TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/21 W212 2224208-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.10.2019
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Entscheidungsdatum

21.10.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §15b Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 2
EMRK Art. 3
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W212 2224208-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Eva SINGER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Ukraine, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.09.2019, Zl. 1238968400/190737943, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, 15b und 57 AsylG 2005, §§ 9 und 18 Abs. 1 BFA-VG, §§ 46, 52, 53 Abs. 2 Z 6 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Ukraine, stellte nach legaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 19.07.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 19.07.2019 gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er über die Slowakei nach Österreich gereist sei. Er habe im Jahr 2016 in Deutschland einen Asylantrag gestellt, sei aber freiwillig wieder ausgereist.

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass sein Sohn 2009 verstorben sei. Dieser habe ein Haus auf Kredit gekauft und der Beschwerdeführer habe dort gemeinsam mit seiner Familie gelebt. Auch seine Frau sei verstorben und sie hätten das Haus nicht mehr bezahlen können. Er sei seither teilweise obdachlos und teilweise schlafe er bei seinen Enkelkindern. Er sei herzkrank und habe kein Geld um sich einen Arzt leisten zu können. Er wolle sich in Österreich behandeln lassen.

1.2. Am 05.09.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen, wo er angab, dass er an Schmerzen in der Brust und im Nacken leide. Er habe im Jahr 2000 einen ersten Herzinfarkt erlitten. Seine Arterien seien verstopft. Er sei bereit, freiwillig in die Ukraine zurückzukehren, er wolle sich in Österreich nur operieren lassen. In der Ukraine habe er Tabletten und Infusionen erhalten. Derzeit nehme er Tabletten, er habe noch keinen Operationstermin erhalten.

In der Ukraine habe er als Tänzer und Musiker gearbeitet. Er gehöre der Volksgruppe der Roma an. Er sei grundsätzlich arbeitsfähig, dürfe aber nichts Schweres heben. In der Ukraine habe er als Hilfsarbeiter bei einem Installateur gearbeitet. Nach dem Tod seiner Ehefrau habe er bei seiner Tochter und seinem Sohn gelebt und hin und wieder auf dem Bahnhof übernachten müssen. Er sei hin und wieder ins Ausland, etwa nach Ungarn, gereist. Wo er aufgenommen worden sei, habe er übernachtet. Er spreche russisch, ungarisch, slowakisch und ukrainisch.

In der Ukraine befänden sich seine Kinder, Enkel und Urenkel. Er stehe mit ihnen in Kontakt. Es gehe seiner Familie finanziell schlecht. Sein Enkel habe in Deutschland um Asyl angesucht. In Österreich habe er weder Familienangehörige noch soziale Kontakte.

Der einzige Grund, weshalb er hierhergekommen sei, sei die medizinische Behandlung. Im Falle einer Rückkehr in die Ukraine wäre er obdachlos. Das Wichtigste sei, dass er operiert werde. Wenn er danach hinausgeworfen werde, würde er in ein anderes Land gehen. Viele Ukrainer seien zuletzt nach Frankreich ausgereist.

Der Beschwerdeführer legte ein Konvolut an medizinischen Unterlagen und die von ihm eingenommenen Medikamente vor.

1.3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde der Antrag des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Ukraine gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen. Ferner wurden dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57, 55 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VII.) Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG werde ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.). Gemäß § 15b Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer aufgetragen, im angeführten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt IX.).

Dem Bescheid wurden die entsprechenden Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zu Grunde gelegt. Festgehalten wurde, dass der Beschwerdeführer Staatsangehöriger der Ukraine sei und seine Identität feststehe. Im Herkunftsstaat sei er einem Erwerb nachgegangen. Der Beschwerdeführer habe keine asylrelevante Verfolgung geltend gemacht, eine Rückkehr sei dem Beschwerdeführer, insbesondere im Hinblick auf seine sozialen Anknüpfungspunkte, Sprachkenntnisse und Ausbildung, zumutbar und möglich. Beweiswürdigend führte die Behörde insbesondere aus, dass der Beschwerdeführer ausschließlich medizinische und finanzielle Gründe für seine Asylantragstellung vorgebracht hatte. Da der Beschwerdeführer Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat habe und überdies arbeitsfähig und gesund sei, gehe die Behörde davon aus, dass ihm auch keine Gefahren drohten, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Es bestünden keine lebensbedrohenden Erkrankungen. Der Beschwerdeführer habe auch keine wesentlichen Schritte zur Integration gesetzt. In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Spruchpunkt I., dass der Beschwerdeführer keine Verfolgung vorgebracht habe, weshalb keine Grundlage für eine Subsumierung unter § 3 AsylG 2005 habe festgestellt werden können. Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass beim Beschwerdeführer keine individuellen Umstände vorlägen, die dafür sprechen würden, dass er bei einer Rückkehr in die Ukraine in eine derart extreme Notlage geraten würde, die eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen würde. Da der Beschwerdeführer arbeitsfähig sei, sei auf der Grundlage der Länderfeststellungen davon auszugehen, dass er sich im Fall einer Rückkehr eine neue Existenz werde aufbauen können. Zudem habe er genügend familiäre Anknüpfungspunkte in der Ukraine. Unter Spruchpunkt III. und IV. wurde mit näherer Begründung darauf verwiesen, dass im Verfahren keine Ansatzpunkte hervorgetreten seien, die die Vermutung einer besonderen Integration der Person des Beschwerdeführers in Österreich rechtfertigen würden. Bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen würden somit keine Hinweise gefunden werden, welche den Schluss zuließen, dass durch die Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens eingegriffen werden würde. Zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer aus einem sicheren Herkunftsstaat stamme und keine Verfolgungsgründe vorgebracht habe. Das unter Spruchpunkt VIII. verhängte Einreiseverbot wurde mit der Mittellosigkeit des Beschwerdeführers begründet. Weiters habe er einen unbegründeten und missbräuchlichen Asylantrag gestellt.

1.4. Gegen Spruchpunkte II. bis IX. dieses Bescheids erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 04.10.2019 fristgerecht Beschwerde und brachte vor, dass eine Ausweisung in die Ukraine und damit eine Unterbrechung der Behandlung zu einer Verschlechterung der Erkrankung oder sogar zum Tod führen könnte, was eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 3 EMRK darstelle. Die medizinische Versorgung in der Ukraine sei mangelhaft und unzureichend, was im Fall des Beschwerdeführers jederzeit zu einer akut lebensbedrohlichen Situation führen könne. Die notwendige medizinische Behandlung sei noch nicht abgeschlossen und es könne jederzeit zu einer akuten Verschlechterung kommen.

Der Beschwerde lagen weitere medizinische Befunde bei.

1.5. Die Vorlage der Beschwerde samt Verwaltungsakt erfolgte am 09.10.2019.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Ukraine, Angehöriger der Volksgruppe der Roma und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er beherrscht die Sprachen Russisch, Ukrainisch, Ungarisch und Slowakisch. Seine Identität steht aufgrund des vorgelegten Reisepasses fest. Er stammt aus Uschgorod, wo seine Kinder, Enkel und Urenkel weiterhin leben. Er war in der Ukraine als Musiker, Tänzer und Hilfsarbeiter tätig.

Er stellte am 19.07.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Im Bundesgebiet geht der Beschwerdeführer keiner legalen Beschäftigung nach und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Er verfügt über keine Deutschkenntnisse Er ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Eine fortgeschrittene Integration im Bundesgebiet konnte nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer leidet an koronarer Herzgefäßerkrankung, instabiler Angina Pectoris und Bluthochdruck. Für den 23.08.2019 bzw. den 01.10.2019 wurde eine ACBP-Operation (Koronararterienbypass) vereinbart.

Der Beschwerdeführer nimmt derzeit folgende Medikamente ein:

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Rheumon Creme (schmerzstillend und entzündungshemmend)

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Fentrinol Nasentropfen

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Agaffin Abführgel

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Atorvastadin (Cholesterinsenker)

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Ramirpil (gegen Bluthochdruck)

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Amlodipin (Calciumkanalblocker, blutdrucksenkend)

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Paracetamol (Schmerzmittel)

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Thrombo ASS (Acetylsalicylsäure, blutverdünnend)

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Spirobene (gegen Flüssigkeitsansammlung bei Herzinsuffizienz)

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Clopidogrel (zur Hemmung der Blutgerinnung)

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Allopurionol Sandoz (zur Senkung des Harnsäurespiegels)

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Nitrolingual Pumpspray (zur Entspannung der Gefäße, bei Verengung der Herzkranzgefäße, zur Behandlung eines akuten Angina Pectoris-Anfalls)

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Bisoprolol (Betablocker)

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Ukraine in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in seinem Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 22.2.2019).

Durch die Besetzung der Krim, die militärische Unterstützung von Separatisten im Osten und die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen die Ukraine, kann Russland seinen Einfluss auf den Verlauf des politischen Lebens in der Ukraine aufrechterhalten. Menschen, die in den besetzten Gebieten des Donbass leben, sind stark russischer Propaganda und anderen Formen der Kontrolle ausgesetzt (FH 4.2.2019).

Nach UN-Angaben kamen seit Beginn des bewaffneten Konflikts über 10.000 Menschen um; es wurden zahlreiche Ukrainer innerhalb des Landes binnenvertrieben oder flohen ins Ausland. Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) stockt trotz hochrangiger Unterstützung im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die u.a. aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Dennoch hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten "Sonderstatusgesetzes" bis Ende 2019 verlängert (AA 22.2.2019).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, "das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen". In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458484/4598_1551701473_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-februar-2019-22-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2019

-

FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj,

https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 26.4.2019

-

FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002619.html, Zugriff 24.4.2019

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SO - Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 29.3.2019

-

USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 10.4.2019

Allgemeine Menschenrechtslage

Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet. Die Möglichkeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 22.2.2019).

Die Verfassung sieht eine vom Parlament bestellte Ombudsperson vor, den parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten. Das Amt wird derzeit von Lyudmila Denisova bekleidet. Ihr Büro arbeitet bei verschiedenen Projekten zur Überwachung von Menschenrechtspraktiken in Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen häufig mit NGOs zusammen. Die Ombudsperson bemühte sich in der Vergangenheit speziell um Krimtataren, Binnenvertriebene, Roma, Behinderte, sexuelle Minderheiten und Gefängnisinsassen. Die Ombudsperson kann auch Ermittlungen wegen Misshandlung durch Sicherheitskräfte einleiten und ist auch bei Problemen mit der Justiz jederzeit ansprechbar (USDOS 13.3.2019).

Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist in Verfassung und Gesetzen ausdrücklich vorgesehen. Tatsächlich werden Frauen jedoch häufig schlechter bezahlt und sind in Spitzenpositionen unterrepräsentiert (AA 22.2.2019). 2018 wurden Demonstrationen von LGBTI- oder Frauenrechtsgruppen regelmäßig von rechtsgerichteten Gruppen gestört (AA 22.2.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Durch den bewaffneten Konflikt kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt und Gender Based Violence (GBV), von der vor allem Frauen betroffen sind. Ein neues Gesetz, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariert, wurde im Dezember 2017 angenommen. Es gibt jedoch kaum ausreichend psychosoziale und medizinische (Notfall-) Einrichtungen mit geschultem Personal (ÖB 2.2019).Frauen und Mitglieder von Minderheitengruppen können am politischen Leben in der Ukraine teilnehmen. Diese Rechte werden jedoch durch Faktoren wie den Konflikt im Osten, Analphabetismus und das Fehlen von Ausweisdokumenten (häufig bei Roma) geschmälert. Das Gesetz über Kommunalwahlen schreibt eine 30%-Quote für Frauen auf Parteilisten vor, die jedoch nicht wirksam durchgesetzt wird. Die gesellschaftliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten beeinträchtigt ihre Fähigkeit, sich an politischen Prozessen und Wahlprozessen zu beteiligen (FH 4.2.2019).

Versammlungsfreiheit ist laut Verfassung garantiert und die Regierung respektiert dieses Recht generell, aber einfachgesetzlich haben die Behörden breite Möglichkeiten das Demonstrationsrecht einzuschränken. 2018 wurden Demonstrationen von LGBTI- oder Frauenrechtsgruppen regelmäßig von rechtsgerichteten Gruppen gestört. Die Polizei schützte zwar den 2018 Kiew Pride-Marsch mit tausenden Beamten, kleinere Veranstaltungen von Minderheiten oder oppositionellen Gruppen wurden jedoch nicht immer ausreichend geschützt (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 4.2.2019).

Zu den Pflichten des Veranstalters von friedlichen Versammlungen zählt unter anderem die Anmeldung der Veranstaltung im Vorfeld bei den örtlich zuständigen Behörden. Die Fristen, die in diesem Zusammenhang anzuwenden sind, sind jedoch nicht klar geregelt und variieren je nach vertretener Auffassung zwischen drei und zehn Tagen. Diese Unklarheit lässt den öffentlichen Behörden einen relativ großen Freiraum, Versammlungen zu untersagen. Tatsächlich wird die Abhaltung von friedlichen Versammlungen von den Behörden regelmäßig abgelehnt. Als gängige Begründungen dienen die zu späte Ankündigung der Demonstration, der Mangel an verfügbaren Polizisten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der gleichzeitige Besuch einer offiziellen ausländischen Delegation oder das gleichzeitige Stattfinden einer anderen Veranstaltung am gleichen Ort. Auch die Definition der "Friedlichkeit" einer Versammlung ist nicht immer unstrittig (ÖB 2.2019).

Verfassung und Gesetze sehen Vereinigungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen.

Menschenrechtsgruppen und internationale Organisationen kritisieren jedoch ein Gesetz vom März 2017, das für zivilgesellschaftliche Organisationen und Journalisten, die sich mit Antikorruptionsangelegenheiten befassen, gewisse Offenlegungserfordernisse vorsieht. Dies wird weithin als Einschüchterungsmaßnahme gesehen. Menschenrechtsorganisationen berichten von einer wachsenden Anzahl ungeklärter Angriffe auf Mitglieder von Organisationen der Zivilgesellschaft (mehr als 50 Angriffe binnen 12 Monaten), die ihrer Ansicht nach ein Klima der Straflosigkeit geschaffen hätten, weil die Regierung diese nicht ordentlich untersucht habe. Es gibt Vorwürfe gegen die Regierung, diese würde Aktivisten als Vergeltungsmaßnahme für ihre Tätigkeit strafrechtlich verfolgen (USDOS 13.3.2019).Sowohl natürliche als auch juristische Personen können einen Verein gründen. Die Vereinsgründung kann nur aus im Gesetz eng definierten Gründen untersagt werden (ÖB 2.2019). Nach dem Ende der Ära Janukowitsch sind zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen mit einer Vielzahl sozialer, politischer, kultureller und wirtschaftlicher Zielsetzungen entstanden oder wiederbelebt worden. Viele von ihnen können die Entscheidungsfindung auf verschiedenen Regierungsebenen beeinflussen. Ein klar gegen Russland gerichtetes Gesetz gegen "ausländische Agenten, die unter dem Einfluss eines Aggressorstaats agieren", wurde im September 2018 vorgelegt. Seitens der Zivilgesellschaft gibt es Bedenken, dass dieses Gesetz generell NGOs mit ausländischen Geldgebern treffen könnte. Gewalt gegen Aktivisten der Zivilgesellschaft nahm im Jahr 2018 zu. Zu den Bedrohten gehören Aktivisten, die sich gegen Korruption oder für die Rechte von LGBTI-Personen einsetzen (FH 4.2.2019).

Verfassung und Gesetze sehen Meinungsfreiheit vor, auch für Pressevertreter. Die Behörden respektieren diese Rechte jedoch nicht immer. Mit einigen Ausnahmen können Personen in Gebieten, die unter staatlicher Kontrolle stehen, die Regierung im Allgemeinen öffentlich und privat kritisieren und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse erörtern, ohne Angst vor offiziellen Repressalien zu haben. Die Gesetze verbieten Aussagen, welche die territoriale Integrität des Landes bedrohen, Kriege fördern, Rassen- oder Religionskonflikte auslösen oder die russische Aggression gegen das Land unterstützen, und die Regierung verfolgt Personen gemäß dieser Gesetze. Die Regierung setzte Maßnahmen um Informationen, Medien oder einzelne Journalisten zu verbieten bzw. zu blockieren, wenn diese als Bedrohung für die nationale Sicherheit betrachtet werden oder Positionen geäußert haben, die nach Ansicht der Behörden die Souveränität und territoriale Integrität des Landes untergraben. Die betrifft vor allem Medien russischer Herkunft oder pro-russischer Ausrichtung. Unabhängige Medien sind aktiv und bringe eine weite Bandbreite an Meinungen zum Ausdruck. In Privatbesitz befindliche Medien - die erfolgreichsten gehören einflussreichen Oligarchen - transportieren oft die Ansichten ihrer Eigentümer, günstige Berichterstattung für ihre Verbündeten und Kritik an politischen und geschäftlichen Rivalen. Unabhängige Medien haben Schwierigkeiten zu konkurrieren. Problematische Praktiken wirken sich weiterhin auf die Medienfreiheit aus, darunter Selbstzensur, günstige Berichterstattung gegen Geld ("Jeansa") und verzerrte Berichterstattung in Medienunternehmen, deren Eigentümer enge Verbindungen zur Regierung oder zu politischen Oppositionspartnern haben. Gewalt gegen Journalisten ist weiterhin ein Problem. Menschenrechtsgruppen beklagen mangelnde Gegenmaßnahmen der Regierung. 2018 wurden bis September Angaben zufolge 22 Angriffe und 24 Drohungen gegen Journalisten gemeldet, verglichen mit 19 Angriffen und 22 Drohungen im selben Zeitraum 2017. Besonders betroffen ist Berichterstattung, welche als nicht ausreichend patriotisch empfunden wird. Rufmordklagen gegen Journalisten werden von Personen des öffentlichen Interesses immer wieder eingesetzt oder angedroht, um die Berichterstattung zu beeinflussen. Berichten zufolge hat sich die Freiheit des Internet in der Ukraine zum zweiten Mal in Folge verschlechtert, weil die Behörden stärker gegen Meinungsbekundungen von Social Media-Nutzern vorgehen, die als kritisch gegenüber der Position der Ukraine im Donbass-Konflikt wahrgenommen werden. Einer Medienbeobachtungsgruppe zufolge haben die Behörden 2017 gegen 40 Benutzer oder Administratoren von Social-Media-Plattformen strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, weil ihre Inhalte die verfassungsmäßige Ordnung des Landes untergraben oder die nationale Sicherheit gefährdet hätten; 37 von ihnen wurden vor Gericht gestellt. Besonders "separatistische" oder "extremistische" Aktivitäten wurden 2018 besonders geahndet; User wurden festgenommen zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt (USDOS 13.3.2019).

Das unabhängige Institute of Mass Information registrierte von Januar bis November 2018 201 Verletzungen der Medienfreiheit. Von diesen Vorfällen betrafen 28 Gewalt sowie 27 Drohungen und Einschüchterungen. Die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden der Ukraine versagen manchmal beim Schutz der Rechte von Journalisten (FH 4.2.2019).

Mit Ausnahme eines Verbots der Kommunistischen Partei von 2015 gibt es keine formellen Hindernisse für die Gründung und den Betrieb politischer Parteien. In den letzten Jahren sind mehrere politische Parteien entstanden. Ein Gesetz aus dem Jahr 2016 regelt die staatliche Finanzierung im Parlament vertretener Parteien. Oppositionsgruppen sind im Parlament vertreten, und ihre politischen Aktivitäten werden im Allgemeinen nicht durch administrative Beschränkungen behindert. Neue Kleinparteien haben Schwierigkeiten mit etablierten Parteien zu konkurrieren, welche die Unterstützung politisch vernetzter Oligarchen genießen (FH 4.2.2019).

Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der ungestörten Religionsausübung wird von der Verfassung garantiert und von der Regierung in ihrer Politik gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften respektiert (AA 22.2.2019). Laut Befragungen sind 68,2 Prozent der Ukrainer christlich-orthodox. Davon gehören 26,5 Prozent zur ukrainisch-orthodoxen Kirche des Kiewer Partiartchats (UOC-KP), 12 Prozent zur ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Partiartchats (UOC-MP), 1,1 Prozent zur ukrainisch-autokephalen Kirche (UAOC) und 24,3 Prozent bezeichnen sich als "schlicht orthodox". 7,8 Prozent der Ukrainer sind griechisch-katholisch, 1,3 Prozent jüdisch, 1 Prozent römisch-katholisch, 0,8 Prozent protestantisch und 0,2 Prozent muslimisch. Weitere 7 Prozent identifizieren sich als "Christen" und 12,6 Prozent geben an, dass sie keiner religiösen Gruppe angehören (USDOS 29.5.2018). Kleinere religiöse Gruppen berichten jedoch weiterhin von einer gewissen Diskriminierung. Im Oktober 2018 erhielten ukrainisch-orthodoxe Kleriker die Erlaubnis der religiösen Behörden in Istanbul, dem historischen Sitz der östlichen orthodoxen Kirche, zur Errichtung einer eigenen autokephalen Kirche außerhalb der kanonischen Gerichtsbarkeit der russisch-orthodoxen Kirche. Im Dezember wurde diese neue orthodoxe Kirche der Ukraine gegründet, um die bestehenden Denominationen zu vereinigen. Der Kreml und die Kirchenführer in Moskau lehnen diesen Schritt entschieden ab. Es gibt Berichte, dass der ukrainische Geheimdienst aus Furcht vor Provokationen russisch-orthodoxe Kirchen und Priesterheime durchsuchte und Kleriker, die als loyal zu Moskau gelten, zum Verhör vorgeladen wurden. Diese Auseinandersetzung hindert jedoch die meisten Menschen nicht wesentlich daran, den Glauben ihrer Wahl zu praktizieren (FH 4.2.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458484/4598_1551701473_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-februar-2019-22-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2019

-

FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002619.html, Zugriff 24.4.2019

-

ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 11.4.2019

-

USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 29.3.2019

-

USDOS - US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/1436899.html, Zugriff 26.4.2019

Grundversorgung

Die makroökonomische Lage stabilisiert sich nach schweren Krisenjahren auf niedrigem Niveau. Ungeachtet der durch den Konflikt in der Ostukraine hervorgerufenen, die Wirtschaftsentwicklung weiter erheblich beeinträchtigenden, Umstände, wurde 2018 ein Wirtschaftswachstum von geschätzten 3,4% erzielt; die Inflation lag bei rund 10%. Der gesetzliche Mindestlohn wurde zuletzt mehrfach erhöht und beträgt seit Jahresbeginn 4.173 UAH (ca. 130 EUR) (AA 22.2.2019).

Die Existenzbedingungen sind im Landesdurchschnitt knapp ausreichend. Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert. Vor allem in ländlichen Gebieten stehen Strom, Gas und warmes Wasser zum Teil nicht immer ganztägig zur Verfügung. Die Situation gerade von auf staatliche Versorgung angewiesenen älteren Menschen, Kranken, Behinderten und Kindern bleibt daher karg. Die Ukraine gehört zu den ärmsten Ländern Europas. Ohne zusätzliche Einkommensquellen (in ländlichen Gebieten oft Selbstversorger) bzw. private Netzwerke ist es insbesondere Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sozialleistungen und Renten werden zwar regelmäßig gezahlt, sind aber trotz regelmäßiger Erhöhungen größtenteils sehr niedrig. In den von Separatisten besetzten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk müssen die Bewohner die Kontaktlinie überqueren, um ihre Ansprüche bei den ukrainischen Behörden geltend zu machen (AA 22.2.2019).

Nachdem die durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten weit hinter den Möglichkeiten im EU-Raum, aber auch in Russland, zurückbleiben, spielt Arbeitsmigration am ukrainischen Arbeitsmarkt eine nicht unbedeutende Rolle (ÖB 2.2019).

Das ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingeführte ukrainische Sozialversicherungssystem umfasst eine gesetzliche Pensionsversicherung, eine Arbeitslosenversicherung und eine Arbeitsunfallversicherung. Aufgrund der Sparpolitik der letzten Jahre wurde im Sozialsystem einiges verändert, darunter Anspruchsanforderungen, Finanzierung des Systems und beim Versicherungsfonds. Die Ausgaben für das Sozialsystem im nicht-medizinischen Sektor sanken von 23% des BIP im Jahr 2013 auf 18,5% im Jahr 2015 und danach weiter auf 17,8%. Die ist vor allem auf Reduktion von Sozialleistungen, besonders der Pensionen, zurückzuführen. Das Wirtschaftsministerium schätzte den Schattensektor der ukrainischen Wirtschaft 2017 auf 35%, andere Schätzungen gehen eher von 50% aus. Das Existenzminimum für eine alleinstehende Person wurde für Jänner 2019 mit 1.853 UAH beziffert (ca. 58 EUR), ab 1. Juli 2019 mit 1.936 UAH (ca. 62 EUR) und ab 1. Dezember 2019 mit 2.027 (ca. 64,5 EUR) festgelegt. Alleinstehende Personen mit Kindern können in Form einer Beihilfe für Alleinerziehende staatlich unterstützt werden. Diese wird für Kinder unter 18 Jahren (bzw. StudentInnen unter 23 Jahren) ausbezahlt. Die Zulage orientiert sich am Existenzminimum für Kinder (entspricht 80% des Existenzminimums für alleinstehende Personen) und dem durchschnittlichen Familieneinkommen. Diese Form von Unterstützung ist mit einer maximalen Höhe von 1.626 UAH (ca. 50,8 EUR) für Kinder im Alter bis zu 6 Jahren, 2.027 UAH (ca. 63,3 EUR) für Kinder im Alter von 6 bis 18 Jahren bzw. 1.921 UAH (ca. 60 EUR) für Kinder im Alter von 18 bis 23 Jahren pro Monat gedeckelt. Außerdem ist eine Hinterbliebenenrente vorgesehen, die monatlich 50% der Rente des Verstorbenen für eine Person beträgt; bei zwei oder mehr Hinterbliebenen werden 100% ausgezahlt. Für Minderjährige gibt es staatliche Unterstützungen in Form von Familienbeihilfen, die an arme Familien vergeben werden. Hinzu kommt ein Zuschuss bei der Geburt oder bei der Adoption eines Kindes sowie die o.g. Beihilfe für Alleinerziehende. Der Geburtenzuschuss beträgt derzeit in Summe

41.280 UAH (ca. 1.288 EUR). Davon werden 10.320 UAH (ca. 322,15 EUR) in den zwei bis drei Monaten nach Geburt/Adoption ausgezahlt, die restliche Summe in gleichen Zahlungen von 860 UAH (ca. 26,85 UAH) monatlich im Laufe der folgenden drei Jahre. Laut geltenden ukrainischen Gesetzen beträgt die Dauer des Mutterschutzes zwischen 126 Tagen (70 Tage vor und 56 Tage nach der Geburt) und 180 Tagen (jeweils 90 Tage vor und nach der Geburt). Für diese Periode bekommen die Mütter ihren Lohn hundertprozentig ausbezahlt. In den nächsten drei Karenzjahren bekommen die Mütter keine weiteren Auszahlungen außer dem o.g. Geburtenzuschuss bzw. den finanziellen Zuschüssen für Alleinerziehende. Gesetzlich ist grundsätzlich ebenfalls die Möglichkeit einer Väterkarenz vorgesehen, wobei diese in der Praxis weiterhin kaum in Anspruch genommen wird. Versicherte Erwerbslose erhalten mindestens 1.440 UAH (ca. 45 EUR) und maximal

7.684 UAH (240 EUR) Arbeitslosengeld pro Monat, was dem Vierfachen des gesetzlichen Mindesteinkommens entspricht. Nicht versicherte Arbeitslose erhalten mindestens 544 UAH (ca. 17 EUR). In den ersten 90 Kalendertagen werden 100% der Berechnungsgrundlage ausbezahlt, in den nächsten 90 Tagen sind es 80%, danach 70%. Die gesetzlich verpflichtende Pensionsversicherung wird durch den Pensionsfonds der Ukraine verwaltet, der sich aus Pflichtbeiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aus Budgetmitteln und diversen Sozialversicherungsfonds speist. Im Oktober 2017 nahm das ukrainische Parlament eine umfassende Pensionsreform an, die vor allem auch von internationalen Geldgebern zur Reduzierung des großen strukturellen Defizits gefordert wurde. Darin enthalten ist vor allem eine Anhebung der Mindestpension, welche von knapp zwei Drittel aller Pensionisten bezogen wird, um knapp 700 UAH (ca. 22 EUR). Ebenfalls vorgesehen ist eine automatische Indexierung der Mindestpension sowohl an die Inflationsrate, wie auch an die Entwicklung des Mindestlohns. Weiters wurde für arbeitende Pensionisten der Beitrag zur staatlichen Pensionsversicherung von 15% zur Gänze gestrichen. Das Pensionsantrittsalter wurde bei 60 Jahren belassen, die Anzahl an Beitragsjahren zur Erlangung einer staatlichen Pension wurde jedoch von 15 auf 25 Jahre erhöht und soll sukzessive bis 2028 weiter auf 35 Jahre steigen. Ebenfalls abgeschafft wurden gewisse Privilegien z.B. für öffentliche Bedienstete, Richter, Staatsanwälte und Lehrer. Im Jahr 2017 belief sich die Durchschnittspension auf 2.480,50 UAH (ca. 77 EUR), die durchschnittliche Invaliditätsrente auf 1.996,20 UAH (ca. 62,31 EUR) und die Hinterbliebenenpension auf 2.259,99 UAH (ca. 70,55 EUR). Viele Pensionisten sind dementsprechend gezwungen, weiter zu arbeiten. Private Pensionsvereinbarungen sind seit 2004 gesetzlich möglich. Die Ukraine hat mit 12 Millionen Pensionisten (knapp ein Drittel der Gesamtbevölkerung) europaweit eine der höchsten Quoten in diesem Bevölkerungssegment, was sich auch im öffentlichen Haushalt widerspiegelt: 2014 wurden 17,2% des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine für Pensionszahlungen aufgewendet (ÖB 2.2019; vgl. UA 27.4.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458484/4598_1551701473_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-februar-2019-22-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2019

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ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 11.4.2019

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UA - Ukraine Analysen (27.4.2018): Rentenreform, http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen200.pdf, Zugriff 27.5.2019

Medizinische Versorgung

Das ukrainische Spitalswesen ist derzeit nach einem hierarchischen Dreistufenplan organisiert: die Grundversorgung wird in Rayonskrankenhäusern bereitgestellt. Das Rückgrat des ukrainischen Spitalswesens stellen die Distriktkrankenhäuser dar, die sich durch Spezialisierung in den verschiedenen medizinischen Disziplinen auszeichnen. Die dritte Ebene wird durch überregionale Spezialeinrichtungen und spezialisierte klinische und diagnostische Einrichtungen an den nationalen Forschungsinstituten des ukrainischen Gesundheitsministeriums gebildet. Ursprünglich als Speerspitze der Gesundheitsversorgung für komplizierte Fälle konzipiert, sind die Grenzen zwischen Einrichtungen der zweiten und dritten Ebene in letzter Zeit zunehmend verschwommen. Auch die laufende Dezentralisierungsreform dürfte in Zukunft Auswirkungen auf die Struktur des ukrainischen Gesundheitssystems haben. Aufgrund der dafür nötigen, jedoch noch nicht angenommenen Verfassungsänderung, bleibt diese Reform jedoch vorerst unvollendet, die Zusammenlegung von Gemeinden erfolgt bislang auf freiwilliger Basis. Von einigen Ausnahmen abgesehen ist die technische Ausstattung ukrainischer Krankenhäuser als dürftig zu bezeichnen. Während die medizinische Versorgung in Notsituationen in den Ballungsräumen als befriedigend bezeichnet werden kann, bietet sich auf dem Land ein differenziertes Bild: jeder zweite Haushalt am Land hat keinen Zugang zu medizinischen Notdiensten. Die hygienischen Bedingungen, vor allem in den Gesundheitseinrichtungen am Land, sind oftmals schlecht. Aufgrund der niedrigen Gehälter und der starken Motivation gut ausgebildeter MedizinerInnen ins Ausland zu gehen, sieht sich das ukrainische Gesundheitssystem mit einer steigenden Überalterung seines Personals und mit einer beginnenden Ausdünnung der Personaldecke, vor allem auf dem Land und in Bereichen der medizinischen Grundversorgung, konfrontiert. Von Gesetzes wegen und dem ehemaligen sowjetischen Modell folgend sollte die Bereitstellung der jeweils nötigen Medikation - mit der Ausnahme spezieller Verschreibungen im ambulanten Bereich - durch Budgetmittel gewährleistet sein. In der Realität sind einer Studie zufolge in 97% der Fälle die Medikamente von den Patienten selbst zu bezahlen, was die jüngst in Angriff genommene Reform zu reduzieren versucht. Dies trifft vor allem auf Verschreibungen nach stationärer Aufnahme in Spitälern zu. 50% der PatientInnen würden demnach aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten eine Behandlung hinauszögern oder diese gänzlich nicht in Anspruch nehmen. In 43% der Fälle mussten die PatientInnen entweder Eigentum verkaufen, oder sich Geld ausleihen, um eine Behandlung bezahlen zu können. In der Theorie sollten sozial Benachteiligte und Patienten mit schweren Erkrankungen (Tbc, Krebs, etc.) von jeglichen Medikamentenkosten, auch im ambulanten Bereich, befreit sein. Aufgrund der chronischen Unterdotierung des Gesundheitsetats und der grassierenden Korruption wird das in der Praxis jedoch selten umgesetzt (ÖB 2.2019).

Patienten müssen in der Praxis die meisten medizinischen Leistungen und Medikamente informell aus eigener Tasche bezahlen (BDA 21.3.2018).

Ende 2017 wurde eine umfassende Reform des ukrainischen Gesundheitssystems auf die Wege gebracht. Eingeführt wird unter anderem das System der "Familienärzte". Patienten können in dem neuen System direkt mit einem frei gewählten Arzt, unabhängig von Melde- oder Wohnort, eine Vereinbarung abschließen und diesen als Hauptansprechpartner für alle gesundheitlichen Belange nutzen. Ebenfalls ist eine dringend nötige Modernisierung der medizinischen Infrastruktur in ländlichen Regionen vorgesehen, und ein allgemeiner neuer Zertifizierungsprozess inklusive strikterer und transparenterer Ausbildungsanforderungen für Ärzte vorgesehen. Weiters sind ukrainische Ärzte nunmehr verpflichtet, internationale Behandlungsprotokolle zu befolgen. Die Umsetzung der Reform schreitet nur schrittweise voran und wird noch einiges an Zeit in Anspruch nehmen. Im Zuge der Gesundheitsreform wurde im März 2018 ein Nationaler Gesundheitsdienst gegründet, der in Zukunft auch als zentrales Finanzierungsorgan für alle (öffentlichen und privaten) ukrainischen Gesundheitsdienstleister dienen und die Implementierung der Gesundheitsreform vorantreiben soll. Über die Hälfte aller in der medizinischen Grundversorgung tätigen Institutionen haben bereits neue Verträge mit dem Nationalen Gesundheitsdienst abgeschlossen (ÖB 2.2019).

Der Nationale Gesundheitsdienst hat die Funktion einer staatlichen, budgetfinanzierten Einheitskrankenversicherung übernommen. Zugleich wurde ein modernes, IT-gestütztes e-Health-System (Ärzte/Patienten-Register, Erfassung abrechnungsfähiger Dienstleistungen/Verschreibungen von erstattungsfähigen Arzneien etc.) eingeführt. Das noch im Aufbau begriffene System umfasst derzeit ca. 700 medizinische private und kommunale Einrichtungen mit ca. 24 Mio. Patienten sowie mehr als 17 Mio. einzelne Patientenverträge mit ihren Familienärzten, und deckt damit etwa die Hälfte aller Einrichtungen der primären medizinischen Fürsorge ab. Es ermöglicht derzeit bereits mehr als 40% der ukrainischen Bevölkerung freie Hausarztwahl sowie einen geregelten Zugang zu erstattungsfähigen Arzneien (derzeit mehr als 300 gelistete Arzneien) (AA 22.2.2019).

Die Gesundheitsreform sieht eine Rückerstattung der Kosten für eigens gelistete Medikamente für Herzkreislauf-Erkrankungen, Asthma und Typ 2 Diabetes vor, die bei teilnehmenden Apotheken und mit einem entsprechenden Rezept teils auch kostenlos oder stark vergünstigt erworben werden können. Die Verfügbarkeit dieses Angebots ist zwar vorerst weiterhin von den an diesem Programm teilnehmenden Apotheken abhängig, allgemein scheint dieses System jedoch in der Praxis gut zu funktionieren (ÖB 2.2019; Liste der Medikamente siehe unter: MOZ o.D.).

Soweit die Gesundheitsreform noch nicht umgesetzt ist, ist der Beginn einer Behandlung in der Regel auch weiterhin davon abhängig, dass der Patient einen Betrag im Voraus bezahlt oder Medikamente und Pflegemittel auf eigene Rechnung beschafft. Neben dem öffentlichen Gesundheitswesen sind in den letzten Jahren auch private Krankenhäuser beziehungsweise erwerbswirtschaftlich geführte Abteilungen staatlicher Krankenhäuser gegründet worden. Die Dienstleistungen der privaten Krankenhäuser sind außerhalb des Nationalen Gesundheitsdienstes jedoch für die meisten Ukrainer nicht bezahlbar. Gebräuchliche Medikamente werden im Land selbst hergestellt. Die Apotheken halten teilweise auch importierte Arzneien vor (AA 22.2.2019).

In den unter Kontrolle der ukrainischen Regierung stehenden Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk leidet die medizinische Versorgung unter kriegsbedingten Engpässen: so wurden einige Krankenhäuser beschädigt und/oder verloren wesentliche Teile der Ausrüstung; qualifizierte Ärzte sind nach Westen gezogen. Im Donezker Gebiet gibt es zurzeit nur eingeschränkte psychiatrische Betreuung, da das entsprechende Gebietskrankenhaus vollständig zerstört wurde und bisher nur die Einrichtungen für Kinder und Tuberkulosekranke wieder hergerichtet werden konnten. Das Gebietskrankenhaus des Luhansker Gebiets musste sämtliche Ausrüstung zurücklassen und konnte sich nur provisorisch in Rubishne niederlassen. Eine qualifizierte Versorgung auf sekundärem Niveau (oberhalb der Versorgung in städtischen Krankenhäusern) ist dort zurzeit nicht gegeben (AA 22.2.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458484/4598_1551701473_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-februar-2019-22-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2019

-

BDA - Belgian Immigration Office via MedCOI (21.3.2018): Question & Answer, BDA-6768

-

MOZ - Ukrainisches Gesundheitsministerium (o.D.): Affordable Medicines, http://en.moz.gov.ua/affordable-medicines, Zugriff 24.5.2019

-

ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine,

https://www.ecoi.ne

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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