TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/6 W212 2202207-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.12.2019
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Entscheidungsdatum

06.12.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
BFA-VG §17 Abs1
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a
StGB §127
StGB §129
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W212 2202207-2/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva SINGER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.09.2019, Zl. 1186624306 - 190544487, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl. I Nr. 51/1991 idgF, sowie § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52 Abs. 2, 52 Abs. 9, 46, 53 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Ukraine, gelangte illegal in das Bundesgebiet und stellte am 04.04.2018 einen Antrag auf Gewährung von internationalen Schutz. Bei der polizeilichen Erstbefragung gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er gehöre der ukrainischen Volksgruppe an, bekenne sich zum katholischen Glauben und stamme aus dem Oblast XXXX . Er verfüge über eine elfjährige Schulbildung und habe den Beruf des Einkaufsmanagers erlernt. Seine Mutter halte sich in der Ukraine auf, sein Vater, sein Bruder und sein Sohn hielten sich legal in Deutschland auf, mit diesen habe der Beschwerdeführer jedoch keinen Kontakt.

Der Beschwerdeführer leide an keiner Erkrankung, welche ihn an der Durchführung der Befragung hindern würde, im Asylverfahren werde er jedoch eine medizinische Untersuchung benötigen, da er aufgrund von Scherben, welche ihm der ukrainische Geheimdienst eingepflanzt hätte, Schmerzen im Körper habe. Die Ukraine habe er verlassen, da er von den dortigen Behörden verfolgt worden wäre. Der ukrainische Geheimdienst hätte sein Leben bedroht. Man hätte ihn unter Narkose gesetzt und sein Sperma geraubt, um verschiedene Frauen damit zu befruchten; man habe mit seinem Sperma Sklaven züchten wollen. Der Beschwerdeführer habe Angst, dass ihm eine politische Armee verschiedene Chips in seinem Körper implantiert hätte. Der Beschwerdeführer glaube, dass ihn die Geheimpolizei der Ukraine im Falle seiner Rückkehr verhaften, quälen und töten werde.

Im Protokoll der Erstbefragung wurde zudem angemerkt, dass der Beschwerdeführer von 14.03.2018 bis 26.03.2018 in einer psychiatrischen Universitätsklinik in der Schweiz behandelt worden sei, wie sich aus einem in Vorlage gebrachten ärztlichen Attest ergebe. Im Reisepass des Beschwerdeführers sei der biometrische Chip durch diesen entfernt worden, da er denke, dass dieser von der ukrainischen Geheimpolizei zu Überwachungszwecken angebracht worden wäre. Der Beschwerdeführer verfüge über eine bis 07.04.2018 gültige private ukrainische Reisekrankenversicherung und hätte seine Aussagen während der Befragung mehrmals geändert.

Nach Zulassung seines Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 12.04.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich zu den Gründen seiner Antragstellung einvernommen. Dabei brachte er auf entsprechende Befragung hin zusammenfassend vor, sich etwas unwohl zu fühlen, er werde jedoch versuchen, die Befragung durchzuführen. Er vermute, dass er Herzbeschwerden habe, zudem habe er Splitter in seinem Körper, man habe ihm ein elektronisches Gerät eingepflanzt. Wer genau dafür verantwortlich wäre, sei ihm nicht bekannt, da es sehr geheim wäre; es handle sich um irgendwelche Spezialbehörden. Vor kurzem sei er bei einer Ärztin gewesen. Da er früher wegen der Splitter starke Schmerzen gehabt habe, habe er Heroin eingenommen. Er habe die Ärztin in Österreich um ein Ersatzmittel bzw. ein Schmerzmittel gebeten. In der Schweiz habe er keine medizinische Hilfe erhalten.

