Entscheidungsdatum
02.01.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2197385-1/13E
W191 2197385-2/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerden des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch das Land Wien, Magistratsabteilung 11, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1) vom 02.05.2018, Zahl 1127982410-161192404, und 2) vom 12.02.2019, Zahl 1127982410-161192404, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.11.2019 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 02.05.2018 wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Im Übrigen werden die angefochtenen Bescheide in Erledigung der Beschwerden behoben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 02.01.2021 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein minderjähriger afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und wurde im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle am 24.08.2016 in 1100 Wien Hauptbahnhof mangels eines gültigen Aufenthaltstitels vorläufig festgenommen. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF.
1.2. In seiner Erstbefragung am 30.08.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion (PI) Traiskirchen, Erstaufnahmestelle (EAST), gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu und eines Rechtsberaters im Zulassungsverfahren im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei zwölf Jahre alt, stamme aus der Provinz Laghman, sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und ledig.
Zu seiner Reiseroute machte er kaum Angaben.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er Afghanistan wegen des Krieges verlassen habe. Er hätte deswegen nicht in die Schule gehen können. Die Taliban und die Daesh [IS] würden die Kinder in seinem Alter zwingen, in den Krieg zu ziehen, oft müssten sie sich in die Luft sprengen. Er wolle nicht sterben, deshalb sei er hierher gekommen.
1.3. Der BF wurde in einer Betreuungseinrichtung der Stadt Wien für unbegleitete minderjährige Fremde aufgenommen.
Mit Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 08.09.2016 wurde das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Obsorge für den BF betraut.
1.4. Von 14. bis 15.05.2017 war der BF stationär im Krankenhaus aufhältig, nachdem ihm bei einer Rauferei die Nase gebrochen worden war.
1.5. Im Schuljahr 2016/17 besuchte der BF als außerordentlicher Schüler eine öffentliche Neue Mittelschule in 1120 Wien.
1.6. Im Sozialbericht der Caritas der Erzdiözese Wien vom 22.03.2018 wurde über die Interessen und Aktivitäten des BF berichtet. Er wurde positiv beschrieben.
1.7. Bei seiner Einvernahme am 30.03.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Wien, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, seiner gesetzlichen Vertreterin und einer Vertrauensperson (Betreuerin, Caritas), bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben. Er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt Qarghaio. Zu seiner Familie habe er regelmäßigen Kontakt.
Der BF gab an, ihm seien Psychopharmaka verordnet worden, derzeit nehme er keine mehr. Er sei seit ca. eineinhalb Jahren bei XXXX in Behandlung. Der BF machte auf Nachfragen Angaben zu seiner Ausreise und zu seinen Lebensumständen. Er habe hier in Österreich eine Patin und - meist afghanische - Freunde und Bekannte.
Zu seinem Fluchtvorbringen beantwortete er Fragen. Die Taliban hätten ihm als ältesten Sohn der Familie gesagt, dass er sich ihnen anschließen solle. Dies sei geschehen, als er auf dem Rückweg von einer Kuh am Berg, der er Essen gebracht habe, gewesen sei. Die Taliban hätten ihn insgesamt dreimal geschlagen. Er habe es zuhause erzählt. Sein Vater, der am Bein behindert sei, hätte ihm nicht helfen können, aber dann mit dem Onkel seine Ausreise organisiert.
Hier in Österreich sei er früher Kickboxen gegangen. Er habe Schlafprobleme und deshalb oft Termine versäumt. Er besuche zweimal in der Woche die Moschee.
1.8. In der Stellungnahme seines gesetzlichen Vertreters vom 27.04.2018 wurde unter anderem mitgeteilt, dass der BF seit Dezember 2016 bei XXXX (Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen) in fachärztlicher psychiatrischer Behandlung sei. Diagnostiziert sei eine Anpassungsstörung mit depressiver Bestimmung (Befund vom 24.04.2018 lag bei), Psychopharmaka seien verschrieben worden. Aufgrund dieser Umstände habe der BF Probleme, Termine einzuhalten und die Schule regelmäßig zu besuchen.
Aus dem in der Einvernahme dem BF ausgefolgten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan wurde auszugsweise zitiert und daraus Argumente für eine Schutzgewährung an den BF verwendet.
1.9. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 02.05.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 30.08.2016 [richtig: 24.08.2016] gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen seine Abschiebung nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Seine Fluchtgeschichte habe der BF vage und undetailliert geschildert und keine konkrete individuelle Bedrohungssituation nachvollziehbar dargelegt. Sein Vorbringen sei unplausibel.
Subsidiärer Schutz wurde dem damals 14-jährigen BF nicht zuerkannt, da ihm die Möglichkeit der Teilnahme an Unterstützungsprojekten, im Besonderen von IOM, zur Verfügung stünde.
1.10. Gegen diesen Bescheid brachte der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts - insbesondere wegen Verstoß gegen §§ 3 und 8 AsylG sowie gegen die UN-Kinderrechtskonvention und das BV-G über die Rechte von Kindern, in eventu wegen Verletzung erheblicher Verfahrensvorschriften - ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid grob mangelhaft und nicht nachvollziehbar sei. Das BFA habe nicht beachtet, dass der BF zur besonders vulnerablen Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen gehöre. Er sei zudem krank und in Therapie. Die Ausführungen im angefochtenen Bescheid seien mehrfach aktenwidrig.
Aus diversen Berichten zu Afghanistan, insbesondere zur Praxis der Zwangsrekrutierung von jungen Männern laut Landinfo (Norwegen), zu Ausführungen dazu von UNHCR sowie zur Lage in Kabul wurde zitiert.
Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
1.11. Am 29.10.2018 wurde der BF, der von seiner Unterkunft abgängig war, beim Versuch, Suchtmittel zu handeln, betreten und angezeigt. Zwei Anzeigen wegen § 125 Strafgesetzbuch (StGB, Sachbeschädigung) wurden erstattet. Mit Bescheid vom 12.02.2019 sprach das BFA aus, dass der BF gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG sein Recht zum Aufenthalt ab dem 07.02.2019 verloren habe.
1.12. Auch gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schreiben seiner gesetzlichen Vertreterin vom 12.03.2019 Beschwerde und begründete dies im Wesentlichen damit, dass zum einen gemäß § 13 AsylG die vorgenommene Feststellung nicht in einem eigenen Bescheid, sondern mittels Verfahrensanordnung zu erfolgen habe. Zum anderen bestünden schwerwiegende rechtsstaatliche Bedenken gegen § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG, die näher ausgeführt wurden.
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21.02.2019, 161 Hv 17/19d, wurde gegen den BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln gemäß § 27 Abs. 2a SMG (Suchtmittelgesetz) ein Schuldausspruch unter Vorbehalt eines Strafausspruchs auf eine Probezeit von zwei Jahren erlassen.
1.13. Das BVwG führte am 25.11.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der ein Vertreter des BFA sowie der BF in Begleitung seiner gesetzlichen Vertreterin und zweier Vertrauenspersonen (Betreuungspersonen, Caritas) persönlich erschienen.
Dabei gab der BF auf Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Paschtu. Darüberhinaus kann ich ein bisschen Dari. Urdu verstehe ich, kann ich aber nicht sprechen, außerdem kann ich ein bisschen Englisch.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: In Paschtu.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja, es geht mir gut.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Ja, in der Nacht kann ich nicht gut schlafen, ich mache mir viele Sorgen und Gedanken.
BFV [Vertreterin des BF] legt vor: eine ärztliche Bestätigung vom 14.11.2019, wonach beim BF eine "Schlafstörung bei V.a. [Verdacht auf] Anpassungsstörung" vorliegt.
BFV: Der BF hat einen umgekehrten Tag-Nacht Rhythmus.
RI: Nehmen Sie die verordneten Medikamente?
BF: Ich nehme drei Tage hintereinander abends 50 mg Trittico und am vierten Tag dies sowie zusätzlich eine Alprastad.
RI: Hilft Ihnen das?
BF: Ja.
R: Wieso können Sie dann trotzdem nicht einschlafen?
BF: Manchmal kann ich um zwei oder drei Uhr morgens einschlafen.
Die anwesenden VP [Vertrauenspersonen] werden um Auskunft dazu ersucht. Sie geben an, dass der BF immer wieder Trittico eingenommen hat, zuletzt zwei bis drei Monate nicht. Nun wurde ihm Trittico wieder verschrieben.
[...]
Der BF hat bisher eine Kopie der Tazkira (afghanisches Personaldokument) seines Vaters in Kopie vorgelegt. Weitere Belege zu seiner Identität oder zu seinem Fluchtvorbringen hat er keine vorgelegt und legt auch heute keine vor.
Bezüglich seiner Gesundheit hat der BF mehrere Belege vorgelegt (Hyperventilation; stationärer Aufenthalt zwei Tage in einem Krankenhaus nach Nasenbeinbruch nach Raufhandel, mehrere Röntgenbefunde sowie ein EKG).
Der BF hat einen Sozialbericht vorgelegt, wonach er an einer Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik leidet.
Bezüglich seiner Integration hat er Schulbesuchsbestätigungen vorgelegt. Heute legt er weiter vor: eine Integrationskursbestätigung vom 11.08.2017 sowie eine Bestätigung über die Vornahme einer Suchtmittel- Gesprächstherapie vom 19.09.2019
RI: Besuchen Sie die Therapie?
BF (beantwortet die Fragen immer wieder auf Deutsch): Ja. Es ist eine Gesprächstherapie, ich besuche sie ca. alle drei Wochen.
Die VP geben auf Nachfrage an, dass der BF anfangs die Schule besucht hat, sie dann aber nur mehr sporadisch besucht hat. Die VP als Betreuerinnen stünden aber in Kontakt mit dem Klassenvorstand. Eine Wiederaufnahme des Schulbesuchs wäre jederzeit möglich. Der BF besuche die Schule aber derzeit nicht, hauptsächlich aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Paschtune.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin sunnitischer Moslem.
RI: Beten Sie täglich?
BF: Ja, aber oft einmal komme ich nicht dazu. Ich besuche am Freitag die Moschee und, wenn möglich, noch einmal in der Woche.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Nein.
RI: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?
BF: Nein.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe keine Schule besucht. Ich habe zwei Jahre lang eine Madrassa besucht und dort den Koran gelernt.
RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF: Mein Vater hat damals gearbeitet, er hatte einen Lebensmittelladen. Jetzt arbeitet er nicht mehr. Er hat eine Beinbehinderung, und daher kann er nicht mehr Arbeiten gehen. Mein Onkel lebt in Frankreich, er schickt Geld an seine Mutter und auch ein bisschen an meine Mutter. Meiner Familie geht es derzeit wirtschaftlich nicht gut.
RI: Wann haben Sie Afghanistan verlassen?
BF: Etwa vor drei oder dreieinhalb Jahren.
R: Wo haben Sie in Afghanistan überall Verwandte?
BF: Ich weiß, dass unsere Verwandten in Jalalabad leben, ich glaube der Rest lebt in Laghman.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?
BF: Ich habe Bekannte in Österreich.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja, ich verstehe Sie, aber ich kann nicht so gut sprechen.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und fließend auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Derzeit nicht.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?
BF: Ich habe Sport gemacht, aber jetzt nicht mehr.
RI: Was haben Sie für einen Sport gemacht?
BF: Kickboxen.
RI: Beschreibe Sie mir einen Tagesablauf.
BF: Wenn ich aufstehe, dann dusche ich mich. Dann frühstücke ich. Dann gehe ich in die Moschee beten. Nach dem Gebet komme ich nach Hause, ich esse zu Mittag. Dann gehe ich Cricket spielen.
RI: Wo spielen Sie Cricket?
BF: Manchmal bei der Neuen Donau, manchmal in einem Park im 15. Bezirk.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Ich weiß nicht, ob ich eine Verurteilung habe bzw. welche Verurteilung.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ja, über das Internet. Manchmal funktioniert es und manchmal nicht, ungefähr ein- bis zweimal die Woche mit meiner Mutter und mit meinem Vater. Ich habe drei Brüder, mit ihnen habe ich auch Kontakt.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Warum haben Sie Afghanistan verlassen?
BF: In Afghanistan konnte ich nicht mehr leben, es war sehr hart für mich. Ich bin mehrmals von den Taliban bedroht und aufgefordert worden, mich ihnen anzuschließen. Die Taliban haben uns angeworben, zu ihnen zu kommen und für sie zu arbeiten. Sie haben uns auch geschlagen. Die Taliban habe uns nicht zur Schule gehen lassen, sie ließen uns auch nicht spielen.
RI: Wie geht es Ihren Brüdern jetzt?
BF: Meine Brüder sind noch klein, und sie sind zuhause.
RI: 12-jährige Buben werden von den Taliban zwangsrekrutiert?
BF: Ja, sie rekrutieren junge Männer. Die Taliban machen die Jungs zu Selbstmordattentäter, dann lassen sie sie in die Städte gehen.
RI: Haben Sie irgendwelche Belege dafür?
BF: Nein, ich habe weder Belege, noch Beweise dafür. Damals wusste ich auch nicht, dass Belege oder Dokumente darüber sehr wichtig sein könnten.
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Im Falle einer Rückkehr würde ich von den Taliban rekrutiert oder getötet werden. Sie könnten mich überall in Afghanistan finden.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihr die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
Die Verhandlung wird um 10:00 Uhr unterbrochen und um 10:05 Uhr fortgesetzt.
BFV: Berichten Sie mir bitte über die Taliban-Kontakte.
BF: Ich führte unsere Rinder. Auf dem Weg zurück haben mich die Taliban aufgefordert, für sie zu arbeiten bzw. mich ihnen auszuschließen. Sie sprachen mich an und sagten, ich solle mit ihnen mitgehen und für sie arbeiten. Ich sagte, dass ich nicht mit ihnen mitkommen werde, weil ich auch Angst hatte. Sie haben noch ein bisschen mit mir gesprochen und mich geschlagen, sie haben mir meine Speicherkarte abgenommen. Wegen meiner Speicherkarte haben sie mich auch geschlagen. Dann ging ich nach Hause. Ich habe von dem Vorfall meiner Mutter erhält, dabei weinte ich, dann begann auch meine Mutter zu weinen. Am Abend kam mein Vater nachhause, dem erzählte ich auch von dem Vorfall. Dann hat er mit meinem Onkel mütterlicherseits gesprochen, die Taliban haben mich zwei- bis dreimal bedroht. Mein Vater hatte Angst um mein Leben, weil ich der älteste Sohn der Familie war. Dann habe ich von dem Vorfall auch meinem Onkel mütterlicherseits erzählt, ich sagte ihm, dass ich nicht mehr in Afghanistan leben kann. Dann sagte er zu mir, ich solle ein bisschen warten. Dann hat mein Onkel mütterlicherseits mich nach Europa geschickt.
BFV: Wie ging es den anderen jugendlichen Burschen in Ihrem Alter?
BF: Sie befanden sich in derselben Situation wie ich. Einer von den Jungs ist dann vermisst worden, manche von ihnen verließen auch das Land und kamen nach Europa.
RI: Haben Sie Kontakt zu einem von diesen?
BF: Mit einem von den Jungs hatte ich früher Kontakt. Zu dem Zeitpunkt befand er sich in der Türkei. Ich hatte Kontakt mit ihm über Facebook. Dann habe ich mein Facebook-Kennwort verloren, so ging auch der Kontakt zu ihm verloren.
BFV: Keine weiteren Fragen.
RI: Wie Sie in der Schule waren, besuchten Sie auch den Religionsunterricht. Was haben Sie da gemacht?
BF: Nein, in der Schule in Österreich hatte ich keinen Religionsunterricht besucht, ich habe an einem Religionsunterricht in einer Moschee teilgenommen.
RI: Möchten Sie immer noch Mechaniker werden?
BF: Ja.
RI: Haben Sie Ihre Patin noch?
BF: Nein.
RI: Was ist passiert?
VP: Wir denken, dass die Patin den Kontakt abgebrochen hat, und zwar nicht aus Gründen betreffend den BF, sondern aus persönlichen Gründen.
BFA: Aufgrund der Minderjährigkeit des BF erscheint die Gewährung von subsidiärem Schutz angebracht. Das Vorliegen von asylrelevanten Gründen ist nicht erkennbar, und es darf auch auf den Bescheid verwiesen werden, wonach den Angaben des BF keine konkreten Details weder zur Bedrohung durch die Taliban, noch sonst eine asylrelevante Verfolgung aus Sicht der Behörde zu entnehmen ist.
RI befragt BFV, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen will.
BFV: Laut Landinfo-Bericht rekrutieren die Taliban nicht durch Zwang mit vorgehaltener Waffe, sondern mit gesellschaftlichem Druck. Z.B. jede Familie gibt den ältesten Sohn. Jugendliche aus dem Dorf haben bereits das Dorf aufgrund der Präsenz der Taliban und der schlechten Sicherheitslage, wo unterschiedlichste Gruppen untereinander kämpfen, zur Gänze verlassen. Aus dem aktuellen LIB [Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA] geht die mangelnde psychiatrische Versorgung der Bevölkerung hervor. Auf das Alter des BF wird ersucht, Rücksicht zu nehmen.
Weiters wird auf den Bescheid zu § 13 AsylG Bezug genommen. Dieser Bescheid hätte nicht ergehen dürfen, weil § 13 lediglich eine Verfahrensanordnung vorsieht, die über das Aufenthaltsrecht abspricht und eine Verfahrensanordnung nicht in Rechtskraft erwächst. Ein bescheidmäßiger Abspruch über den Verlust des Aufenthaltsrechts ist mit verfahrensabschließendem Bescheid vorgesehen. [...]"
Das BVwG brachte zusätzlich Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2. Beweisaufnahme).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 30.08.2016 und der Einvernahme vor dem BFA am 30.03.2018, die Kopie der Tazkira des Vaters des BF, die Aktenvorgänge betreffend die Gesundheit und das Verhalten des BF, den Sozialbericht vom 22.03.2018 und die Stellungnahme der MA 11 vom 27.04.2018, die angefochtenen Bescheide vom 02.05.2018 und vom 12.02.2019 sowie die Beschwerden vom 29.05.2018 und vom 12.03.2019
* Einsicht in die Gerichtsakten des BVwG
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Bescheidseiten 12 bis 87 im unnummerierten Verwaltungsakt)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 25.11.2019 sowie Einsichtnahme in folgende in der Verhandlung vorgelegten Dokumente:
? Integrationskursbestätigung vom 11.08.2017
? Bestätigung über die Vornahme einer Suchtmittel-Gesprächstherapie vom 19.09.2019
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Laghman, über die Gesundheitsversorgung und über die Lage von Kindern (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)
o Auszug aus EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan, Rekrutierungsstrategien der Taliban (Juli 2012, Seite 42-44,) sowie
o Auszug aus Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban, vom 29.06.2017 (Arbeitsübersetzung)
Der BF hat keinerlei Beweismittel oder sonstige Belege für sein Fluchtvorbringen vorgelegt.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , stammt aus XXXX , Distrikt Qarghaio, Provinz Laghman, Afghanistan, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch etwas Dari und versteht Urdu.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF lebte bis Sommer 2016 gemeinsam mit seinen Eltern, drei Brüdern und einer Schwester in seinem Heimatdorf. Er besuchte zwei Jahre lang eine Koranschule und war seiner Familie in der Landwirtschaft behilflich.
3.1.3. Der BF verließ aus angegebenen Gründen seinen Heimatort und seine Familie und reiste als Zwölfjähriger bis nach Europa, wo er am 24.08.2016 in Österreich um Asyl ansuchte.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF verließ seinen Heimatort aufgrund der dortigen schwierigen Lebensbedingungen.
3.2.2. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonstige Probleme.
3.2.3. Der BF hat sein Vorbringen, dass ihm als jungen Mann individuell und konkret Zwangsrekrutierung durch die Taliban drohe, nicht glaubhaft gemacht, und konnten somit asylrelevante Gründe des BF für das Verlassen seines Heimatstaates nicht glaubhaft gemacht werden.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Laghman ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Eine Rückkehr und Ansiedelung außerhalb der Herkunftsprovinz seiner Eltern, insbesondere in der Stadt Kabul oder anderen größeren Städten, ist dem BF aufgrund seiner individuellen Umstände nicht zumutbar. Er gehört als minderjähriger Bursche mit gesundheitlichen (psychischen) Problemen einer besonders vulnerablen Personengruppe an.
Die vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es dem BF möglich ist, in Kabul oder anderen größeren Städten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedelung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
3.4. Zur Integration des BF in Österreich:
3.4.1. Der BF ist seit August 2016 in Österreich aufhältig. Er bemüht sich in Österreich um seine Integration. Er besuchte zunächst eine Neue Mittelschule (deren Besuch ihm weiter offen stünde), leidet aber an erheblichen gesundheitlichen (psychischen) Problemen und ist seit vielen Monaten in Gesprächs- und medikamentöser Therapie bei XXXX , sowie zuletzt auch in einer Therapie bezüglich Suchtmittel, und hat daher die Schule zuletzt nicht oder nur sporadisch besucht.
3.4.2. Das Strafgericht hat mit Urteil vom 21.02.2019 wegen eines Suchtmitteldeliktes betreffend den BF einen Schuldspruch ohne Strafausspruch auf Probezeit gefällt.
3.4.3. Der BF ist in Betreuung durch eine Einrichtung der Caritas der Erzdiözese Wien. Er hat keine hinsichtlich Art. 8 EMRK relevanten Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich. Er hat Freunde und Bekannte. Seine Familie lebt in Afghanistan. Er besucht in Österreich regelmäßig die Moschee.
3.4.4. Der BF kann recht gut Deutsch. Er ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist.
3.4.5. Eine Integration des BF in Österreich in besonderem Ausmaß liegt nicht vor.
3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.5.1. Dass der BF einem real bestehenden Risiko unterliegen würde, der Todesstrafe unterzogen zu werden, hat sich auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nicht ergeben und wurde vom BF auch nicht behauptet.
3.5.2. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
3. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
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Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit
29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontro