TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/3 W261 2194407-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.01.2020
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Entscheidungsdatum

03.01.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W261 2194407-1/18E

W261 2194399-1/18E

W261 2194404-1/18E

W261 2194401-1/17E

Schriftliche Ausfertigung des am 13.12.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1. XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan

2. XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan,

3. XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan,

4. mj. XXXX , geb. XXXX , vertreten durch ihre Mutter, XXXX , als gesetzliche Vertreterin, Staatsangehörigkeit Afghanistan,

alle vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, jeweils gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, Außenstelle Leoben vom

1. 28.03.2018, Zl. XXXX

2. 04.04.2018, Zl. XXXX

3. 04.04.2018, Zl. XXXX

4. 04.04.2018, Zl. XXXX

nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 13.12.2019 zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer und den Beschwerdeführerinnen wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dem Beschwerdeführer und den Beschwerdeführerinnen damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der nunmehrige Erstbeschwerdeführer (in der Folge BF1), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 21.01.2016 gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge BF2) und deren gemeinsamen ehelichen Töchtern, der Dritt- und Viertbeschwerdeführerin (in der Folge BF3 und mj. BF4), jeweils afghanische Staatsbürgerinnen, die beide zum Zeitpunkt der Einreise minderjährig waren, in die Republik Österreich ein, und die BF stellten am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Ein am 21.01.2016 durchgeführter Abgleich im VIS System ergab, dass BF1 den Namen XXXX führe, indischer Staatsbürger sei und beim französischen Konsulat in Neu-Delhi einen Visaantrag zur Ausreise nach Frankreich gestellt habe. Das aufgrund dieses Antrages ausgestellte Visum sei im Zeitraum vom 04.01.2016 bis 04.02.2016 gültig.

Am selben Tag wurden den BF auch die Fingerabdrücke erkennungsdienstlich abgenommen.

Am 22.02.2016 führte die Österreichische Dublin Unit eine Dublin Anfrage in Frankreich durch. Mit Schreiben vom 31.03.2016 (BF1), bzw. vom 26.02.2016 (BF2) gab das französische Innenministerium bekannt, dass die BF den französischen Behörden nicht bekannt seien.

Bei der Erstbefragung am 22.01.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab BF1 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er afghanischer Staatsbürger sei, seine Familie und er würden aus der Provinz Nangarhar stammen und hätten zuletzt in Jalalabd gelebt. Die Familie hätte Afghanistan verlassen, weil vier Männer in der Nacht gekommen seien und Geld verlangt hätten, ansonsten hätten sie die Töchter (BF3, und mj. BF4) mitgenommen. Die Ausreise sei mit Hilfe eines Schleppers erfolgt. Die Erstbefragung der BF2 fand ebenfalls am 22.01.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Die Erstbefragung der damals noch minderjährigen BF3 fand am 22.01.2016 im Beisein der BF2 und eines Dolmetschers für die Sprache Punjabi statt.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde) führte am 05.12.2017 eine Ersteinvernahme des BF1 durch, welche jedoch abgebrochen wurde, weil BF1 den anwesenden Dari Dolmetscher nur schlecht verstanden habe, was auch durch den Dolmetscher bestätigt werde. BF2 spreche kein Dari, sondern nur Punjabi, weswegen die Einvernahme abgebrochen wurde, und ein neuer Ladungstermin mit einem Dolmetscher in Punjabi ausgeschrieben wurde.

Am 22.01.2018 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF1 vor der belangten Behörde im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Punjabi. BF1 wiederholte im Wesentlichen die Angaben, welche er bei seiner Erstbefragung gemacht hatte. Befragt, ob er jemals im Besitz eines indischen Reisepasses gewesen sei und nach Vorhalt der der belangten Behörde zu diesem Pass vorliegenden Informationen führte BF1 aus, dass das alles vom Schlepper gemacht worden sei, er wisse nicht, was dieser mit seinem Foto gemacht habe. Er habe jedenfalls keinen Pass erhalten. Er sei mit dem Schlepper aus Jalalabad nach Kabul gereist und von dort sei die Familie geflogen. Die BF legten eine Reihe von Integrationsunterlagen vor. Die belangte Behörde legte unter anderem eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Situation der Sikhs in Jalalabad vom 16.02.2012, aktualisiert am 10.03.2015 und eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Allgemeine Lage der Hindus in Khost und in Kabul vom 13.11.2017, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Behandlungsmöglichkeiten von Diabetes in Kabul und Uruzgan vom 03.10.2017, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Sikh vom 23.01.2014 vor.

Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde den BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen die BF Rückkehrentscheidungen gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

Die belangte Behörde stellte fest, dass die BF afghanische Staatsbürger seien. Es habe jedoch nicht festgestellt werden können, dass die BF in Afghanistan der Gefahr einer individuelle, konkret gegen diese gerichtete Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt seien, bzw. hätten diese eine diesbezügliche Bedrohung oder Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Die BF hätten ihren Herkunftsstaat verlassen, um in Österreich eine für diese bessere Zukunftsperspektive vorzufinden. Eine Rückkehr der BF in deren Herkunftsstaat sei möglich. BF1 sei gesund und arbeitsfähig und könne nach seiner Rückkehr eine Arbeit aufnehmen. Es würden keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die BF nach deren Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten könnten.

Die BF erhoben mit Eingabe vom 27.04.2018 bevollmächtigt vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH gegen diese Bescheide fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führten begründend aus, dass die angefochtenen Bescheide rechtswidrig seien. Die belangte Behörde habe sich in keiner Weise mit der westlichen Gesinnung der weiblichen Beschwerdeführerinnen auseinandergesetzt. Es werde insbesondere gerügt, dass die belangte Behörde BF3 nicht selbst einvernommen habe, und sich damit kein Bild von deren liberalen Lebenseinstellung gemacht habe. Es werde daher beantragt, dass das BVwG auch BF3 einvernehme. Die belangte Behörde habe es auch unterlassen, bei den die BF3 und die mj. BF4 betreffenden Bescheide, eigene Länderinformationen anzuführen, es werde auf die Länderinformationen im Bescheid der BF2 verwiesen, was rechtlich nicht zulässig sei. Die BF würden mehreren in der UNHCR Richtlinie zu Asylsuchenden aus Afghanistan genannten Risikoprofilen entsprechen. Die belangte Behörde habe es verabsäumt, sich mit der Lage der Sikhs in Afghanistan auseinanderzusetzen, auch die Situation von Frauen und Kindern in Afghanistan sei unberücksichtigt geblieben. Kinder seien besonders vulnerabel, auch dies habe die belangte Behörde nicht entsprechend berücksichtigt. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre den BF internationaler Schutz, jedenfalls jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren, oder diesen aufgrund der hervorragenden Integration ein Aufenthaltstitel zu erteilen gewesen. Die BF legten gemeinsam mit der Beschwerde eine Reihe von weiteren Integrationsunterlagen und medizinischen Befunden vor.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 04.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) in der Gerichtsabteilung W210 ein.

Die belangte Behörde teilte mit Eingabe vom 08.04.2019 mit, dass die BF seit 18.03.2019 abgängig sei, und am 20.03.2019 in Tschechien angetroffen worden seien. Die BF wurden am 24.04.2019 aus Tschechien wieder nach Österreich überstellt.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 19.09.2019 wurden die gegenständlichen Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W210 abgenommen und der Gerichtstabteilung W261 neu zugeteilt.

Das BVwG führte am 06.12.2019 Abfragen im GVS System durch, wonach die BF Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung beziehen und nicht erwerbstätig sind.

Aus den vom BVwG am 06.12.2019 eingeholten Auszügen aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass im Strafregister der Republik Österreich für BF1, BF2 und BF3 keine Verurteilungen aufscheinen. Die mj. BF4 ist in Österreich noch nicht strafmündig, weswegen kein Auszug aus dem Strafregister eingeholt wurde.

