TE Vwgh Erkenntnis 2020/2/13 Ra 2019/19/0409

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Veröffentlicht am 13.02.2020
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens, die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler, die Hofrätin Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Oktober 2018, W250 2147977- 1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: A P alias P, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. bis A.IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Er stellte am 6. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Begründend brachte er vor, er sei im Iran geboren und niemals in Afghanistan gewesen. Sein Vater sei in den Krieg nach Syrien gegangen, um Schulden für Krankenbehandlungen seines Bruders zu begleichen, von dort aber nicht mehr zurückgekehrt. Daraufhin sei er aufgefordert worden, ebenfalls nach Syrien in den Krieg zu ziehen, um diese Schulden zu bezahlen. Deshalb habe er den Iran verlassen.

3 Mit Bescheid vom 1. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) führte am 4. Juni 2018 eine mündliche Verhandlung durch. Dabei gab der Mitbeteiligte befragt an, er sei im Iran eher nach iranischer als nach afghanischer Tradition erzogen worden. Seine Schulkameraden und Freunde seien hauptsächlich Iraner gewesen. Er sei nie in Afghanistan gewesen und kenne sich dort und mit der dortigen Kultur nicht aus. 5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes II. gab das BVwG der Beschwerde statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt A.II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.III.), hob die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos auf (Spruchpunkt A.IV.) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.). 6 Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, der Mitbeteiligte sei im Iran geboren und dort mit seinen Eltern und seinem Bruder aufgewachsen. Er sei gesund, spreche Farsi und etwas Dari mit einem hörbaren Akzent. Er habe vier Jahre eine inoffizielle ("afghanische") Schule und vier Jahre eine offizielle ("iranische") Schule besucht und ein von seiner Schule organisiertes einjähriges Praktikum in einer Tischlerei absolviert. Darüber hinaus verfüge er über keine Berufserfahrung. Er sei nie in Afghanistan gewesen, verfüge dort über keine Familienangehörigen oder sonstige soziale Kontakte, sei im Iran sozialisiert worden und sei lediglich geringfügig durch seine Eltern, die Afghanistan vor 34 Jahren verlassen hätten, mit den afghanischen Gewohnheiten in Berührung gekommen. Der Vater des Mitbeteiligten sei verschollen, mit der Mutter und dem Bruder, die im Iran lebten, stehe er in regelmäßigem Kontakt. Sein Bruder sei auf Grund einer Krankheit nicht arbeitsfähig, seine Mutter sei als Schneiderin tätig und erhalte finanzielle Unterstützung von der iranischen Regierung.

7 Ferner stellte das BVwG fest, dem Mitbeteiligten drohe bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz seiner Eltern (Ghazni) ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Bei einer Rückkehr und einer Ansiedlung außerhalb der Provinz Ghazni, insbesondere in Mazar-e Sharif oder Herat, liefe er auf Grund seiner individuellen Umstände (keine sozialen Anknüpfungspunkte, Angehöriger der schiitischen Hazara, Sozialisation im Iran, bisher kein Aufenthalt in Afghanistan, fehlende Berufserfahrung) Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Mitbeteiligte könne auch nicht von seiner im Iran lebenden Mutter oder seinem Bruder finanziell unterstützt werden.

8 Zur allgemeinen Lage in Afghanistan traf das BVwG Feststellungen in Form von Auszügen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellungen des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 und aus einem Fachartikel zur humanitären Lage von Rückkehrenden nach Afghanistan und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung. 9 In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, dem Mitbeteiligten würde bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz seiner Eltern (Ghazni) die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen. Er könne auch nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in außerhalb der Provinz Ghazni gelegene Landesteile Afghanistans, wie insbesondere in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif, verwiesen werden. Beim Mitbeteiligten handle es sich um einen arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann mit Schulbildung. Er verfüge jedoch abgesehen von einem einjährigen Praktikum in einer Tischlerei über keine Berufserfahrung oder eine konkrete Fachausbildung. Der Mitbeteiligte sei im Iran geboren, aufgewachsen und dort sozialisiert worden und habe sich noch nie in Afghanistan aufgehalten. Er würde auf Grund seines Farsi-Dialekts sofort als aus dem Iran Rückkehrender erkannt werden. Der Mitbeteiligte verfüge in Afghanistan über keine hinreichenden sozialen oder familiären Netzwerke und wäre daher in Afghanistan vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, allenfalls in Herat oder Mazar-e Sharif nach einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Seine Familie im Iran könnte ihn nicht (finanziell) unterstützen. Eine weitere Erschwernis sei in dem Umstand gelegen, dass der Mitbeteiligte auf Grund seines Aussehens erkennbar einer ethnischen und religiösen Minderheit in Afghanistan, die Diskriminierung ausgesetzt sei, angehöre. Er wäre gegenüber der übrigen afghanischen Bevölkerung als "Fremder im eigenen Land" exponiert und allenfalls (etwa bei der Arbeitssuche) diskriminiert. Der in den Richtlinien des UNHCR für die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative geforderte gesicherte Zugang zu Unterkunft, wesentlichen Grundleistungen und Erwerbsmöglichkeiten sei daher nicht ersichtlich. Die von UNHCR dargelegten "gesicherten Umstände", nach welchen es alleinstehenden leistungsfähigen Männern im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilitäten möglich sein könne, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbaner Umgebung zu leben, seien nicht gegeben. Dem Mitbeteiligten sei daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.

10 Gegen das angefochtene Erkenntnis - erkennbar nur gegen die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte - richtet sich die außerordentliche Revision der belangten Behörde. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

12 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, es

fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, welcher Gefährdungsmaßstab in Fällen, in denen ein Fremder niemals in seinem Herkunftsstaat gelebt hat, bei der Beurteilung einer Rückkehr an den Zielort heranzuziehen sei.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 23. Oktober 2019, Ra 2019/19/0221, auf dessen Begründung gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, ausgeführt, dass bei Asylwerbern, die keine Herkunftsprovinz haben, eine Prüfung vorzunehmen ist, ob ihnen im Herkunftsstaat eine innerstaatliche Fluchtalternative offen steht, was auch eine Zumutbarkeitsprüfung beinhaltet. Ob der Mitbeteiligte im vorliegenden Fall eine Herkunftsprovinz hat, kann in Hinblick darauf, dass eine Rückkehr in die dafür einzig in Betracht kommende Provinz Ghazni - die Herkunftsprovinz seiner Eltern - nach den Feststellungen des BVwG eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK bedeuten würde, dahingestellt bleiben.

14 Zulässig und auch begründet ist die Revision jedoch hinsichtlich des Vorbringens, das BVwG sei von der - näher zitierten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen. 15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001).

16 Das BVwG stützt seine Annahme, dem Revisionswerber stünde in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, darauf, dass er über keine Berufserfahrung oder konkrete Fachausbildung verfüge, im Iran geboren, aufgewachsen und dort sozialisiert sei, über keine sozialen oder familiären Netzwerke und keine ausreichenden Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten verfüge und als schiitischer Hazara erkennbar einer ethnischen und religiösen Minderheit angehöre.

17 Die Annahme des BVwG, der Mitbeteiligte sei als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara als "Fremder im eigenen Land" exponiert und allenfalls diskriminiert, ist jedoch mit den Feststellungen nicht in Einklang zu bringen. Auch darauf, dass der Mitbeteiligte über keine ausreichenden Ortskenntnisse betreffend die afghanischen Großstädte, wie etwa Herat oder Mazar-e Sharif, verfügt, kommt es nicht an. Insoweit unterscheidet sich seine Situation nicht maßgeblich von jener, in der sich afghanische Staatsangehörige befinden, die sich Zeit ihres Lebens in Afghanistan aufgehalten haben und solche Kenntnisse gleichfalls nicht aufweisen (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160; hinsichtlich eines in Pakistan aufgewachsenen afghanischen Staatsangehörigen vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0282).

18 Mit der Feststellung, der Mitbeteiligte sei "lediglich

geringfügig ... mit den afghanischen Gewohnheiten in Berührung

gekommen", spricht das BVwG Umstände an, die bei der Beurteilung, ob ihm eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe, Berücksichtigung finden können (vgl. die vom EASO herausgegebene "Country Guidance: Afghanistan", welche Ausführungen zu Personen mit dem Profil des Mitbeteiligten, die noch nie in Afghanistan gelebt haben, enthält). Das BVwG legt aber nicht näher dar, welche Auswirkungen dieser Umstand für die Frage hat, ob der Mitbeteiligte ausreichend mit jenen Gegebenheiten vertraut ist oder über jene Fertigkeiten oder Unterstützung verfügt, die es ihm ermöglichen, in seinem Herkunftsstaat sein grundlegendes Auskommen zu sichern (vgl. dazu VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, Rn 48).

19 Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG mit den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 ebenso auseinanderzusetzen haben wie mit der erwähnten "Country Guidance:

Afghanistan" des EASO (vgl. VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0308; 17.9.2019, Ra 2019/14/0160; 28.1.2020, Ra 2019/18/0204). 20 Da das BVwG im Fall einer mängelfreien Begründung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis im Umfang seines Spruchpunktes A.II. und der darauf aufbauenden Spruchpunkte A.III. und A.IV. gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 13. Februar 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190409.L00

Im RIS seit

05.05.2020

Zuletzt aktualisiert am

05.05.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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