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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §52Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und die Hofräte Dr. Schick und Dr. Grünstäudl als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision des I C in K, vertreten durch die Niedermayr Rechtsanwalt GmbH in 4400 Steyr, Stadtplatz 46, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. August 2017, Zl. L518 2164150-1/4E, betreffend Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice Landesstelle Oberösterreich), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde (durch Bestätigung des Bescheides der belangten Behörde vom 20. Juni 2017) der Antrag des Revisionswerbers vom 20. April 2017 auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2 und 14 Abs. 1 und 2 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) abgewiesen und festgestellt, dass der Revisionswerber mit einem Grad der Behinderung von 40 vH dem Kreis der begünstigten Behinderten nicht angehöre. Unter einem wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.
2 In der Begründung gab das Verwaltungsgericht (wörtlich) das im Verfahren eingeholte Gutachten einer medizinischen Sachverständigen betreffend die Gesundheitsbeeinträchtigungen des Revisionswerbers wieder. Daran anschließend führte das Verwaltungsgericht unter "Feststellungen (Sachverhalt)" lediglich aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Revisionswerber die Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten erbringe.
3 Im erwähnten Gutachten sei auf die Art der Leiden und deren Ausmaß sowie die relevanten Vorbringen und Befunde eingegangen worden. Im Zuge der Gutachtenserstellung sei ein "Z.n. Lendenwirbelkörperbruch mit Dauerschmerzen und episodischer Verschlechterung (Pos. Nr. 02.01.02; 40 vH); Asthma bronchiale, Bedarfsmedikation bei zeitweise leichtem Asthma bronchiale (Pos. Nr. 06.05.01; 10 vH), restless leg Syndrom bei guter medikamentöser Einstellung (Pos. Nr. 04.06.01; 10 vH) und eine Entleerungsstörung der Blase bei Vorliegen einer überaktiven Blase (Pos. Nr. 08.01.06; 10 vH)" festgestellt worden. Mit dem Beschwerdevorbringen habe der Revisionswerber dem Gutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene bzw. substantiiert entgegentreten können. Bei den Wirbelsäulenbeschwerden hätten die chronischen Dauerschmerzen mit episodischen Verschlechterungen Berücksichtigung gefunden. Es liege kein Grund vor, von den schlüssigen, widerspruchsfreien und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen abzugehen. "Die Sachverständigengutachten und die Stellungnahmen" würden im oben beschriebenen Umfang in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt. Gemäß dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten sei von einem Gesamtgrad der Behinderung auszugehen.
4 Abschließend führte das Verwaltungsgericht begründend aus, dass seiner Ansicht nach auf die Durchführung einer Verhandlung habe verzichtet werden können. Dazu wird auf § 24 VwGVG und auf näher zitierte Rechtsprechung des EGMR betreffend den Entfall der Verhandlungspflicht bei Verfahren über "ausschließlich rechtliche oder hochtechnische Fragen", verwiesen und angemerkt, dass der gegenständlich relevante Sachverhalt aufgrund der vollständigen und schlüssigen Sachverständigengutachten geklärt erscheine.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision. Sie führt zur Zulässigkeit aus, das Verwaltungsgericht hätte schon von Amts wegen zu berücksichtigen gehabt, dass das ihm vorliegende Gutachten, auf das sich bereits die belangte Behörde gestützt hatte, nicht hinreichend nachvollziehbar ist, was der Revisionswerber mit seinem Beschwerdevorbringen verdeutlicht habe.
6 Die belangte Behörde nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 1.1. Das Behinderteneinstellungsgesetz, BGBl. 22/1970 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 40/2017 (BEinstG), lautet (auszugsweise):
"Begünstigte Behinderte
§ 2. (1) Begünstigte Behinderte im Sinne dieses Bundesgesetzes sind österreichische Staatsbürger mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 vH. ...
...
Feststellung der Begünstigung
§ 14. (1) Als Nachweis für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gilt die letzte rechtskräftige Entscheidung über die Einschätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit mindestens 50 vH
a) eines Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (der
Schiedskommission) bzw. des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen oder der Bundesberufungskommission im Sinne des Bundesberufungskommissionsgesetzes, BGBl. I Nr. 150/2002, oder des Bundesverwaltungsgerichtes;
...
(2) Liegt ein Nachweis im Sinne des Abs. 1 nicht vor, hat auf Antrag des Menschen mit Behinderung das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen den Grad der Behinderung nach den Bestimmungen der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) einzuschätzen und bei Zutreffen der im § 2 Abs. 1 angeführten sonstigen Voraussetzungen die Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Behinderten (§ 2) sowie den Grad der Behinderung festzustellen. ...
..."
9 1.2. Die Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010 idF
BGBl. II Nr. 251/2012, lautet (auszugsweise):
"Grad der Behinderung
§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung
in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.
...
(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. ...
Gesamtgrad der Behinderung
§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.
(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn - sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt, - zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.
(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.
Grundlage der Einschätzung
§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen -zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.
(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.
...
Anlage zur Einschätzungsverordnung
...
02 Muskel - Skelett - und Bindegewebssystem
Haltungs- und Bewegungsapparat
Allgemeine einschätzungsrelevante Kriterien:
Beweglichkeit und Belastbarkeit - den allgemeinen Kriterien der Gelenksfunktionen, der Funktionen der Muskel, Sehnen, Bänder und Gelenkskapsel sind gegenüber den alleinigen Messungen des Bewegungsradius eine stärkere Gewichtung zu geben.
Entzündungsaktivität (Schmerzen, Schwellung).
Bei radiologischen Befunden ist die Korrelation mit der
klinischen Symptomatik für die Einschätzung relevant.
Ausmaß der beteiligten Gelenke, Körperregionen und organische
Folgebeteiligung.
02.01 Wirbelsäule
...
02.01.02 Funktionseinschränkungen mittleren Grades 30 - 40 %
Rezidivierende Episoden (mehrmals pro Jahr) über Wochen
andauernd maßgebliche radiologische Veränderungen andauernder
Therapiebedarf wie Heilgymnastik, physikalische Therapie,
Analgetika Beispiel: Bandscheibenvorfall ohne Wurzelreizung
(pseudoradikuläre Symptomatik)
30 %: Rezidivierende Episoden (mehrmals pro Jahr) über Wochen
andauernd, maßgebliche radiologische Veränderungen andauernder
Therapiebedarf wie Heilgymnastik, physikalische Therapie,
Analgetika
40 %: Rezidivierend und anhaltend, Dauerschmerzen eventuell
episodische Verschlechterungen, maßgebliche radiologische und/oder
morphologische Veränderungen
maßgebliche Einschränkungen im Alltag und Arbeitsleben
02.01.03 Funktionseinschränkungen schweren Grades 50 - 80%
50 %: Maßgebliche radiologische und/oder morphologische
Veränderungen
Maßgebliche Einschränkungen im Alltag und Arbeitsleben
60% Chronischer Dauerschmerz mit episodischen
Verschlechterungen
Einfache analgetische Therapie (NSAR) nicht mehr
ausreichend 70 %
..."
10 2. Die Revision ist aus dem von ihr genannten Grund zulässig, sie ist - wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt - auch begründet:
11 2.1. Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass das angefochtene Erkenntnis den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung (§ 17 VwGVG iVm §§ 58 und 60 AVG) nicht gerecht wird, fehlen darin doch schon die in einem ersten Schritt (im Indikativ) zu treffenden eindeutigen, eine Rechtsverfolgung durch die Partei und eine nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglichenden konkreten Feststellungen über die - vom Verwaltungsgericht als erwiesen angenommene - konkrete Art und den Umfang der Leidenszustände des Revisionswerbers. Die bloße Zitierung von Beweisergebnissen, im vorliegenden Fall der Ausführungen der Sachverständigen, ist, wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt betont hat, nicht hinreichend (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 25. 5. 2016, Ra 2016/11/0057, und die dort zitierte Vorjudikatur).
12 2.2. Das angefochtene Erkenntnis ist aber, wie die Revision zutreffend ausführt, auch unter weiteren Gesichtspunkten mit Rechtswidrigkeit behaftet:
13 2.2.1. Nach dem im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Gutachten bestehen beim Revisionswerber mehrere Funktionsbeeinträchtigungen, denen von der Sachverständigen jeweils ein spezifischer Grad der Behinderung zugeordnet wurde. Als führendes Leiden wurde unter Pkt. 1 angegeben: Zustand nach Lendenwirbelkörperbruch; Dauerschmerzen mit episodischer Verschlechterung, belastungsabhängig. Diesem Leiden wurde die Positionsnummer 02.01.02 der Einschätzungsverordnung und ein Grad der Behinderung von 40 vH zugeordnet. Es ergebe sich ein Gesamtgrad der Behinderung von 40%, weil die weiteren drei (auch in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses wiedergegebenen) Leiden geringfügige Funktionsbeschränkungen mit einem Grad der Behinderung von jeweils nur 10 vH seien und den Gesamtgrad der Behinderung nicht steigerten.
14 Diese Ausführungen reichen jedenfalls nicht für eine schlüssige Begründung des angenommenen Gesamtgrades der Behinderung von 40%, fehlt es doch schon im Gutachten (und erst Recht im Rahmen der Beurteilung durch das Verwaltungsgericht) an einer ausreichenden Begründung (vgl. § 4 Abs. 2 der Einschätzungsverordnung) hinsichtlich des Gesamtgrades der Behinderung. Dies ergibt sich schon daraus, dass die gebotene Abgrenzung von den nächsthöheren Positionsnummern der Einschätzungsverordnung gänzlich fehlt. So ist aus der Begründung nicht annähernd ersichtlich, weshalb die medizinische Sachverständige den Zustand des Revisionswerbers nicht so eingeschätzt hat, dass er die Annahme der Positionsnummer 02.01.03 (60% chronischer Dauerschmerz mit episodischen Verschlechterungen; Einfache analgetische Therapie (NSAR) nicht mehr ausreichend) gerechtfertigt hätte, dies umso mehr, als im Gutachten dezidiert von episodischer Verschlechterung die Rede ist (vgl. zum Erfordernis einer begründeten Abgrenzung das Erkenntnis VwGH 8. 7. 2015, Ra 2015/11/0036).
15 Der Verwaltungsgerichtshof teilt daher nicht die Rechtsansicht, das gegenständliche Gutachten sei vollständig und könnte dem angefochtenen Erkenntnis als schlüssig zugrunde gelegt werden.
16 2.2.2. Schließlich verkennt das Verwaltungsgericht aber auch die Rechtslage, wenn es meint, dass im vorliegenden Fall auf die Durchführung einer Verhandlung habe verzichtet werden können. Dazu genügt es, gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das Erkenntnis VwGH 25.5.2016, Ra 2016/11/0057, und das dort angeführte Erkenntnis VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036, zu verweisen, in welchem auch auf die relevante Rechtsprechung des EGMR Bezug genommen wurde. Angesichts der behaupteten Funktionsbeeinträchtigungen des Revisionswerbers war die Verhandlung zur Klärung des Sachverhaltes erforderlich, um nicht zuletzt durch die Befragung des ärztlichen Sachverständigen (vorzugsweise jenes Arztes, dem der größtmögliche Überblick über die konkreten Beeinträchtigungen zukommt) eine Beurteilung der beim Revisionswerber vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und deren Zusammenwirken vornehmen zu können.
17 2.3. Da die aufgezeigte inhaltliche Rechtswidrigkeit dem genannten Verfahrensfehler (Feststellungsmangel) prävaliert, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
18 3. Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 4. Dezember 2017
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017110256.L00Im RIS seit
29.04.2020Zuletzt aktualisiert am
29.04.2020