter

https://www.deutschlandfunk.de/umweltkrise-im-irakischen-basra-giftiges-wasser-giftiger.799.de.html?dram:article_id=455982

* Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ein Toter bei Protesten im Irak, 27.01.2020, abrufbar unter

https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ein-mensch-stirbt-bei-protesten-im-irak-16602829.html

* Human Rights Watch, Iraq: Authorities Violently Remove Protesters, 31.01.2020, abrufbar unter

https://reliefweb.int/report/iraq/iraq-authorities-violently-remove-protesters

* Reuters, Iraq's Sistani says early election only way out of crisis, 20.12.2019, abrufbar unter https://www.reuters.com/article/us-iraq-protests/iraqs-sistani-says-early-election-only-way-out-of-crisis-idUSKBN1YO104

* Reuters, Irak - Raketenangriff auf Flughafen in Bagdad, 03.01.2020, abrufbar unter

https://de.reuters.com/article/irak-flughafen-raketenangriff-idDEKBN1Z20DM

* Spiegel online, So sieht das "Venedig des Nahen Ostens" heute aus, 02.02.2019, abrufbar unter

https://www.spiegel.de/politik/ausland/basra-im-irak-das-venedig-des-nahen-ostens-verkommt-zur-muellkippe-a-1251239.html

* Spiegel online, Jugendlicher in Bagdad von Menge gelyncht, 12.12.2019, abrufbar unter

https://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-jugendlicher-in-bagdad-von-demonstranten-gelyncht-a-1300975.html

* Spiegel online, Neujahrsgrüße aus Teheran, 01.01.2020, abrufbar unter

https://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-sturm-auf-us-botschaft-in-bagdad-drahtzieher-ist-iran-a-1303278.html

* Süddeutsche Zeitung, Gezielter Angriff auf Demonstranten, 08.12.2019, abrufbar unter

https://www.sueddeutsche.de/politik/irak-gezielter-angriff-auf-demonstranten-1.4714665

* Tagesspiegel, Sicherheitskräfte gehen mit Gewalt gegen Demonstranten vor, 25.01.2020, abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/politik/tote-und-verletzte-im-irak-sicherheitskraefte-gehen-mit-gewalt-gegen-demonstranten-vor/25473616.html

* The Guardian, Defiant protesters back in Baghdad square within an hour of slaugther, 07.12.2019, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2019/dec/07/protesters-return-baghdad-square-after-slaughter-iraq

* The New York Times, U.S. Seeks to Punish Iraqi Militias That Targeted Protesters With Iran¿s Help, 06.12.2019, abrufbar unter https://www.nytimes.com/2019/12/06/us/politics/iraq-iran-sanctions.html

* Zeit online, Unbekannte erschießen mindestens 16 Protestierende, 07.12.2019, abrufbar unter

https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/irak-proteste-bagdad-regierung-tote

* Zeit online, Irakisches Parlament fordert US-Truppenabzug, 05.01.2020, abrufbar unter

https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/irak-resolution-us-truppen-abzug-iran-kassem-soleimani

* Zeit online, Donald Trump droht Irak bei Rauswurf von US-Truppen mit Sanktionen, 06.01.2020, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/us-praesident-donald-trump-irak-truppenabzug-soldaten-sanktionen

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in aktuelle Berichte zur Situation im Irak. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) sowie der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt. Darüber hinaus wurde am 22.11.2018 im Beisein des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle XXXX, eine mündliche Verhandlung durchgeführt.

2.2. Zur Person und zu einer Gefährdung des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen hinsichtlich der Lebensumstände, des Gesundheitszustandes, der Arbeitsfähigkeit, der Herkunft, sowie der Glaubens- und Volkszugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf dessen diesbezüglich glaubhafte Angaben vor der belangten Behörde (Protokoll vom 16.11.2016) sowie vor dem Bundesverwaltungsgericht (Verhandlungsprotokoll vom 22.11.2018).

Die Identität des Beschwerdeführers steht aufgrund seines im Original vorgelegten irakischen Reisepasses Nr. XXXX fest.

Die Feststellung über die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich am 03.02.2020.

Dass der Beschwerdeführer im Irak nicht verfolgt wird, ergibt sich daraus, dass die Revision, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtete, zurückgewiesen wurde.

Auch wenn die Konflikte mit dem IS und die Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen nur mehr in geringerem Umfang Todesopfer fordern und das damit verbundene Ausmaß an Gewalt zurückgegangen ist, hat sich die im Oktober 2019 entstandene Protestbewegung derart ausgeweitet bzw. waren die Reaktionen der Sicherheitsbehörden derart repressiv und gewalttätig, dass es zu einer massiven Krise in der Politik, aber auch zu einer instabilen Sicherheitssituation geführt hat, die in den letzten Monaten Hunderte Tote und Zehntausende Verletzte gefordert hat. Auch eine politische Lösung ist trotz des Rücktritts des früheren Premierministers nicht in Sicht und bleibt auch abzuwarten, wie der Iran auf die zunehmende Kritik an seiner Rolle im Irak reagiert. Insbesondere durch die Ereignisse rund um den Jahreswechsel (Luftangriff der US auf Kassem Soleimani und den Kommandeur der irakischen Miliz Abu Mahdi al-Muhandis) droht der Irak zwischen die Fronten des Iran und der USA zu geraten und ist nicht ausgeschlossen, dass die Lage weiter eskaliert. Zudem verschlechtert sich die Versorgung der Bevölkerung Basras mit Lebensmitteln, Wasser und Strom seit Jahren zusehends und nimmt parallel dazu die Tat gewalttätiger und krimineller Aktivitäten zu.

Dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Basra aufgrund der höchst instabilen Sicherheitslage und der schlechten Versorgungslage in Basra gefährdet wäre, ergibt sich aus den unter 1.2. wiedergegebenen aktuellen Berichten. Auch der Verwaltungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 28.11.2019, Ra 2019/19/0393 unter Bezugnahme auf die unter Punkt 1.2.1. und 1.2.2 wiedergegebenen Feststellungen von einer "eskalierenden Gesetzeslosigkeit und der schlechten Sicherheitslage". Wie sich aus aktuellen Berichten zur Lage im Irak, konkret in Basra, ergibt (siehe dazu Punkt 1.2.3.), hat sich die Situation in den letzten Monaten und Wochen keinesfalls verbessert. Das Bundesverwaltungsgericht geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer in Basra in Gefahr wäre, aufgrund der eskalierenden Kriminalität, der andauernden Proteste und deren (versuchte) Niederschlagung durch die Sicherheitsbehörden, der schwierigen geopolitischen Situation zwischen den USA und dem Iran und der dadurch beeinflussten schwierigen innenpolitischen Lage (inklusive der nicht vorhersehbaren Reaktionen der verschiedenen Milizen) und der schlechten Versorgungslage in Gefahr wäre, sein Leben zu verlieren bzw. jedenfalls einen ernsthaften körperlichen Schaden zu erleiden.

Aufgrund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer in den anderen Landesteilen des Irak über keine Anknüpfungspunkte verfügt und sich die aktuelle Volatilität der Sicherheitslage nicht nur auf Basra bezieht, steht dem Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

2.4. Zu den Länderfeststellungen:

Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen, sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um kritische Sachverhalte geht, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme unterstellt werden kann. Zudem werden auch Quellen verschiedener Menschenrechtsorganisationen herangezogen, welche oftmals das gegenteilige Verhalten aufweisen und so gemeinsam mit den staatlich-diplomatischen Quellen ein abgerundetes Bild ergeben. Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen hinsichtlich des Inhaltes der Quellen, ihrer Natur und der Intention der Verfasser handelt es sich nach Ansicht der erkennenden Richterin bei den Feststellungen im angefochtenen Bescheid um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material (vgl. VwGH, 07.06.2000, Zl. 99/01/0210).

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zu Spruchpunkt I.:

Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ro 2019/19/0006, festgestellt, dass an der bisherig

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten