Entscheidungsdatum
19.12.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W187 2212494-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. - V. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs 1, 8 Abs 1 und § 10 Abs 1 Z 3 und § 57 AsylG 2005, iVm § 9 BFA-VG, § 52 FPG als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides wird insoweit stattgegeben, als die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs 2 FPG 14 Tage beträgt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang
1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das österreichische Bundegebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung am selben Tag wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab er an, er heiße XXXX , sei am
XXXX in XXXX , Afghanistan geboren, sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Als Beweggrund für seine Ausreise gab er an, es gebe in Afghanistan keine Sicherheit, die Lage sei sehr schlecht. Sein Onkel sei von den Taliban getötet worden. Aus Angst um den Beschwerdeführer habe seine Familie ihn weggeschickt. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Im Fall einer Rückkehr befürchte er, ebenfalls von den Taliban getötet zu werden.
3. Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) ein Handwurzelröntgen zur Bestimmung des Knochenalters an. Aus dem Röntgenbefund ergibt sich ein Mindestalter des Beschwerdeführers von XXXX Jahren zum Untersuchungszeitpunkt, woraus sich der XXXX als spätestmögliches Geburtsdatum des Beschwerdeführers errechnet. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass es sich beim Beschwerdeführer um eine minderjährige Person handelt, und legte sein Geburtsdatum mit XXXX fest.
4. Mit Aktenvermerk vom XXXX stellte die belangte Behörde das Asylverfahren des Beschwerdeführers gemäß § 24 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG ein. Begründend führte sie aus, der Aufenthaltsort des Beschwerdeführers sei wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht trotz Belehrung über etwaige negative Konsequenzen weder bekannt noch sonst leicht feststellbar. Eine Entscheidung ohne weitere Einvernahme könne nicht erfolgen.
5. Am XXXX stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz bei der Landespolizeidirektion XXXX unter der Identität XXXX , geboren am XXXX . Der Beschwerdeführer wurde am selben Tag nochmals durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu einvernommen. Dort gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass sein Onkel Taxifahrer gewesen sei. Dieser Onkel sei entführt und getötet worden. Sein zweiter Onkel sei spurlos verschwunden. Der Beschwerdeführer habe große Angst bekommen, dass ihm auch etwas passieren könne. Deshalb habe ihn sein Vater nach Österreich geschickt. Er habe Angst um sein Leben.
6. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu, seiner gesetzlichen Vertreterin und einer Vertrauensperson niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Dabei gab der Beschwerdeführer an, er heiße richtig
XXXX , sei am XXXX in Afghanistan in der Provinz Nangahar geboren, afghanischer Staatsbürger und Paschtune. Befragt nach seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst an, sein Bruder habe Probleme mit den Taliban gehabt. Nach einer Schlägerei mit den Taliban sei der Bruder des Beschwerdeführers in den Iran geflohen. Zwei Jahre später seien die Taliban zum Beschwerdeführer nach Hause gekommen und hätten ihn mitgenommen. Die Taliban hätten die Augen des Beschwerdeführers verbunden und ihn dann auf einem Motorrad zu einem unbekannten Ort in ein Zimmer gebracht. Dort habe er eine Woche lang für die Taliban arbeiten müssen. Er habe geputzt und das Geschirr gewaschen. Der Beschwerdeführer habe während dieser Zeit viel geweint und gebeten, ihn nach Hause gehen zu lassen, da seine Mutter krank sei. Die Taliban hätten ihn daraufhin mit verbundenen Augen auf dem Motorrad nach Hause gebracht. Zwei Wochen später seien die Taliban zurückgekommen und hätten den Beschwerdeführer wieder auf einem Motorrad mitgenommen. Er habe dann eine dreitägige Schulung bekommen, in der sie ihm gezeigt hätten, wie man mit einer Pistole schießen könne. Der Beschwerdeführer habe während dieser Zeit ebenfalls viel geweint. Zwei Tage lang habe er weder Essen noch Trinken bekommen und immer wieder gesagt, dass er nach Hause wolle. Da der Beschwerdeführer nichts gegessen habe, sei die Situation schlecht geworden. Die Taliban hätten ihn daher nochmals nach Hause gebracht. Dort habe der Beschwerdeführer alles erzählt, woraufhin seine Mutter mit seinem Onkel gesprochen habe. Die Taliban hätten vom Beschwerdeführer gefordert, seinen Bruder zu töten, weil dieser bei der Regierung als Soldat arbeite, obwohl der Beschwerdeführer gesagt habe, dass der Bruder nicht mehr in Afghanistan sei. Der Onkel des Beschwerdeführers habe sodann seine Ausreise organisiert. Als der Beschwerdeführer in der Türkei gewesen sei, habe ihm sein Schlepper gesagt, dass der Onkel von den Taliban ermordet worden sei, weil er die Ausreise des Beschwerdeführers organisiert habe.
7. Am XXXX langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Stellungnahme der gesetzlichen Vertretung des Beschwerdeführers zur niederschriftlichen Einvernahme vom XXXX sowie zu den von der belangten Behörde ins Verfahren eingeführten Länderberichten ein.
8. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgeführt, dass gemäß § 55 Abs 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe. Unter Spruchpunkt VII. wurde der Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs 1 Z 3 und 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
9. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch das Land XXXX , Abteilung Kinder- und Jugendhilfe als gesetzliche Vertretung, mit Schreiben vom XXXX fristgerecht vollumfängliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den minderjährigen Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erlassen worden wäre, sowie wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Mit der Beschwerde wurde ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt.
10. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.
11. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
12. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurden den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan übermittelt.
13. Die belangte Behörde teilte mit Schreiben vom XXXX mit, dass die Teilnahme eines informierten Vertreters an der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei, und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
14. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein der ausgewiesenen Rechtsvertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.
Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:
"[...]
Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?
Beschwerdeführer: Ich nehme keine Medikamente ein. Ich stehe unter Behandlung. Ich wurde geimpft. Von der Unterkunft aus werden Termine vereinbart.
[...]
Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?
Beschwerdeführer: Ich wurde in Afghanistan in der Provinz Nangarhar geboren. Mein Geburtsdatum wurde hier festgestellt, offiziell bin ich am XXXX geboren.
Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?
Beschwerdeführer: Meine Muttersprache ist Paschtu. Ich kann weder lesen noch schreiben. Ich meine auf Paschtu. Ich spreche bzw verstehe ein wenig Farsi und Deutsch kann ich auch.
Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.
Beschwerdeführer: Ich bin Paschtune, Sunnite und ledig.
Richter: Haben Sie Kinder?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
Beschwerdeführer: Ich habe nur in meinem Heimatdorf gelebt, woanders in der Heimat habe ich nicht gelebt.
Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?
Beschwerdeführer: In unserem eigenen Haus.
Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?
Beschwerdeführer: Eine Schule habe ich in Afghanistan nicht besucht. Ich habe meinem Vater ausgeholfen und zwar habe ich die Maschine bedient, die die Mühle vorangetrieben hat, um Mehl zu produzieren.
Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
Beschwerdeführer: Sie leben in meinem Heimatdorf in einem Lehmhaus.
Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?
Beschwerdeführer: Ich hatte zuvor keinen Kontakt zu ihnen, vor ca. zwei oder drei Wochen habe ich es geschafft, den Kontakt zu ihnen herzustellen.
Richter: Haben Sie in Afghanistan sonstige oder andere Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wollen Ihre Eltern und Geschwister auch nach Österreich kommen?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?
Beschwerdeführer: Ich besuche zurzeit einen Deutschkurs hier. Ich spiele auch Fußball. Ich helfe freiwillig in der Unterkunft aus, wir haben dort Betreuer.
Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?
Beschwerdeführer: Ja, ich habe vier bis fünf gute Freunde und die anderen sind nur normale Freunde.
Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?
Beschwerdeführer: Ein Bursche hat eine Auseinandersetzung angezettelt, aber es wurde richtig erkannt, dass ich unschuldig war. Ich habe nichts Falsches gemacht.
Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!
Beschwerdeführer: Ich habe große Probleme in der Heimat bekommen. Soll Ihnen jetzt alles erzählen und schildern? Mein Bruder hat mir eigentlich all diese Probleme übertragen. Mein Bruder hat an einem Abend am Telefon gesprochen. Die Taliban sind zu ihm gekommen. Es ist zu einer Auseinandersetzung gekommen. Es ist hoch gefährlich dort, in der Dunkelheit sich im Freien dort zu bewegen, weil die Taliban dort herumgehen. Mein Bruder ist dann davongelaufen. Er ist in den Iran geflüchtet. Er ist zuerst nach Hause gekommen und sofort über den anderen Eingang weitergeflüchtet. Ich habe nicht mitbekommen, was passiert ist. Ich habe meine Mutter gefragt, wo mein Bruder hin ist. Sie hat mir dann schlussendlich erzählt, was vorgefallen ist und dass er eine Auseinandersetzung mit den Taliban hatte. Meine Mutter hat mir auch erzählt, dass mein Bruder wegen der Taliban in den Iran flüchten musste. Damals, als mein Bruder geflüchtet ist, war ich jünger. Es ist Zeit vergangen, ungefähr zwei Jahre nach seiner Flucht, als die Taliban angefangen haben, mir das Leben schwer zu machen. Sie sind gekommen, haben an unserer Haustüre geklopft und haben von meinem Vater gefordert, mich ihnen zu stellen. Zuerst wurde mein Vater gefragt "Wo befindet sich dein Sohn?" Aus Not hat er gesagt, dass ich nicht da bin. Sie haben aber die Türe eingetreten und haben mich gefunden. Sie haben mich an meiner Hand gepackt, meine Mutter hat geweint. Sie haben mich weggezerrt, danach haben sie mir die Augen zugebunden. Mit einem Motorrad wurde ich weggebracht. Ich wurde an einem unbekannten Ort, wo diese Leute gelebt haben, gebracht. Ich wurde in einem Zimmer eingesperrt. Ungefähr zwei Stunden war ich dort drinnen. Danach sind sie zu mir gekommen und haben mir gesagt, meine Aufgabe sei es, für sie zu kochen. Ich habe ca. eine Woche diese Arbeit für sie gemacht. Ich habe während der Zeit dort immer wieder gesagt, dass meine Mutter krank ist. Ich habe die Männer darum gebeten, mich zu meiner Mutter gehen lassen zu können. Sie haben mir dann eine Augenbinde angebracht und mit dem Motorrad wieder nach Hause gebracht. Sie haben mir auch gesagt, dass sie mich wieder abholen werden. Ich habe dann zwei Wochen lang meinem Vater bei seiner Arbeit unterstützt und die Maschine bedient. Nach zwei Wochen sind sie in unser Haus hineingestürmt, ohne vorher anzuklopfen. Ich bin mit meiner Mutter zuhause gesessen. Auf die Schnelle habe ich gesehen, dass vier oder fünf Männer da waren. Sie haben mich weggezerrt, mir wieder eine Augenbinde angebracht und mich mit einem Motorrad weggebracht. Als ich dorthin gebracht wurde, haben sie angefangen, mir das Schießen beizubringen. Eine Woche lange musste ich das Schießen üben. Ich habe immer wieder geweint und die Männer angebettelt, mich nach Hause gehen zu lassen. Die Männer haben geglaubt, dass mein Bruder bei der Nationalarmee ist und sie wollten, dass ich an ihrer Seite gegen ihn kämpfe. Die Taliban hassen die Männer, die für die Nationalarmee arbeiten. Ich habe ihnen sofort gesagt, dass sich mein Bruder nicht in Afghanistan aufhält. Die Männer haben zu mir gesagt, bevor ich mit ihnen in den Krieg ziehe, kann ich mich noch zuhause verabschieden. Mit dem Motorrad haben sie mich nach Hause gebracht. Nachdem ich nach Hause gebracht wurde, hat mein Onkel väterlicherseits, der ein Taxifahrer ist, mir geholfen. Meine Mutter hat ihm erzählt, dass ich große Probleme habe. Mein Onkel hat einen Schlepper gefunden, der mich dann aus der Heimat weggebracht hat. Als ich in der Türkei angekommen bin, habe ich erfahren, dass diese Leute meinen Onkel väterlicherseits getötet haben. Der Schlepper hat angerufen und danach hat er mir erzählt, dass mein Onkel getötet wurde. Ich bin dann weitergeflüchtet und hier angekommen.
Richter: Zur ersten Entführung durch "diese Leute" haben Sie beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl angegeben, dass diese Sie gesehen haben und hineingekommen sind, jetzt haben Sie gesagt, dass sie die Tür eingetreten haben und Sie gesucht haben. Was sagen Sie dazu? (S. 219)
Beschwerdeführer: Ich habe das auch damals gesagt, dass sie mich gezielt gesucht haben. Sie haben die Haustüre eingetreten und mich direkt gesehen.
Richter: Sie haben beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl angegeben, dass Sie bei Ihrem ersten Zwangsaufenthalt bei "diesen Leuten" putzen und Geschirr abwaschen mussten. Jetzt haben Sie angegeben, dass Sie dort kochen mussten. Was ist richtig?
Beschwerdeführer: Ich habe erklärt, dass ich gekocht habe und somit alles, was ich schmutzig gemacht habe, geputzt habe. Ich musste auch das Geschirr waschen.
Richter: Wer waren "diese Leute"?
Beschwerdeführer: Das sind die Taliban.
Richter: Waren die Taliban in irgendeiner Art und Weise auffällig gekleidet?
Beschwerdeführer: Sie haben gewöhnliche traditionelle Trachten an, tragen längere Bärte, was andere auch mussten, aber viele von ihnen haben lange Haare.
Richter: Sind Sie außer bei den geschilderten Vorfällen jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?
Beschwerdeführer: Nein. Ich war damals noch jünger.
Richter: Warum hatte Ihr Bruder Probleme mit den Taliban?
Beschwerdeführer: Er hat am späten Abend telefoniert und diese Leute haben Angst, dass man ihren Aufenthaltsort an den Staat weitergibt. Ich nehme an, dass sie so gedacht haben, das habe ich jetzt in der Befragung so gesagt, weil ich es vermute.
Richter: Wodurch sind Sie aktuell in Afghanistan bedroht?
Beschwerdeführer: Um zu überleben, muss ich in meine Heimatregion zurückkehren. Dort werde ich über kurz oder lang erschossen. Sie wissen, dass ich geflüchtet bin und wenn ich zurückkehre, werden sie mir vorwerfen, dass ich von der Religion abgefallen bin und ungläubig bin. Wenn man vor diesen Leuten flüchtet, dann vergessen sie das nicht. Es sind Menschen vor Ort, die einen verraten.
Richter: Praktizieren Sie Ihre Religion?
Beschwerdeführer: Ich bin nicht streng, dass ich das Freitagsgebet befolgte, aber hie und da, wenn ich verzweifelt bin, bete ich. Ich sehe das etwas anders, ich finde, dass sehr viel Zwang in der Religion ist. Jeder Mensch soll frei sein. Ob jemand an etwas glaubt oder nicht glaubt, dass sollte mich nicht jucken. Vielleicht sollte man Religion mal beiseitelassen und über Menschlichkeit sprechen.
Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?
Beschwerdeführer: Ich wurde von Afghanistan zuerst in den Iran, dann weiter über die Türkei nach Bulgarien und dann über Serbien und Ungarn nach Österreich gebracht.
Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?
Beschwerdeführer: Mein Onkel väterlicherseits.
Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!
Beschwerdeführer: Wie bitte? Ich sitze heute vor Ihnen, weil man mir eine negative Entscheidung gegeben hat. Ich kann wirklich nicht in Afghanistan leben.
Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?
Beschwerdeführer: Wenn ich zurückkehren sollte, dann werden sie mich früher oder später finden. Ich kann nicht in anderen Provinzen unterkommen. Es sind nicht nur diese Leute, sondern auch die Menschen dort, die glauben, dass man seinen Glauben verloren hat, nur, weil man woanders war. Sie werden mir sofort unterstellen, dass ich von der Religion weggekommen bin. So ist das.
Der Beschwerdeführer bringt nichts mehr vor.
Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?
Beschwerdeführer: Ja."
15. Am XXXX langte eine Vollmachtsbekanntgabe des Vereins Menschenrechte Österreich beim Bundesverwaltungsgericht ein.
16. Mit E-Mail XXXX übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bundesverwaltungsgericht eine Verlustbestätigung über den Verlust der Asylkarte des Beschwerdeführers zur Kenntnis.
17. Am XXXX übermittelte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht einen Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion XXXX an die Staatsanwaltschaft XXXX zur Kenntnis, wonach der Beschwerdeführer als Beschuldigter hinsichtlich eines Raufhandels am XXXX geführt wird.
18. Die belangte Behörde ersuchte mit E-Mail vom XXXX um Bekanntgabe, wann mit einer Entscheidung in dieser Angelegenheit gerechnet werden könne.
19. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde mit Schreiben vom 3.12.2019 das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 zur Stellungnahme.
20. Der Beschwerdeführer äußerte sich dazu mit Schriftsatz vom 17.12.2019.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.
1. Feststellungen
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, ist (im Entscheidungszeitpunkt) volljährig und afghanischer Staatsangehöriger. Seine Identität steht nicht fest. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekannt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht aber auch ein wenig Farsi. Der Beschwerdeführer ist Analphabet und kann diese Sprachen weder lesen noch schreiben. Er ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer wurde in der afghanischen Provinz Nangahar im Distrikt XXXX im Dorf XXXX geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise im Jahr XXXX gemeinsam mit seinen Eltern, zwei Brüdern und zwei Schwestern im familieneigenen Haus im afghanischen Familienverband. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers lebt im Iran.
Der Beschwerdeführer besuchte in seinem Herkunftsland keine Schule. Er arbeitete in der familieneigenen Landwirtschaft, wo er sich um die Tiere kümmerte, und half seinem Vater in der familieneigenen Mühle, wo er die Maschine bediente, die die Mühle vorantrieb, um Mehl zu produzieren.
Die Familie des Beschwerdeführers lebt nach wie vor im Heimatdorf des Beschwerdeführers. Dass der Onkel des Beschwerdeführers bereits verstorben ist, konnte nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt mit seiner Familie.
1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer reiste illegal schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Anschließend war er bis XXXX in Österreich im Zentralen Melderegister hauptwohnsitzgemeldet. Im XXXX verließ der Beschwerdeführer die Republik Österreich und fuhr mit dem Zug nach Italien, wo er sich fünf bis sechs Monate aufhielt. Seit zumindest XXXX , als er neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet stellte, hält sich der Beschwerdeführer durchgehend in Österreich auf. Er hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich.
Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Er besuchte seit seiner Einreise mehrere Basisbildungs- und Deutschkurse, konnte jedoch kein Zertifikat über den Abschluss der Deutschkurse vorlegen. Es kann daher nicht festgestellt werden, auf welchem Niveau der Beschwerdeführer Deutsch spricht. Von XXXX nahm er an einem Kurs über Berufsorientierung des Vereins XXXX teil und besuchte im XXXX den Werte- und Orientierungskurs des ÖIF. In seiner Unterkunft hilft er freiwillig aus und unterstützt seine Betreuer. Der Beschwerdeführer ist kein Mitglied in einem Verein und nicht ehrenamtlich tätig.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft. In seiner Freizeit spielt er gerne Fußball oder geht Schwimmen.
In Österreich leben keine Verwandten oder sonstigen wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich, noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Der Beschwerdeführer wird derzeit gemäß Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion XXXX vom XXXX an die Staatsanwaltschat XXXX als Beschuldigter hinsichtlich eines Raufhandels am XXXX geführt.
Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig.
1.3 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan
Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch die Taliban wegen unterstellter politischer Gesinnung und Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie sowie mit Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Zwangsrekrutierung betroffenen jungen Männer.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Bruder des Beschwerdeführers Schwierigkeiten mit den Taliban hatte und deshalb in den Iran geflohen ist. Dass der Beschwerdeführer ungefähr zwei Jahre später durch die Taliban mehrmals entführt wurde bzw diese ihn rekrutieren wollten, um seinen Bruder zu ermorden, kann ebenso wenig festgestellt werden. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Onkel des Beschwerdeführers nach dessen Ausreise von den Taliban ermordet wurde. Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen, Zwangsrekrutierung oder Verfolgung durch die Taliban etwa aufgrund unterstellter politischer Gesinnung bzw Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie bzw Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Zwangsrekrutierung betroffenen jungen Männer ausgesetzt wäre, ist nicht zu erwarten.
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.
Die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Nangarhar) zählt zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, die Zahl der zivilen Opfer ist angestiegen. Bewaffnete Aufständische, darunter die Taliban, sind in Nangarhar aktiv und kontrollieren manche Distrikte. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Mitgliedern der Taliban und des ISKP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan). Militärische Spezialeinheiten sind in der Provinz tätig. Es werden regelmäßig militärische Operationen, darunter auch Luftangriffe und Bodenoffensiven, durchgeführt, um gewisse Distrikte von Aufständischen zu befreien.
Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Nangarhar droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.
Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Die Provinz Balkh gehört zu den friedlichsten Provinzen Afghanistans und ist vom Konflikt relativ wenig betroffen. Sie verzeichnet im Vergleich zu anderen Provinzen geringe Aktivitäten von Aufständischen. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif steht unter Regierungskontrolle und verfügt über einen internationalen Flughafen, über den die Stadt sicher erreicht werden kann.
Die Provinz Balkh war von einer Dürre betroffen.
Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung sind in Mazar-e Sharif grundsätzlich gegeben. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet.
Dass dem Beschwerdeführer im Fall einer Niederlassung in der Stadt Mazar-e-Sharif die Gefahr droht, aufgrund der angespannten Sicherheitslage verletzt, misshandelt oder getötet zu werden, kann nicht festgestellt werden. Auch kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückführung in die genannte Stadt keine Lebensgrundlage vorfinden würde bzw nicht in der Lage wäre, die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz zu decken.
Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationalen Organisationen. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.
1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
1.4.1 Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben)
1.4.1.1 Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
1.4.1.2 Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit
29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahr