Entscheidungsdatum
28.11.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W161 2199490-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für
Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2018, Zl.: 1090301004-151512479, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.09.2019 zu
Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der volljährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stellte am 08.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner Erstbefragung am selben Tag gab der BF an, er sei ledig und seine Muttersprache sei Dari. Er sei sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Er habe neun Jahre lang die Grundschule in Kapisa besucht und die letzten zwei bis drei Jahre als Hilfsarbeiter gearbeitet. In Afghanistan würden seine Eltern und seine drei Schwestern leben.
Als Fluchtgrund gab der BF an, er sei aus Afghanistan ausgereist, weil die Sicherheitslage dort sehr schlecht sei. Bei einer Rückkehr habe er aufgrund der Sicherheitslage Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte.
3. Am 01.02.2018 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) in der Sprache Dari einvernommen. Er gab an, es gehe ihm gut. Früher habe er beim Laufen Probleme mit dem Herz gehabt, er habe Tabletten gegen die Beschwerden genommen. Derzeit nehme er die Medikamente nicht mehr.
Weiters gab der BF an, dass der Dolmetscher der Erstbefragung Farsi gesprochen habe, weshalb er nicht alles verstanden habe. Es gäbe Fehler im Protokoll. Die Fragen des BFA, ob die Niederschrift korrekt protokolliert und rückübersetzt worden sei und seine damals gemachten Angaben vollständig gewesen seien und der Wahrheit entsprochen hätten, bejahte der BF. Auf die Frage, welche Fehler es im Protokoll gegeben habe, führte der BF aus, dass er sich keine Notizen gemacht habe und dies deshalb nicht wisse. Nachdem dem BF die Erstbefragung vom BFA vorgelesen wurde, gab dieser an, verlobt zu sein. Zudem sei der Fluchtgrund nicht ganz korrekt. Er sei dort in Gefahr gewesen und habe deshalb ausreisen müssen. Er wolle heute etwas zum Fluchtgrund hinzufügen.
Zu seinem Gesundheitszustand gab der BF an, Brustschmerzen beim Laufen gehabt zu haben. Er sei dann mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht worden und in ärztlicher Behandlung gewesen. Derzeit habe er aber keine Beschwerden und nehme keine Medikamente ein.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen gab er ergänzend an, seit etwa einem Jahr verlobt zu sein. Seine Verlobte sei in Afghanistan. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und habe in Afghanistan nicht gearbeitet, sondern sei nur zur Schule gegangen. Die finanzielle Situation sei gut, seine Eltern und Schwestern würden im Eigentumshaus des Vaters leben. Er telefoniere einmal in der Woche mit seiner Familie, dieser gehe es gut. Zudem würden noch ein Onkel, sechs Tanten und ein Großvater in Kapisa bzw. Kabul leben.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF wie folgt an:
"Im ersten Monat vom Jahr 2015 haben wir mit einem Messer Holz geschnitzt. Ein Freund von mir wurde dabei unabsichtlich, von meinem Messer, getötet. Wir haben mit den Messern Holz geschnitzt. Mein Freund hatte einen älteren Bruder im Iran. Er hatte vom Tod seines Bruders erfahren und wollte Rache nehmen und mich töten. Ungefähr 4-5 Monate hat es gedauert bis sein Bruder vom Iran nach Afghanistan gekommen ist. Zu diesem Zeitpunkt bin ich aber bereits ausgereist. Wenn ich dort geblieben wäre, hätte er mich umgebracht.
F: Haben Sie noch weitere Gründe, weshalb Sie Ihr Heimatland verlassen haben?
A: Nein, ich hatte keine anderen Probleme.
F: Haben Sie sämtliche Gründe und Vorfälle, welche Sie zum Verlassen Ihres Heimatlandes veranlasst haben, angeführt?
A: Ja.
F: Genug Zeit gehabt alle Vorfälle und Gründe zu schildern?
A: Ja.
...
F: Können Sie mir den Vorfall mit dem Messer konkreter schildern?
A: Wir haben gemeinsam gespielt, wir wollten das Holz spitzen. Das Messer war in meiner Hand, er ist zu mir gelaufen und das Messer hat ihn getroffen. Da wo wir wohnten gab es kein Krankenhaus und keinen Arzt. Das Krankenhaus war drei Stunden entfernt, es gab kein Auto. Ich habe gemeinsam mit anderen Freunden organisiert, dass man ihn ins Krankenhaus bringt, doch leider hat er es bis ins Krankenhaus nicht mehr geschafft. Danach hat sein Vater das erfahren und kam ins Krankenhaus. Er hat mich geschlagen und hat mich beschimpft. Man sieht es auf meiner Stirn Anmerkung: Zeigt Narbe auf Stirn. Als sein älterer Bruder das erfahren hat wollte er Rache nehmen. Er glaubte nicht, dass es sich um einen Unfall handelte. Er hat mich vom Iran aus angerufen und mich telefonisch bedroht. Er sagte, dass er mich umbringen würde sobald er nach Afghanistan kommt. Es hat 4-5 Monate gedauert bis er nach Afghanistan gekommen ist. Als ich erfahren habe dass er nach Afghanistan kommen will, habe ich vorher Afghanistan verlassen.