In Österreich habe er keine Verwandten oder sonstige enge soziale Anknüpfungspunkte. Der Beschwerdeführer sei in der Ukraine und in Deutschland aufgewachsen, er habe eine elfjährige Grundschulbildung absolviert und im Anschluss Managerkurse besucht und in diesem Beruf gearbeitet. Vor seiner Ausreise habe er mit seiner Mutter in deren Eigentumswohnung im Gebiet XXXX gelebt; er habe in verschiedenen, ihm nicht erinnerlichen, Firmen als Manager gearbeitet; bis zu dem Zeitpunkt, als eineinhalb Jahre zuvor der Anschlag auf ihn verübt worden sei. Danach habe er nicht mehr arbeiten können, da es ihm gesundheitlich schlecht gegangen sei. Zu jenem Anschlag führte der Beschwerdeführer aus, dass sie ihm in einer Bar etwas in den Wodka geschüttet habe; dem Beschwerdeführer sei schlecht geworden; auf dem Heimweg seien ihm etwa 15 bis 20 Männer entgegengekommen, einer davon habe dem Beschwerdeführer ein Betäubungsmittel ins Bein geschossen. Der Beschwerdeführer habe das Bewusstsein verloren, sei in ein Auto gezerrt und weggebracht worden. Danach sei er ca. eine Woche lang in einem Keller festgehalten und immer wieder geschlagen worden. Sie seien mit Sonden in seinen Mund gefahren und haben etwas in seiner linken Seite gemacht; dort habe er im Bereich des Herzens starke Schmerzen verspürt. Wer die Leute gewesen seien, könne er schwer sagen; Söldner, Geheimdienste. Aber sie haben Zugang zu den neuesten Technologien gehabt. Eine Sonde habe ca. 500.000 USD gekostet. Sie haben versucht, den Beschwerdeführer anzuwerben und ihm gedroht, ihn andernfalls umzubringen. Am Anfang habe er sich kaum an etwas erinnern können; sie haben ihm irgendwelche synthetischen Substanzen verabreicht. Nach sechs Monaten sei er hingefallen und habe aufgrund des Verdachts einer Gehirnerschütterung die Rettung gerufen. Noch im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus sei ihm eine Giftspritze verabreicht worden; er habe sein linkes Bein nicht mehr gespürt, einen Monat lang nichts essen können und sei ein paar Tage im Koma gelegen. Es sei ihm auch ein Implantat in die Nase gedreht worden. Dieses ermögliche, mit einer Person in Kontakt zu treten, ohne diese Person anzurufen. Man höre sie dann einfach; außerdem beeinflusse dies den Gedankengang und könne auf das Unterbewusstsein einwirken.

Ersucht, seine Fluchtgründe chronologisch zu schildern, verwies der Beschwerdeführer auf die bereits dargelegten Vorfälle. Ihm sei gedroht worden. Er sei dann zur Polizei gegangen, welche ihm gesagt habe, dass sie von diesen Chips wüssten, doch solle man nichts aufschreiben, um nichts zu provozieren. Es habe noch einen Anruf gegeben; man habe ihn zum Militäramt bestellen wollen - es sei angedeutet worden, dass man viel Geld in ihn investiert habe, dafür solle er für die Anrufer kämpfen. Der konkret fluchtauslösende Vorfall sei die Geschichte mit dem Krankenwagen gewesen, welche sich vor etwa vier bis fünf Monaten ereignet habe. Nach Beweisen für sein Vorbringen gefragt, meinte der Beschwerdeführer, man könne ihn in Bezug auf den Chip, welcher sich immer noch in seinem Körper befinde, untersuchen. Seine Eltern können seine Vergiftung bezeugen. Nachgefragt, habe er ein paar Mal Heroin genommen bzw. Tabletten, Schmerzmittel und Heroin geschnupft. Bezüglich seiner Fluchtgründe wolle er ergänzend auf ein Gespräch mit dem Bürgermeister von XXXX verweisen, mit welchem sich der Beschwerdeführer zerstritten habe. Der Beschwerdeführer vermute, dass dessen Leute hinter der Sache stecken würden. Der Beschwerdeführer wisse nicht, weshalb sie ausgerechnet ihn ausgewählt haben. Er vermute, dass man ihn habe beseitigen wollen. Sie hätten früher Sperma von ihm entnommen, damit es Frauen eingesetzt werde und diese Kinder austragen, welche "später als Sexsklaven verwendet" werden. Gegen den Beschwerdeführer bestehe kein Haftbefehl und keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen; die ukrainischen Behörden haben versucht, ihn des Separatismus zu beschuldigen, passiert sei jedoch nichts. Er habe sich mit Aktivisten unterhalten und seine Meinung im Internet geäußert. Es habe Drohungen gegeben, woraufhin er aufgehört habe, zu schreiben. Er habe keine Probleme aufgrund seiner Religion gehabt, aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit habe er Probleme gehabt, da einige ihn als Deutschen angesehen hätten. Im Falle einer Rückkehr in die Ukraine werde man ihn noch mehr zum Krüppel machen und ihn vermutlich töten.

Aus einem durch das Bundesamt in Auftrag gegebenen neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen-Gutachten vom 04.05.2018 ergab sich im Wesentlichen, dass eine wahnhafte Störung differentialdiagnostisch zwar grundsätzlich in Frage käme, die Diagnosekriterien dieser oder einer sonstigen psychischen Erkrankung seien jedoch nicht mit der notwendigen Sicherheit erfüllt. Die vom Beschwerdeführer getätigten Angaben zum Ausreisegrund seien teilweise nicht nachvollziehbar. Eine paranoide Verarbeitung realer Gegebenheiten sei zwar nicht auszuschließen, könne aber letztlich nicht mit der notwendigen Sicherheit angenommen werden.

Am 08.06.2018 fand eine ergänzende Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt statt, im Rahmen derer der Beschwerdeführer zusammengefasst angab, sich zur Durchführung der Einvernahme grundsätzlich bereit zu fühlen, doch habe er aufgrund von Nervosität die ganze Nacht nicht geschlafen. Sein Gesundheitszustand habe sich seit seiner letzten Einvernahme verschlechtert. Er habe linksseitige Schmerzen unter dem Arm und im Herzbereich. Das eingeholte Gutachten wurden mit dem Beschwerdeführer erörtert.

2. Mit Bescheid vom 27.06.2018 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und den Antrag gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1a FPG wurde ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers wurde gemäß § 18 Absatz 1 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).

Die Behörde stellte die Staatsbürgerschaft, Identität, Volksgruppenzugehörigkeit sowie Religion des Beschwerdeführers fest und legte ihrer Entscheidung ausführliche Feststellungen zur aktuellen Situation in dessen Herkunftsstaat zu Grunde. Der Beschwerdeführer leide an keinen schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Erkrankungen. Die von ihm erstatteten Angaben zum Fluchtgrund würden sich als unglaubhaft darstellen und es könne nicht festgestellt werden, dass dieser im Heimatland einer persönlichen oder staatlichen Verfolgung ausgesetzt wäre. Die vom Beschwerdeführer geschilderten Vorfälle erwiesen sich als nicht plausibel, hätten durch keinerlei Beweismittel untermauert werden können und enthielten zeitlich divergierende Angaben. Es seien keine Hindernisse zu erblicken, welche es dem Beschwerdeführer unmöglich machen würden, in die Ukraine zurückzukehren und sein weiteres Leben dort zu gestalten. Es habe nicht festgestellt werden können, dass selbiger im Falle einer Rückkehr in die Ukraine der realen Gefahr des Todes, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung oder der Gefahr der Folter bzw. einer sonstigen Gefahr für sein Leben ausgesetzt wäre. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen gut ausgebildeten jungen Mann, welcher die Möglichkeit hätte, am Erwerbsleben teilzunehmen und neuerlich in der Eigentumswohnung seiner Mutter im Gebiet XXXX unterzukommen. Der Beschwerdeführer verfüge im Bundesgebiet über keine sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen. Es hätten sich keine Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben. Da der Beschwerdeführer aus einem sicheren Herkunftsstaat stamme und für die Behörde feststünde, dass ihm in der Ukraine keine Gefahr einer Menschrechtsverletzung drohe, sei es ihm zumutbar, den Ausgang seines Verfahrens in der Ukraine abzuwarten, weshalb der Beschwerde die aufschiebende Wirkung abzuerkennen gewesen wäre.

3. Mit fristgerechter Beschwerde wurde im Wesentlichen moniert, die belangte Behörde habe es unterlassen, sich mit dem individuellen Vorbringen des Beschwerdeführers sachgerecht auseinanderzusetzen und diesbezüglich ein adäquates Ermittlungsverfahren durchzuführen, wodurch der angefochtene Bescheid an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel leide. Falls dem Vorbringen des Beschwerdeführers dennoch keine Asylrelevanz zugebilligt werden könne, sei diesem der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, da ihm im Falle einer Abschiebung in die Ukraine eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK drohe. Der Beschwerdeführer bemühe sich um eine Integration in Österreich, spreche sehr gut Deutsch und sei arbeitswillig. Beiliegend wurden ein Röntgenbefund vom 19.04.2018, ein Blutbefund vom 20.07.2018, sowie eine diesbezügliche handschriftliche Anmerkung eines Allgemeinmediziners übermittelt.

5. Mit Erkenntnis des BVwG vom 01.10.2018, GZ W111 2202207-1/11E wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Eine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Gesinnung konnte nicht festgestellt werden. Es wurde auch keine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Krankheit, die einer Rückkehr in die Ukraine entgegenstehen würde festgestellt. Ein schützenswertes Privat- oder Familienleben bestehe zudem nicht.

6. Am 28.05.2019 stellte der Beschwerdeführer den zweiten, verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

6.1. Der Beschwerdeführer gab in seiner am selben Tag aufgenommenen Erstbefragung an, dass er Österreich unter Drogeneinfluss verlassen habe und eine Rundreise gemacht habe. Er könne keinen konkreten Angaben zu seinen neuen Fluchtgründen machen und wolle sich mit einem Anwalt besprechen. Seine Ausreise-, Flucht-, oder Verfolgungsgründe habe er bereits bei der ersten Niederschrift bekannt gegeben. Er fürchte sich, dass er umgebracht werde, sein Nachbar sei umgebracht worden.

6.2. Mit Verfahrensanordnung gem. § 29 Abs. 3 und § 15a AsylG wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass beabsichtigt sei seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da das Bundesamt davon ausgehe, dass eine entschiedene Sache i.S.d. § 68 AVG vorliege.

6.3. Mit Verfahrensanordnung wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass dieser gem. § 52a Abs. 2 BFA-VG verpflichtet sei ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

6.4. Am 13.06.2019 fand beim Bundesamt eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Beisein seines Rechtsberaters statt, in welcher der Beschwerdeführer im Wesentlichen angab, dass er nun etwas Neues erzählen wolle. Er sei heroinsüchtig, nehme aber kein Heroin oder Ersatzmittel. Der Beschwerdeführer nehme Tramadol und habe einen Urintest gemacht, in weiterer Folge würde er eine Ersatzdroge erhalten. Bei ihm bliebe alles gleich, es bestehe Lebensgefahr im Falle seiner Rückkehr in die Ukraine. Die Polizei könne ihn nicht schützten und habe er jetzt auch Probleme mit Drogen. Seine Flucht- und Ausreisegründe aus dem Vorverfahren seien weiterhin aufrecht. Er könne sich nun erinnern, weshalb man ihn habe beseitigen wollen, nämlich weil er eine Aussage gegen die Leute die ihn in der Ukraine angegriffen hätten, machen könne. Die Einvernahme wurde aufgrund von Entzugserscheinungen abgebrochen.

6.5. Am 31.07.2019 wurde eine weitere Einvernahme beim Bundesamt durchgeführt. Der Beschwerdeführer befinde sich in Therapie. Dazu wurde eine Bestätigung der Suchthilfe vom 18.07.2019 vorgelegt, wonach sich der Beschwerdeführer seit dem 19.06.2019 in Behandlung befinde. Er habe auch noch einen Fremdkörper in seinem Körper und müsse er sich darum noch kümmern. Die Flucht- bzw. Ausreisegründe aus dem Vorverfahren seien weiterhin aufrecht und bestehe Lebensgefahr im Herkunftsstaat. Er habe auch im Erstverfahren angegeben, dass er einen politischen Streit mit wichtigen Leuten, dem Gouverneur, gehabt habe und er bei der Polizei gesagt habe, dass der Beschwerdeführer den Gouverneur erschießen möchte, was notiert worden sei.

Seit der Rechtskraft des Erstverfahren habe sich nur der Präsident geändert, sonst nichts. Er habe den Asylantrag gestellt, weil er Angst habe in sein Heimatland zurückzukehren. Die Drogenprobleme hätten nach dem Angriff in der Ukraine angefangen, als er Heroin als Schmerzmittel verwendet habe.

Vor etwa 3 Jahren habe sich zudem ein Unbekannter bei Internet beim Beschwerdeführer gemeldet und habe er diesem gegen Geldzahlungen politische Unterlagen weitergegeben.

6.5. Am 12.09.2019 langte beim Bundesamt eine gutachterliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren ein, in welcher beim Beschwerdeführer eine Suchterkrankung diagnostiziert wurde und eine Entzugsbehandlung oder Substitutionsbehandlung am jeweiligen Aufenthaltsort empfohlen wird. Im Falle einer Überstellung sei nicht sicher auszuschließen, dass es zu einer Verschlechterung kommen könne, eine akute Suizidalität sei derzeit nicht erkennbar. Auch gebe es keine sonstigen behandlungsbedürftigen oder gar lebensbedrohlichen Erkrankungen beim Beschwerdeführer.