Das BVwG führte am 13.12.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Die belangte Behörde verzichtete mit Schreiben vom 02.05.2018 auf die Durchführung und Teilnahme an der mündlichen Beschwerdeverhandlung. BF1, BF2 und die nunmehr volljährige BF3 wurde im Beisein ihrer Vertreterin und eines Dolmetschers für die Sprache Punjabi zu deren Fluchtgründen und zu deren Situation in Österreich befragt und wurde den BF Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Die BF legten eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 13.11.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, die den aktuellen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 und die ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Sikhs: Größe der Gemeinschaft, wirtschaftliche Situation, Diskriminierung bzw. Verfolgungshandlungen, Sicherheitslage der Sikh Frauen, aktuelle Vorfälle vom 17.07.2018 vor. Nach Schluss der mündlichen Berschwerdeverhandlung verkündete die erkennende Richterin gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG die gegenständlichen Erkenntnisse.

Das BVwG übermittelte die Niederschrift der Beschwerdeverhandlung samt den mündlich verkündeten Erkenntnissen samt Rechtsbelehrung gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG mit Schreiben 13.12.2019 an die belangte Behörde, wo diese am 16.12.2019 zugestellt wurden.

Die belangte Behörde stellte innerhalb offener Frist mit Eingaben vom 23.12.2019 die Anträge, eine schriftliche Entscheidungsausfertigung gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG zu übermitteln. Gleichzeitig teilte die belangte Behörde mit, dass BF1, BF2 und BF3 am 29.12.2015 beim französischen Konsulat in Neu-Delhi Schengen Visa "C", beantragt hätten, welche auch für den Zeitraum 04.01.2016 bis 04.02.2016 ausgestellt worden seien. Am 21.01.2016 sei die Antragstellung betreffend internationalen Schutz im Bundesgebiet erfolgt. Die Antragstellung sei mit gültigen indischen Reisepässen, lautend auf die im Betreff dieses Schreiben genannten Alias-Identitäten erfolgt. Der Sachverhalt sei bereits in erster Instanz bekannt gewesen. Die Visums Treffer seien via Fingerabdrücken verifiziert worden. Alleine der Umstand, dass bei der Beantragung der französischen Visa Fingerabdrücke abgegeben worden seien (Ausstellung am 04.01.2016 beim französischen Konsulat in Neu-Delhi), die mit jenen der ED-Behandlung vom 21.01.2016 übereinstimmen würden, widerlege die diesbezüglichen Angaben der Beschwerdeführer. Seitens der belangten Behörde sei nunmehr beabsichtigt, ehestmöglich eine Anfrage an die Staatendokumentation des BFA zu stellen, ob die Erlangung eines indischen Reisepasses auch ohne persönliche Anwesenheit möglich sei. Seitens der belangten Behörde werde daher die allfällige amtswegige Wideraufnahme des Verfahrens gemäß § 32 Abs. 2 VwGVG angeregt. Sollte das BVwG der Anregung einer Wiederaufnahme folgen, so würde der gegenständliche Antrag zurückgezogen werden. Die belangte Behörde legte diesen Schreiben keine weiteren Unterlagen bei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zu den Beschwerdeführern und deren Fluchtgründen

BF1 führt den Namen XXXX , er kennt sein genaues Geburtsdatum nicht. Für Identifikationszwecke wird dieses mit XXXX festgesetzt. BF1 wurde in der Stadt Jalalabd in der Provinz Nangarhar geboren. Er ist afghanischer Staatsbürger, gehört der Volksgruppe der Punjabi an und ist im Glauben Sikh. Seine Muttersprache ist Punjabi, er spricht auch Dari und Paschtu. BF1 ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Sein Vater heißt XXXX , seine Mutter heißt XXXX . BF1 hat einen Bruder, er heißt XXXX und ist ca. 38 Jahre alt. BF1 weiß nicht, wo sich seine Eltern und sein Bruder aufhalten.

BF1 ist in Jalalabad aufgewachsen und besuchte dort ein- bis zweimal wöchentlich einen Sikh-Tempel, um zu lernen. BF1 kann weder lesen noch schreiben. Er war selbstständig tätig, er war Eigentümer eines Geschäftes für Küchenutensilien, Besteck, Gläser, Teller und vieles mehr.

BF2 führt den Namen XXXX , sie kennt ihr genaues Geburtsdatum nicht. Für Identifikationszwecke wird dieses mit XXXX festgelegt. BF2 wurde in Jalalabad in der Provinz Nagarhar geboren. Sie ist afghanische Staatsbürgerin, gehört der Volksgruppe der Punjabi an und ist auch im Glauben Sikh. Ihre Muttersprache ist Punjabi, sie spricht auch etwas Dari. BF2 ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. BF2 leidet an Diabetes mellitus Typ II, an einem chronischen Schmerzsyndrom, Anämie, Osteoporose, Hypercholestderinämie, einer chronischen Gastritis, an Depressionen und an einer Schilddrüsenerkrankung.

Ihr Vater hieß XXXX , er verstarb vor ca. 28 Jahren, ihre Mutter heißt XXXX . BF2 hat einen Bruder, er heißt XXXX . BF2 kennt den Aufenthaltsort ihrer Mutter und ihres Bruders nicht. BF2 war in Afghanistan Hausfrau und Mutter.

Vor etwas mehr als 20 Jahren heirateten B1 und BF2. Der Ehe entstammen die beiden ehelichen Töchter, BF3 und die mj. BF4.

BF3 führt den Namen XXXX , sie kennt ihr genaues Geburtsdatum nicht. Für Identifikationszwecke wird das Geburtsdatum mit XXXX festgelegt. BF3 wurde in Jalalabad in der Provinz Nagarahar geboren. Sie ist afghanische Staatsbürgerin, sie gehört der Volksgruppe der Punjabi an und ist im Glauben Sikh. Ihre Muttersprache ist Punjabi, BF3 versteht auch etwas Dari und spricht etwas Englisch und Deutsch. BF3 ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die mj. BF4 führt den Namen XXXX , sie kennt ihr genaues Geburtsdatum nicht. Für Identifikationszwecke wird das Geburtsdatum mit XXXX festgelegt. Die mj.BF4 wurde in Jalalabad in der Provinz Nagarahar geboren. Sie ist afghanische Staatsbürgerin, sie gehört der Volksgruppe das Punjabi an und ist im Glauben Sikh. Ihre Muttersprache ist Punjabi, die mj. BF4 spricht auch Deutsch. Die mj. BF4 ist in Österreich noch nicht strafmündig.

Die Familie lebte in Jalalabad in einer Mietwohnung im ersten Stock eines Hauses gegenüber vom Sikh Tempel XXXX .

Die BF haben Afghanistan aufgrund von Übergriffen durch muslimische Männer verlassen.

Die Familie reiste spätestens am 21.01.2016 in Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. BF3 und die mj. BF4 waren zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig.

BF1 verrichtet Hilfsdienst in der Unterkunft, in welcher die Familie lebt. Er besuchte in der Zeit vom 14.09.2017 bis 14.12.2107 einen Alphabetisierungskurs bei XXXX . Am 21.12.2016 besuchte BF1 einen Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds. Vom 01.10.2018 bis 10.12.2018 besuchte BF1 die Bildungsveranstaltung Alpha Teil 1 für AsylwerberInnen der XXXX . Er nahm vom 23.11.2018 bis 28.12.2018 an der wöchentlich stattfindenden Gruppe für psychologische Stabilisierung " XXXX " des Diakoniewerks teil. In der Zeit vom 11.06.2019 bis 08.08.2019 besuchte BF1 einen Kurs "Alpha 1 - Stufe1" und vom 16.09.2019 bis 11.11.2019 einen Kurs "Alpha 2 - Stufe2" beim Verein XXXX .

BF2 besuchte in der Zeit vom 14.09.2017 bis 06.11.2017 einen Deutschkurs alpha bei XXXX . Am 21.12.2016 besuchte BF2 einen Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds. Vom 01.10.2018 bis 10.12.2018 besuchte BF2 die Bildungsveranstaltung Alpha Teil 1 für AsylwerberInnen der XXXX . In der Zeit vom 11.06.2019 bis 08.08.2019 besuchte BF2einen Kurs "Alpha 1 - Stufe1" und vom 16.09.2019 bis 11.11.2019 einen Kurs "Alpha 2 - Stufe2" beim Verein XXXX .

BF3 nahm an Bildungsmaßnahmen von Jugend am Werk XXXX im Ausbildungszentrum XXXX teil. Sie besuchte ab 24.01.2017 die Übergangsstufe der BHAK/BHAS Liezen. BF3 bestand die Pflichtschulabschlussprüfung bei der Externistenprüfungskommission der Neuen Mittelschule XXXX . Seit Oktober 2019 verrichtet BF3 im BSH XXXX in XXXX im Rahmen der Freibetragsgrenze gemeinnützige Tätigkeiten im Küchendienst. Sie ist in Betreuung des XXXX und auf Arbeitssuche. BF3 besuchte in der Zeit vom 17.10.2019 bis 19.12.2019 die Bildungsveranstaltung Deutsch B2 teil 1 der VHS XXXX .

Die mj. BF4 besucht seit September 2018 die Technisch-Naturwissenschaftliche Neue Mittelschule XXXX . Die mj. BF4 nimmt an Schulveranstaltungen teil und fährt auch Ski.

BF3 ist eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich mittlerweile nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie trägt ihr Haar unbedeckt und ist westlich gekleidet. BF3 führt bereits jetzt in Österreich ein freies, selbstbestimmtes Leben, wobei sie auch außerhalb ihres Heimes berufstätig sein will. Sie hat erfolgreich den Pflichtschulabschluss nachgeholt, und dies obwohl es ihr verwehrt war, in Afghanistan als junge Sikh Frau eine Schule zu besuchen. Sie möchte entweder Krankenpflegerin oder Rezeptionistin werden, jedenfalls einen Beruf ergreifen, bei welchem sie außer Haus mit Menschen zu tun hat. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.

BF3 wird von ihren Eltern aktiv dabei unterstützt, zu lernen und sich ein selbstständiges Leben aufzubauen. Bereits jetzt begleitet BF3 ihre Eltern bei Behördenwegen und Arztbesuchen, weil sie bereits sehr gut Deutsch spricht, und für ihre Eltern als Dolmetscherin fungieren kann. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung zeigte BF3 das Bild einer jungen, selbstbewussten Frau, die weiß, was sie will, und welche alles daransetzen wird, ihre Ziele zu erreichen.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen sind oder nach denen ein Ausschluss der BF zu erfolgen hat. Solche Gründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

1.2 Zur Situation im Herkunftsstaat

Zur Lage in Afghanistan werden folgende im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 13.112.019 (LIB), in den aktuellen UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018 (UNHCR), in den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und in der ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Sikhs vom 17.07.2018 (ACCORD) enthaltenen Informationen als entscheidungswesentlich festgestellt:

1.2.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. (LIB)

1.2.1.1 Herkunftsprovinz Nangarhar

Die Provinz Nangarhar, mit Ausnahme der Stadt Jalalabad, zählt laut EASO zu jenen Provinzen Afghanistans, wo willkürliche Gewalt ein derart hohes Ausmaß erreicht, dass erhebliche Gründe für die Annahme sprechen, dass ein in diese Provinz zurückgekehrter Zivilist allein aufgrund seiner Anwesenheit auf dem Gebiet dieser Provinz einer realen Gefahr ausgesetzt wäre, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen.

Die Stadt Jalalabad zählt laut EASO zu jenen Regionen, in denen eine "bloße Präsenz" in dem Gebiet nicht ausreicht, um ein ernstes Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen, es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht und dementsprechend ist ein geringeres Maß an Einzelelementen erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von

Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO 2019).

1.2.2 Ethnien und Religionsfreiheit

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 35 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet". Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben.

Die Gemeinschaft der Sikhs und Hindus schätzte 2018 ihre Größe in Afghanistan auf ca. 700 Mitglieder. Im Jahr 2017 hatte sie noch

1.300 Mitglieder umfasst, der Rest ist im Laufe des Jahres emigriert. Noch vor einigen Jahrzehnten lebten einige Hunderttausend Hindus und Sikhs in Afghanistan. Eine sich angeblich verschlechternde wirtschaftliche Lage der Gemeinschaften, erhöhte Sicherheitsbedenken sowie fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt waren laut Sikh-Führern Hauptgrund einer verstärkten Emigration. Hindus und Sikhs leben im 1. Kabuler Stadtbezirk im Stadtteil Hindu Gozar sowie in den Provinzen Nangarhar und Ghazni. In Jalalabad war im Jänner 2017 weiterhin eine bedeutende Anzahl von Sikhs ansässig. Es gibt zwei aktive Gurudwaras (Gebetsstätten der Sikhs) in Kabul und vier Hindu-Tempel landesweit, davon zwei in Kabul sowie je einen in Jalalabad und Helmand.

Berichten zufolge werden Hindus und Sikhs von großen Teilen der muslimischen Bevölkerung als Außenseiter betrachtet. Sie sind verbalen und physischen Übergriffen, Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, können jedoch ihren Glauben öffentlich ausüben. Quellen zufolge sind Hindus weniger gefährdet als Sikhs; der Grund dafür ist das Fehlen sichtbarer charakteristischer Merkmale (z.B. Kopfbedeckung) bei den Hindus. Sikhs sind zurückhaltend bei der Begehung religiöser Feste, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und der Staat hat nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Gemeinschaft vor alltäglichem sozialem Druck zu schützen. Der afghanische Staat verhält sich den in Afghanistan verbliebenen Sikhs gegenüber nicht feindlich. Staatliche Diskriminierung gibt es nicht, auch wenn der Weg in öffentliche Ämter für Hindus und Sikhs schon aufgrund fehlender Patronagenetzwerke schwierig ist.

Trotz gesellschaftlicher Diskriminierung bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften weiterhin Regierungsposten. Ein Sitz im Unterhaus ist für einen Vertreter der Hindu- und Sikh-Gemeinschaft reserviert. Dieser Sitz wird zurzeit durch Narender Singh bekleidet.

Berichten zufolge schicken Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaften ihre Kinder aus Angst vor Schikane durch ihre Mitschüler nicht in staatliche Schulen. In der Vergangenheit wurden die Kinder in privaten Hindu- und Sikh-Schulen unterrichtet, jedoch sind heutzutage viele davon geschlossen. Gemäß Angaben der Hindu- und Sikh-Gemeinschaften gibt es nur zwei funktionsfähige Schulen landesweit (Kabul, Jalalabad). Diese sind jedoch nicht für den Lehrbetrieb ausgestattet (LIB).

1.2.3 Situation von Frauen in Afghanistan mit speziellem Fokus auf Sikh Frauen

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen.

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit.

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt.

Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen.

Die afghanische Regierung hat das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig. So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das "Gender Equality Project" der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen.

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass "im Namen der Frauenrechte" Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders.

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten. Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung, sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen.

Schätzungen zufolge, sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus, in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85%. 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen. Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird. Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten.

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien, kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen. Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken.

Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041, also nur 22,5%, weiblich. Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung - Kankor - ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen. Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt.

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten.

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht. Für das Jahr2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an. So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen. Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: 11 stellvertretende Ministerinnen, 3 Ministerinnen und 5 Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden. Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können.

Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet.

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen.

Die Teilnahme von Frauen am politischen Prozess ist gesetzlich nicht eingeschränkt. Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert.

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an; insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz-, Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2018 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall. Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2 % für das Jahr 2019.

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist.

Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten. Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden.

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert. Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin, sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen. Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs. Stand 2017 gab es landesweit 208 FRUs.

Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet.

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt. Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie. Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern - das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, bis zu 20 Jahren oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten.

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert. Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor.

Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch. Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber die Justiz war weiterhin unterfinanziert, unterbesetzt, unzureichend ausgebildet, weitgehend ineffektiv und Drohungen, Voreingenommenheit, politischem Einfluss und allgegenwärtiger Korruption ausgesetzt. Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen.

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen. Fast alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Institutionen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan.

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für "unmoralische Handlungen" und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren.

Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen.

Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 16 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten.

In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert.

Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können. In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal werden Frauen stellvertretend für verurteilte männliche Verwandte inhaftiert, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. UNAMA berichtet von 280 Ehrenmorden im Zeitraum Jänner 2016-Dezember 2017, wobei nur 18% von diesen zu einer Verurteilung und Haftstrafe führten. Trotz des Verbotes im EVAW-Gesetz üben Behörden oft Druck auf Opfer aus, auch schwere Verbrechen durch Mediation zu lösen. Dies führt zu Straflosigkeit für die Täter. Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden.

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet. Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht. Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre. Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden. In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht. Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert. Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet.

Mahr, eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet, insbesondere im ländlichen Raum und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen - das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist - selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen. Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist. Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen.

Die Praktiken des Badal und Ba'ad/Swara, bei denen Bräute zwischen Familien getauscht werden, sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt. Badal ist gesetzlich nicht verboten und weit verbreitet. Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden.

Die Praxis des Ba'ad bzw. Swara ist in Afghanistan gesetzlich verboten, jedoch in ländlichen Regionen - vorwiegend in paschtunischen Gebieten - weit verbreitet. Dabei übergibt eine Familie zur Streitbeilegung ein weibliches Familienmitglied als Braut oder Dienerin an eine andere Familie. Das Alter der Frau spielt keine Rolle, es kann sich dabei auch um ein Kleinkind handeln. Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen.

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben.

Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u.a. für Frauen und verteilt Arzneimittel (Pille).

Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter. Frühe und Kinderheiraten und eine hohe Fertilitätsrate mit geringen Abständen zwischen den Geburten tragen zu einer sehr hohen Müttersterblichkeit [Anm.: Tod einer Frau während der Schwangerschaft bis 42 Tage nach Schwangerschaftsende] bei. Diese ist mit 661 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten die höchste in der Region (zum Vergleich Österreich: 4).

Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen eingeschränkt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt.

Gemäß Aussagen der Direktorin von Afghan Women's Network können sich Frauen ohne Burqa und ohne männliche Begleitung im gesamten Land frei bewegen. Nach Aussage einer NGO-Vertreterin kann sie selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie lokale Kleidungsvorschriften einhält (z.B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen. In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert.

Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In unzähligen Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind (LIB).

Sikh-Frauen müssen seit Beginn der Herrschaft der Fundamentalisten, seit 1992 bis zur Gegenwart, wie die muslimische Frauen größere Kopftücher und Körperbedeckung tragen, und sie gehen ohne männliche Begleitung nicht aus ihren Häusern. Wenn sie sich auf die traditionelle Gebiete, außerhalb der Großstädte, begeben, tragen sie teilweise auch Burqa, damit sie nicht angepöbelt und beschimpft werden. Außerhalb der Großstädte sind die Sikhs-Frauen derselben strengen Regeln verpflichtet, wie die muslimischen Frauen, sie in der Öffentlichkeit erscheinen.

Für Sikh-Männer sei es heutzutage undenkbar, dass sich ein weibliches Familienmitglied unbegleitet außerhalb des Hauses aufhält. Sikh Frauen gehen meist nicht außer Haus, da sie beleidigt und ausgelacht werden (ACCORD).

2. Beweiswürdigung

2.1 Zu den Beschwerdeführern und deren Fluchtgründen

Die Angaben der persönlichen Verhältnisse der BF ergeben sich aus dem Akt, insbesondere auch aus den persönlichen Einvernahmen von BF1, BF2 und BF3 vor dem BVwG am 13.12.2019. Das erkennende Gericht erachtet diese Angaben der BF als glaubhaft, wie dies auch bereits die belangte Behörde im Verfahren erster Instanz tat.

Die belangte Behörde stellte in den angefochtenen Bescheiden jeweils ausdrücklich fest, dass die BF afghanische Staatsbürger sind (vgl. in den Akten von BF1, AS 266, von BF2, AS 172, von BF3, AS 42 und von mj. BF4, AS 40). Diese Feststellung erfolgte durch die belangte Behörde trotz des Umstandes, dass es im Verfahren des BF1 Hinweise darauf gab, dass die Mitglieder der Familie indische Staatsbürger sein könnten, da bereits vor der Zulassung zum Asylverfahren ein VIS-Abgleichsbericht ergab, dass für BF1 mit einem indischen Pass, lautend auf den Namen XXXX beim französischen Konsulat in Neu-Dehli ein Visum für Frankreich ausgestellt worden sein soll (vgl. Akt von BF1, AS 5 - 11). Die belangte Behörde befragte BF1 dazu in der Ersteinvernahme (vgl. Akt von BF1, AS 126), wo dieser sinngemäß angab, dass er keinen Pass habe, und er nicht wisse, was der Schlepper mit seinem Foto gemacht habe. Aus den Ausführungen in der Beweiswürdigung der belangten Behörd

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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