F: Wie oft wurden Sie bedroht?
A: 5-6 Mal telefonisch.
F: Von wem wurden Sie bedroht?
A: Von dem älteren Bruder, von sonst niemandem.
F: Ist Ihre Familie von diesem Problem nicht betroffen?
A: Seine Eltern waren im Krankenhaus und haben mich geschlagen. Ich hätte 3 Tage im Krankenhaus stationär bleiben sollen. Sein Vater meinte, dass er nichts mehr mit der Sache zu tun hat, sondern der ältere Bruder die Sache klärt, also mich umbringt oder nicht. Nachgefragt gebe ich an, dass seine Familie mich geschlagen hat und der Dorfälteste meinte die Sache soll besprochen werden, wenn der ältere Bruder aus dem Iran nach Afghanistan kommt.
F: Die Frage wird erneut gestellt.
A: Ich habe meiner Familie gesagt, dass es ein Unfall war und sie haben mir geglaubt, dass ich unabsichtlich jemanden umgebracht habe.
F: Wieso hat der ältere Bruder sich so lange Zeit genommen um nach Afghanistan zu kommen?
A: Er hat im Iran auf der Baustelle gearbeitet und durfte seine Stelle nicht verlassen. Er durfte erst nachdem er mit der Arbeit fertig war und seinen Lohn erhielt ausreisen.
F: Obwohl es sich um einen Todesfall in der Familie handelte?
A: Anscheinend nicht.
F: Wo hat sich dieser Vorfall ereignet?
A: In unserem Dorf.
F: Etwas konkreter?
A: In einem Wald, wir haben dort Hölzer gesammelt. Ungefähr einen Kilometer von zu Hause entfernt.
F: Wann hat sich der Vorfall ereignet?
A: Es war ein Nachmittag. Nachgefragt gebe ich an, dass es im ersten Monat 2015 war. Zwischen dem 15 und dem 20. Ich kann mich nicht mehr genau an den Tag erinnern.
F: Waren weitere Personen anwesend?
A: Es waren zwei weitere Freunde anwesend, sie waren aber 50-100m entfernt. Sie haben nicht genau gesehen was passiert ist.
F: Wie lange blieben Sie nach diesem Vorfall noch in Afghanistan?
A: Ich habe am 28.08.2015 Afghanistan verlassen.
F: Wie viele Tage oder Wochen blieben Sie nach dem Vorfall noch im Heimatland?
A: 8 Monate blieb ich noch in Afghanistan.
F: Gibt es sonstige Vorfälle Ihrer Person betreffend?
A: Nein.
F: Gibt es in Ihrem Heimatort eine Polizei?
A: Nein. Dort herrschen nur die Taliban. Die Polizei hat dort keine Macht.
F: Wieso sind Sie nicht vorher ausgereist?
A: Ich wollte nicht aus meiner Heimat weg. Als ich telefonisch bedroht wurde habe ich gemerkt dass die Lage ernst ist und ich in Gefahr bin. Dann habe ich den Entschluss gefasst Afghanistan zu verlassen. Ich weiß nicht mal woher er meine Telefonnummer hatte.
F: Von wo aus haben Sie Ihr Heimatland verlassen?
A: Von unserem Dorf aus bin ich nach Kabul gefahren. Dann von Kabul aus mit Hilfe der Schlepper bin ich nach Nimruz gefahren. Über Pakistan dann nach Iran mit einem Toyota - mit Hilfe der Schlepper. Ich blieb ca. 7-8 Tage in Iran, bin dann Richtung Türkei weitergereist. Danach über die Balkanroute nach Europa.
F: Wie hieß das Krankenhaus zu dem Ihr Freund gebracht wurde?
A: Ich habe das bereits vergessen, das ist schon 2 1/2 Jahre her. Es heißt XXXX .
F: Waren Sie auch in diesem Krankenhaus?
A: Ja.
F: Wie lange?
A: Drei Tage lang, genau an dem Tag als mein Freund ins Krankenhaus gebracht wurde blieb ich dann drei Tage dort.
F: Wie ist es dann weitergegangen?
A: Ich bin zu Hause zurückgekehrt. Ich hätte mich einen Monat lang zu Hause erholen sollen.
F: Wie weit ist das Krankenhaus von ihrem Heimatdorf entfernt.
A: Zu Fuß drei Stunden, wie viele Kilometer das sind, weiß ich nicht.
F: Als Ihr Freund mit dem Messer verletzt wurde, wer hat ihn ins Krankenhaus gebracht?
A: Als er verletzt wurde habe ich gemeinsam mit den zwei anderen Freunden ihn ins Krankenhaus gebracht. Ich habe dort seinen Eltern Bescheid gegeben.
F: Ist der ältere Bruder Ihres Freundes eine wichtige Persönlichkeit in Afghanistan?
A: Ich habe ihn nicht gesehen. Gehört habe ich auch nichts. Ich habe einen Cousin in Iran und er hat meinem Cousin gesagt, dass er ihm schwört mich umzubringen.
F: Woher kannte er Ihren Cousin?
A: Sie haben dort anscheinend gemeinsam gelebt.
F: Haben die beiden zusammen gearbeitet?
A: Nein.
F: Wann wurden Sie das erste Mal telefonisch bedroht?
A: 2 Monate nach dem Vorfall.
F: Wann war das letzte Mal?
A: Das letzte Mal war am 03.08.2015.
F: Haben Sie alles erzählt, was Sie sagen möchten?
A: Ja.
...
F: Wann trafen Sie den Entschluss zur Ausreise?
A: Nach der ersten Bedrohung habe ich schon entschieden Afghanistan zu verlassen.
F: Wann sind Sie tatsächlich ausgereist?
A: Am 26.08.15 habe ich Afghanistan verlassen."
Zu seinem Leben in Österreich gab der BF an, Mitglied in zwei Kontaktgruppen zu sein. Er besuche auch ein Sprachcafe und leiste gemeinnützige Arbeit. Weiters besuche er dreimal in der Woche einen Deutschkurs, zweimal in der Woche einen Kontaktchor und gehe auch in einen Gitarrenkurs. Er lebe von der Grundversorgung.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme legte der BF folgende Unterlagen vor:
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Befund eines Krankenhauses vom 06.02.2017 und 07.02.2017, wonach der BF vom 04.02.2017 bis 06.02.2017 in stationärer Behandlung gewesen sei. Diagnosen: "leichte Myokarditis (I51.4), resp. Infekt der oberen Atemwege (J98.8)". Im Befund wurde weiters festgehalten, dass der BF keinerlei vaskuläre Risikofaktoren aufweise und beschwerdefrei nach Hause entlassen worden sei. Als Entlassungsmedikation wurden für eine Woche Vimovo-Tabletten verordnet.
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unauffällige Laborwerte vom 04.02.2017 und 06.02.2017;
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Schreiben betreffend Lungenröntgenkontrolle;
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Empfehlungsschreiben eines Jugend- und Kulturvereins wonach der BF als ehrenamtlicher Helfer insgesamt 15 Stunden im Küchenbereich tätig gewesen sei;
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Erfahrungsbericht und Bestätigung betreffend die gemeinnützigen Tätigkeiten des BF im Sportpark einer Gemeinde;
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Bestätigungen über das ehrenamtliche Engagement bzw. die Teilnahme des BF im Chor "Singen ohne Grenzen";
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Bestätigung, wonach der BF regelmäßig ein Flüchtlingscafe besuche um dort die deutsche Sprache zu lernen;
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Empfehlungsschreiben, wonach der BF regelmäßig an Proben und Auftritten eines Kontaktchors teilnehme;
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Empfehlungsschreiben einer ehrenamtlichen Deutschlehrerin;
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Zertifikate für die Teilnahme an wöchentlichen Proben und Auftritten des Kontaktchors;
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Bestätigungen über die Teilnahme an Deutschkursen (Niveau A1, A1.1., A1.2, A2.1);
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Fotos des BF bei Auftritten bzw. beim Singen;
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Zeitungsartikel betreffend einen Festivalsommer.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 16.05.2018 wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). In Spruchpunkt VI. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Das Bundesamt stellte fest, dass der BF afghanischer Staatsangehöriger sei, sich zum muslimisch-sunnitischen Glauben bekenne und der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Seine Identität habe nicht festgestellt werden können. Er stamme aus der Provinz Kapisa, sei ledig und kinderlos. Seine Familie lebe in Afghanistan (Provinz Kapisa). Eine asylrelevante Verfolgung habe er nicht glaubhaft machen können.
Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass das Vorbringen des BF, wonach er einen seiner Freunde unabsichtlich mit einem Messer verletzt hätte und dieser dann daran gestorben sei, nicht habe glaubhaft gemacht werden können. Er habe sich hinsichtlich der zeitlichen Angaben in Widersprüche verstrickt und wäre bei einer tatsächlichen Bedrohung durch den Bruder seines Freundes auch nicht erst nach acht Monaten ausgereist. Der BF habe bis auf den angegeben telefonischen Kontakt keinen persönlichen Kontakt zum älteren Bruder des Freundes gehabt und habe auch nicht vorgebracht, diesen gesehen zu haben. Weitere Vorfälle seine Person betreffend habe er nicht vorgebracht, seine Familie lebe nach wie vor im selben Dorf. Eine lebensbedrohliche Gefährdung habe der BF somit nicht vorbringen können.
Betreffend die Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass der BF jung, gesund und arbeitsfähig sei. Es sei ihm zumutbar in Afghanistan Gelegenheitsarbeiten auszuführen. Er leide an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten. Seine Heimatprovinz Kapisa sei als volatil einzustufen, es stehe ihm aber eine innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) in der Stadt Kabul offen. Er habe auch familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF illegal eingereist sei und keine nahen Familienangehörigen und keine sonstigen intensiven sozialen Kontakte in Österreich habe. Er lebe von der Grundversorgung, sei nicht berufstätig und nicht selbsterhaltungsfähig. Er habe Deutschkurse abgeschlossen, sei in Vereinen aktiv und habe gemeinnützige Arbeit geleistet. Eine besondere Integrationsverfestigung bestehe nicht.
5. Gegen den Bescheid des BFA richtet sich die vollumfängliche Beschwerde. Darin wird ausgeführt, dass der BF Afghanistan aufgrund der Bedrohung durch Blutrache habe verlassen müssen. Er habe bei einem Freizeitunfall unabsichtlich einen Freund mit einem Messer tödlich verletzt und habe dessen älterer Bruder Rache geschworen. Erschwerend sei noch, dass der BF der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Weiters würde er aufgrund seiner Rückkehr nach Europa als Ungläubiger angesehen werden. Der BF sei zwar noch gläubiger Moslem, habe jedoch sein Weltbild verändert. Beispielsweise finde er die Freiheit der Frauen in Europa gut, er wolle keinen Turban oder langen Bart tragen und gefalle ihm die Kleidung aus Europa. Der BF wäre somit einer asylrelevanten Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Rückkehrer aus Europa bzw. der (unterstellten) Ungläubigkeit einer religiösen Verfolgung und einer asylrelevanten Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppe durch die Taliban ausgesetzt. Es drohe ihm auch die Ermordung durch Blutrache. Weiters habe das BFA ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, indem es Ermittlungen zum tatsächlichen Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht gemacht habe. Der BF könne weder nach Kapisa, noch nach Kabul zurück. Zudem wurde auf Berichte betreffend die Sicherheitslage in Kabul verwiesen und ausgeführt, dass die Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides unvollständig, teilweise unrichtig und veraltet seien. Auch zur Lage von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland wurde auf einen Bericht von August 2017 verwiesen, wonach solche Personen große Probleme bei einer Rückkehr nach Afghanistan hätten. Sie hätten weniger Zugang zu medizinischer Grundversorgung und sei eine IFA für solche Personen besonders problematisch. Es gäbe keine Jobs und keine Wohnmöglichkeiten Weiters wurde auf einen Bericht betreffend die Blutrache in Afghanistan verwiesen und ausgeführt, dass Angehörige der Minderheit der Tadschiken nach wie vor diskriminiert würden. Auch der afghanische Staat sei nicht schutzfähig und würden zudem die Taliban über zahlreiche Möglichkeiten verfügen individuelle Personen zu verfolgen. Weiters sei die Beweiswürdigung der belangten Behörde unschlüssig und mangelhaft. Wenn der BF angegeben habe, im
1. Monat 2015 habe sich der Vorfall ereignet, dann meine der BF damit nicht den Monat Jänner, sondern die iranische Zeitrechnung, also Ende März. Somit seien es bis zur Ausreise fünf Monate. Auch sei für den BF eine IFA in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat nicht möglich und sei ihm Asyl, allenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen. Das BFA habe auch eine falsche Interessensabwägung gemacht, da der BF in Österreich sehr gut integriert sei und hätte ihm ein "Aufenthaltstitel plus" gewährt werden müssen.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 02.09.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der BF in Anwesenheit seiner Vertreterin ausführlich zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsmitschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.
In der Verhandlung legte der BF folgende Unterlagen vor:
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mehrere Empfehlungsschreiben/Unterstützungserklärungen von Privatpersonen, Mitgliedern des Chors "Singen ohne Grenzen" sowie einer Deutschlehrerin;
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Zertifikat für den Kurs "Einführung in die Informatik-Basis" vom 19.06.2019;
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Einladung zum Aufnahmetest für den Lehrgang "Pflichtschulabschluss" am 30.08.2019;
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Arbeitsvertrag vom 23.08.2019, wonach der BF - nach Erteilung eines Aufenthaltstitels mit Arbeitszugangsberechtigung - als Hilfskraft für 40 Stunden/Woche und 1.376 EUR netto eingestellt werde;
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Kursbestätigungen für die Deutschkurse B1.1 und B1.2;
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diverse Fotos von Chorauftritten.
7. Am 13.09.2019 brachte der BF - vertreten durch seine Rechtsberatung - eine Stellungnahme ein. Es wurde ausgeführt, dass die Sicherheitslage der Heimatprovinz des BF (Kapisa) prekär sei und sei eine Rückkehr für ihn daher nicht möglich. Auch eine IFA (in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif) stehe ihm nicht zur Verfügung, da er dort keine Unterkunft, Arbeit oder medizinische Versorgung bekommen werde und er dort auch keine Familienangehörige habe bzw. dort noch nie aufhältig gewesen sei. Weiters wurde auf zahlreiche Berichte (ua. EASO Bericht von Juni 2019, UNHCR-Richtlinien von 30.08.2018, ACCORD-Anfragebeantwortung betrefft die Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif vom 12.10.2018) verwiesen, welche die volatile bzw. prekäre Sicherheitslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif darstellen würden.
8. Am 03.10.2019 wurde eine Bestätigung vorgelegt, wonach der BF in den zweisemestrigen Vorbereitungslehrgang für den Pflichtschulabschluss (bis Juni 2020) aufgenommen worden sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist ein Staatsangehöriger Afghanistans, bekennt sich zum muslimischen Glauben (Sunnit) und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Der BF ist verlobt, seine Verlobte lebt in Afghanistan. Der BF hat keine Kinder.
Die Muttersprache des BF ist Dari.
Seine Identität und sein Geburtsdatum stehen nicht fest.
Der BF wuchs in Afghanistan in der Provinz Kapisa auf, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Schwestern bis zu seiner Ausreise lebte.
Der BF kann seit einigen Monaten keinen Kontakt mehr zu seinen Familienangehörigen herstellen. Zuletzt hat seine Familie in der Heimatprovinz des BF in einem Eigentumshaus gelebt. Der BF hat aber regelmäßigen Kontakt mit seiner Verlobten in Afghanistan.
Der BF besuchte in Afghanistan neun Jahre lang die Schule und hat als Elektriker gearbeitet.
Der BF leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheit. Er ist arbeitsfähig.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Das vom BF ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen ist nicht glaubwürdig.
Es ist nicht glaubhaft, dass der BF unabsichtlich einen Freund mit einem Messer tödlich verletzt hat und der Bruder/die Familie des Freundes nunmehr dessen Tod rächen bzw. den BF töten will (Blutrache).
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan eine an seine Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seine politische Überzeugung anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität droht.
Er hat mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwo Probleme. Er war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.
Weiters kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich in Europa aufgehalten hat und "westlich" orientiert ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan psychische und/oder physische Gewalt zu befürchten hätte. Afghanische Staatsangehörige, die aus Europa nach Afghanistan zurückkehren, droht in Afghanistan allein aufgrund ihres Aufenthaltes außerhalb Afghanistans keine psychische und/oder physische Gewalt.
Dem BF droht individuell und konkret, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder die afghanische Regierung.
Der BF hat mit seinem Vorbringen keine Verfolgung iSd GFK glaubhaft gemacht.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Kapisa aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, ohne in eine auswegslose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall einer Rückkehr in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Der BF ist jung, gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif oder Herat - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat eine neunjährige Schulausbildung und war in Afghanistan als Elektriker tätig. Diese Berufserfahrung wird er auch in Mazar-e Sharif oder Herat nutzen können. Es ist dem BF möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Auch eine grundlegende medizinische Versorgung ist in Herat bzw. Mazar-e Sharif vorhanden.
Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
1.4. Zum (Privat) Leben des BF in Österreich:
Der unbescholtene BF hält sich seit etwa vier Jahren und einem Monat im Bundesgebiet auf. Er konnte einen Arbeitsvertrag vom 23.08.2019 in Vorlage bringen, wonach er - nach Erteilung eines Aufenthaltstitels mit Arbeitsberechtigung - als Hilfskraft (40 Stunden/Woche für 1.376 EUR netto) eingestellt werde. Zudem hat der BF zwar gemeinnützige Tätigkeiten bei einer Gemeinde verrichtet und sich ehrenamtlich engagiert; er bezieht aber seit seiner Einreise nach Österreich laufend Leistungen aus der Grundversorgung und ist aktuell nicht selbsterhaltungsfähig. Der BF hat bereits mehrere Deutschkurse (bis zum Niveau B1.2) besucht, Bestätigungen über bereits absolvierte Deutschprüfungen hat er allerdings nicht in Vorlage gebracht. Er gehört keiner religiösen Verbindung und keiner sonstigen Gruppierung in Österreich an. In seiner Freizeit singt er in einem Kontaktchor, nimmt regelmäßig an Proben und Auftritten dieses Chors teil und ist sportlich aktiv (Volleyball, Fitnessstudio, Radfahren). Er hat weiters an dem Kurs "Einführung in die Informatik-Basis" teilgenommen und wurde in einen zweisemestrigen Vorbereitungslehrgang für den Pflichtschulabschluss aufgenommen. Er wohnt in einer Unterkunft für Asylwerber. Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann nicht erkannt werden. Er konnte zwar Empfehlungsschreiben (vorwiegende von Chormitgliedern bzw. Deutschlehrern) vorlegen, dabei handelt es sich aber nicht um enge soziale Kontakte. Der BF führt in Österreich kein Familienleben und hat auch sonst keine sonstigen engen sozialen Bindungen. Es halten sich keine Verwandten des BF in Österreich auf.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Unter Bezugnahme auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation und die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 werden folgende entscheidungsrelevante, die Person des BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:
1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen KI vom 4.6.2019, politische Ereignisse, zivile Opfer, Anschläge in Kabul, IOM (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 23/ Rückkehr).
Politische Ereignisse: Friedensgespräche, Loya Jirga, Ergebnisse Parlamentswahl
Ende Mai 2019 fand in Moskau die zweite Runde der Friedensgespräche zwischen den Taliban und afghanischen Politikern (nicht der Regierung, Anm.) statt. Bei dem Treffen äußerte ein Mitglied der Taliban, Amir Khan Muttaqi, den Wunsch der Gruppierung nach Einheit der afghanischen Bevölkerung und nach einer "inklusiven" zukünftigen Regierung. Des Weiteren behauptete Muttaqi, die Taliban würden die Frauenrechte respektieren wollen. Ein ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments, Fawzia Koofi, äußerte dennoch ihre Bedenken und behauptete, die Taliban hätten kein Interesse daran, Teil der aktuellen Regierung zu sein, und dass die Gruppierung weiterhin für ein islamisches Emirat stünde. (Tolonews 31.5.2019a).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den inner-afghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Einer weiteren Quelle zufolge wurden die kritischen Äußerungen zahlreicher Jirga-Teilnehmer zu den nächtlichen Militäroperationen der USA nicht in den Endbericht aufgenommen, um die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht zu gefährden. Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil, was wahrscheinlich u.a. mit dem gescheiterten Dialogtreffen, das für Mitte April 2019 in Katar geplant war, zusammenhängt. Dort wäre die Regierung zum ersten Mal an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen. Nachdem erstere jedoch ihre Teilnahme an die Bedingung geknüpft hatte, 250 Repräsentanten nach Doha zu entsenden und die Taliban mit Spott darauf reagierten, nahm letztendlich kein Regierungsmitarbeiter an der Veranstaltung teil. So fanden Gespräche zwischen den Taliban und Exil-Afghanen statt, bei denen viele dieser das Verhalten der Regierung öffentlich kritisierten (Heise 16.5.2019).
Anfang Mai 2019 fand in Katar auch die sechste Gesprächsrunde zwischen den Taliban und den USA statt. Der Sprecher der Taliban in Doha, Mohammad Sohail Shaheen, betonte, dass weiterhin Hoffnung hinsichtlich der inner-afghanischen Gespräche bestünde. Auch konnten sich der Quelle zufolge die Teilnehmer zwar bezüglich einiger Punkte einigen, dennoch müssten andere "wichtige Dinge" noch behandelt werden (Heise 16.5.2019).
Am 14.5.2019 hat die unabhängige Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) die Wahlergebnisse der Provinz Kabul für das afghanische Unterhaus (Wolesi Jirga) veröffentlicht (AAN 17.5.2019; vgl. IEC 14.5.2019, IEC 15.5.2019). Somit wurde nach fast sieben Monaten (die Parlamentswahlen fanden am 20.10.2018 und 21.10.2018 statt) die Stimmenauszählung für 33 der 34 Provinzen vervollständigt. In der Provinz Ghazni soll die Wahl zusammen mit den Präsidentschafts- und Provinzialratswahlen am 28.9.2019 stattfinden. In seiner Ansprache zur Angelobung der Parlamentsmitglieder der Provinzen Kabul und Paktya am 15.5.2019 bezeichnete Ghani die siebenmonatige Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen, die IEC und die Electoral Complaints Commission (ECC), als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Zivile-Opfer, UNAMA-Bericht
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019
(1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).
Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).
Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche
Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).
Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).
Anschläge in Kabul-Stadt
Ende Mai 2019 fanden in Kabul-Stadt einige Anschläge und gezielte Tötungen in kurzen Abständen zu einander statt: Am 26.5.2019 wurde ein leitender Mitarbeiter einer NGO in Kart-e Naw (PD5, Police District 5) durch unbekannte bewaffnete Männer erschossen (Tolonews 27.5.2019a). Am 27.5.2019 wurden nach der Explosion einer Magnetbombe, die gegen einen Bus von Mitarbeitern des Ministeriums für Hadsch und religiöse Angelegenheiten gerichtet war, zehn Menschen verletzt. Die Explosion fand in Parwana-e Do (PD2) statt. Zum Vorfall hat sich keine Gruppierung bekannt (Tolonews 27.5.2019b).
Des Weiteren wurden im Laufe der letzten zwei Maiwochen vier Kontrollpunkte der afghanischen Sicherheitskräfte durch unbekannte bewaffnete Männer angegriffen (Tolonews 31.5.2019b).
Am 30.5.2019 wurden in Folge eines Selbstmordangriffes nahe der Militärakademie Marshal Fahim im Stadtteil Char Rahi Qambar (PD5) sechs Personen getötet und 16 Personen, darunter vier Zivilisten, verletzt. Die Explosion erfolgte, während die Kadetten die Universität verließen (1 TV NEWS 30.5.2019). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag (AJ 30.5.2019).
Am 31.5.2019 wurden sechs Personen, darunter vier Zivilisten, getötet und fünf Personen, darunter vier Mitglieder der US-Sicherheitskräfte, verletzt, nachdem ein mit Sprengstoff beladenes Auto in Qala-e Wazir (PD9) detonierte. Quellen zufolge war das ursprüngliche Ziel des Angriffs ein Konvoi ausländischer Sicherheitskräfte (Tolonews 31.5.2019c).
Am 2.6.2019 kam nach der Detonation von mehreren Bomben eine Person ums Leben und 17 weitere wurden verletzt. Die Angriffe fanden im Westen der Stadt statt, und einer davon wurde von einer Klebebombe, die an einem Bus befestigt war, verursacht. Einer Quelle zufolge transportierte der Bus Studenten der Kabul Polytechnic University (TW 2.6.2019). Der IS bekannte sich zu den Anschlägen und beanspruchte den Tod von "mehr als 30 Schiiten und Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte" für sich. Die Operation erfolgte in zwei Phasen: Zuerst wurde ein Bus, der 25 Schiiten transportierte, angegriffen, und darauf folgend detonierten zwei weitere Bomben, als sich "Sicherheitselemente" um den Bus herum versammelten. Vertreter des IS haben u.a. in Afghanistan bewusst und wiederholt schiitische Zivilisten ins Visier genommen und sie als "Polytheisten" bezeichnet. (LWJ 2.6.2019). Am 3.6.2019 kamen nach einer Explosion auf der Darul Aman Road in der Nähe der American University of Afghanistan fünf Menschen ums Leben und zehn weitere wurden verletzt. Der Anschlag richtete sich gegen einen Bus mit Mitarbeitern der Independent Administrative Reformand Civil Service Commission (Tolonews 3.6.2019)
US-Angaben zufolge ist die Zahl der IS-Anhänger in Afghanistan auf ca. 5.000 gestiegen, fünfmal so viel wie vor einem Jahr. Gemäß einer Quelle profitiert die Gruppierung vom "zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan und von aus Syrien geflohenen Kämpfern". Des Weiteren schließen sich enttäuschte Mitglieder der Taliban sowie junge Menschen ohne Zukunftsperspektive dem IS an, der in Kabul, Nangarhar und Kunar über Zellen verfügt (BAMF 3.6.2019). US-Angaben zufolge ist es "sehr wahrscheinlich", dass kleinere IS-Zellen auch in Teilen Afghanistans operieren, die unter der Kontrolle der Regierung oder der Taliban stehen (VOA 21.5.2019). Eine russische Quelle berichtet wiederum, dass ca. 5.000 IS-Kämpfer entlang der Nordgrenze tätig sind und die Nachbarländer bedrohen. Der Quelle zufolge handelt es sich dabei um Staatsbürger der ehemaligen sowjetischen Republiken, die mit dem IS in Syrien gekämpft haben (Newsweek 21.5.2019).
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Rückkehr
Die International Organization for Migration (IOM) gewährt seit April 2019 keine temporäre Unterkunft für zwangsrückgeführte Afghanen mehr. Diese erhalten eine Barzuwendung von ca. 150 Euro sowie Informationen über mögliche Unterkunftsmöglichkeiten. Gemäß dem Europäischen Auswärtigen Amt (EAD) nutzten nur wenige Rückkehrer die Unterbringungsmöglichkeiten von IOM (BAMF 20.5.2019).
KI vom 26.3.2019, Anschläge in Kabul, Überflutungen und Dürre, Friedensgespräche, Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 21/Grundversorgung und Wirtschaft).
Anschläge in Kabul-Stadt
Bei einem Selbstmordanschlag während des persischen Neujahres-Fests Nowruz in Kabul Stadt kamen am 21.3.2019 sechs Menschen ums Leben und weitere 23 wurden verletzt (AJ 21.3.2019, Reuters 21.3.2019). Die Detonation erfolgte in der Nähe der Universität Kabul und des Karte Sakhi Schreins, in einer mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gegend. Quellen zufolge wurden dafür drei Bomben platziert: eine im Waschraum einer Moschee, eine weitere hinter einem Krankenhaus und die dritte in einem Stromzähler (TDP 21.3.2019; AJ 21.3.2019). Der ISKP (Islamische Staat - Provinz Khorasan) bekannte sich zum Anschlag (Reuters 21.3.2019). Während eines Mörserangriffs auf eine Gedenkveranstaltung für den 1995 von den Taliban getöteten Hazara-Führer Abdul Ali Mazari im überwiegend von Hazara bewohnten Kabuler Stadtteil Dasht-e Barchi kamen am 7.3.2019 elf Menschen ums Leben und 95 weitere wurden verletzt. Der ISKP bekannte sich zum Anschlag (AJ 8.3.2019).
Überflutungen und Dürre
Nach schweren Regenfällen in 14 afghanischen Provinzen kamen mindestens 63 Menschen ums
Leben. In den Provinzen Farah, Kandahar, Helmand, Herat, Kapisa, Parwan, Zabul und Kabul, wurden ca. 5.000 Häuser zerstört und 7.500 beschädigt (UN OCHA 19.3.2019). Dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN OCHA) zufolge waren mit Stand 19.3.2019 in der Provinz Herat die Distrikte Ghorvan, Zendejan, Pashtoon Zarghoon, Shindand, Guzarah und Baland Shahi betroffen (UN OCHA 19.3.2019). Die Überflutungen folgten einer im April 2018 begonnen Dürre, von der die Provinzen Badghis und Herat am meisten betroffen waren und von deren Folgen (z.B. Landflucht in die naheliegenden urbanen Zentren, Anm.) sie es weiterhin sind. Gemäß einer Quelle wurden in den beiden Provinzen am 13.9.2018 ca. 266.000 IDPs vertrieben: Davon zogen 84.000 Personen nach Herat-Stadt und 94.945 nach Qala-e-Naw, wo sie sich in den Randgebieten oder in Notunterkünften innerhalb der Städte ansiedelten und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (IFRCRCS 17.3.2019).
Friedensgespräche
Kurz nach der Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und Vertretern der USA in Katar Ende Jänner 2019 fand Anfang Februar in Moskau ein Treffen zwischen Taliban und bekannten afghanischen Politikern der Opposition, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere "Warlords", statt (Qantara 12.2.201). Quellen zufolge wurde das Treffen von der afghanischen Diaspora in Russland organisiert. Taliban-Verhandlungsführer Sher Muhammad Abbas Stanaksai wiederholte während des Treffens schon bekannte Positionen wie die Verteidigung des "Dschihad" gegen die "US-Besatzer" und die gleichzeitige Weiterführung der Gespräche mit den USA. Des Weiteren verkündete er, dass die Taliban die Schaffung eines "islamischen Regierungssystems mit allen Afghanen" wollten, obwohl sie dennoch keine "exklusive Herrschaft" anstrebten. Auch bezeichnete er die bestehende afghanische Verfassung als "Haupthindernis für den Frieden", da sie "vom Westen aufgezwungen wurde"; Weiters forderten die Taliban die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Führer und die Freilassung ihrer gefangenen Kämpfer und bekannten sich zur Nichteinmischung in Angelegenheiten anderer Länder, zur Bekämpfung des Drogenhandels, zur Vermeidung ziviler Kriegsopfer und zu Frauenrechten. Diesbezüglich aber nur zu jenen, "die im Islam vorgesehen seien" (z.B. lernen, studieren und sich den Ehemann selbst auswählen). In dieser Hinsicht kritisierten sie dennoch, dass "im Namen der Frauenrechte Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden" (Taz 6.2.2019). Ende Februar 2019 fand eine weitere Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und USVertretern in Katar statt, bei denen die Taliban erneut den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan forderten und betonten, die Planung von internationalen Angriffen auf afghanischem Territorium verhindern zu wollen.
Letzterer Punkt führte jedoch zu Meinungsverschiedenheiten: Während die USA betonten, die Nutzung des afghanischen Territoriums durch "terroristische Gruppen" vermeiden zu wollen und in dieser Hinsicht eine Garantie der Taliban forderten, behaupteten die Taliban, es gebe keine universelle Definition von Terrorismus und weigerten sich gegen solch eine Spezifizierung. Sowohl die Taliban- als auch die US-Vertreter hielten sich gegenüber den Medien relativ bedeckt und betonten ausschließlich, dass die Friedensverhandlungen weiterhin stattfänden. Während es zu Beginn der Friedensgesprächsrunde noch Hoffnungen gab, wurde mit Voranschreiten der Verhandlungen immer klarer, dass sich eine Lösung des Konflikts als "frustrierend langsam" erweisen würde (NYT 7.3.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (Reuters 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019). Beispielsweise erklärte USUnterstaatssekretär David Hale am 18.3.2019 die Beendigung der Kontakte zwischen USVertretern und dem afghanischen nationalen Sicherheitsberater Hamdullah Mohib, nachdem dieser US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad und den Ausschluss der afghanischen Regierung aus den Friedensgesprächen öffentlich kritisiert hatte (Reuters 18.3.2019).
Verschiebung der Präsidentschaftswahl
Die Präsidentschaftswahl, welche bereits von April auf Juni 2019 verschoben worden war, soll Quellen zufolge nun am 28.9.2019 stattfinden. Grund dafür seien "zahlreiche Probleme und Herausforderungen" welche vor dem Wahltermin gelöst werden müssten, um eine sichere und transparente Wahl sowie eine vollständige Wählerregistrierung sicherzustellen - so die unabhängige Wahlkommission (IEC) (VoA 20.3.2019; vgl. BAMF 25.3.2019).
KI vom 1.3.2019, Aktualisierung: Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2018 (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Allgemeine Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil. Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.8.2018 - 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63%) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37% zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. In der Provinz Kandahar entstand die Befürchtung, die Sicherheitsbedingungen könnten sich verschlechtern, nachdem der Polizeichef der Provinz und der Leiter des National Directorate for Security (NDS) im Oktober 201