6.6. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 26.09.2019, Zl. 1186624306 - 190544487 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 28.05.2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde der Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei, sowie dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für eine freiwillige Ausreise bestehe. Gleichzeitig wurde gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass über das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers im Vorverfahrens bereits mit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.10.2018 rechtskräftig entschieden worden sei. In der Erstbefragung am 28.05.2015 habe der Beschwerdeführer keinen neuen Sachverhalt vorgebracht, welcher nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens entstanden sei. Weder im Erstverfahren noch im gegenständlichen Verfahren habe sich ergeben, dass der Beschwerdeführer an einer schweren oder lebensbedrohlichen Krankheit leiden würde. Aktuell würde der Beschwerdeführer an einem ärztlich überwachten Drogenersatzprogramm teilnehmen. Überdies sei bereits im Ersterkenntnis festgestellt worden, dass in der Ukraine eine ausreichende medizinische Grundversorgung bestehe. Bereits im Vorverfahren sei das Vorbringen des Beschwerdeführer als unglaubhaft gewürdigt worden. Die vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten Verfolgungsbehauptungen bauen auf dem Vorbringen im Erstverfahren auf und habe der Beschwerdeführer lediglich die seinerzeitige Verfolgungsbehauptung aufrechterhalten. Überdies enthalte das Vorbringen auch keinen glaubhaften Kern. Auch bestehe in Österreich kein schützenswertes Privat- und Familienleben bzw. sei ein Eingriff gesetzlich vorgesehen. Zum Einreiseverbot wurde unter anderem ausgeführt, dass der Unterhalt des Beschwerdeführers aus Mitteln der Grundversorgung stamme und daher keine Selbsterhaltungsfähigkeit vorliege.

6.7. Mit der fristgerecht am 10.10.2019 eingebrachten Beschwerde der bevollmächtigten Rechtsberatungseinrichtung wurde der im Spruch genannte Bescheid vollinhaltlich angefochten. Begründend wurde angeführt, dass es im Falle der Rückkehr in die Ukraine aufgrund der damit verbundenen Unterbrechung der Behandlung des Beschwerdeführers zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes bzw. zum Tod führen würde, was eine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Neu sei, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, dass er Heroin süchtig und in einem Ersatzprogramm sei. Die medizinische Versorgung sei mangelhaft und unzureichend und mit hohen Kosten verbunden, was für den Beschwerdeführer nicht leistbar sei. Daher liege - entgegen der von der Behörde getroffenen Annahme - eine neue und nicht entschiedene Sache vor.

6.8. Mit weiterem Beschwerdeschriftsatz vom 14.10.2019 der bevollmächtigten Vertreterin wurde der im Spruch genannte Bescheid hinsichtlich der Spruchpunkte I., II., IV., V., VI. und VII. bekämpft und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Begründend wurde dargelegt, dass sich der Beschwerdeführer seit Juni 2019 in ärztlicher Substitutionstherapie befinde und sich der psychische Zustand des Beschwerdeführers geändert habe. Diese relevante Änderung habe das Bundesamt nicht entsprechend gewertet und sei eine neuerliche inhaltliche Prüfung des subsidiären Schutzes vorzunehmen gewesen. Die medizinische Behandlung in Österreich sei auch bei der Prüfung des Art. 8 EMRK miteinzubeziehen gewesen.

7. Mit Email vom 23.10.2019 wurde das Bundesverwaltungsgericht von der Verurteilung des Beschwerdeführers wegen §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB, § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 7 Monaten verständigt, wobei der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von zwei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Ukraine, er gehört der ukrainischen Volksgruppe sowie der katholischen Glaubensrichtung an. Seine Identität steht fest.

1.2. Der Beschwerdeführer reiste im April 2018 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 04.04.2018 den ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Als Fluchtgrund brachte er im Vorverfahren im Wesentlichen vor, dass er vom Geheimdienst, oder Militär bzw. Unbekannten entführt und betäubt worden sei und Implantate bzw. Chips in seinen Körper eingesetzt worden seien. Der Beschwerdeführer habe seit dem Jahr 2016 mehrmals Heroin genommen. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 27.06.2018 wegen Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens abgewiesen.

1.3. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht als unbegründet abgewiesen und erwuchs das Erkenntnis in der Folge am 02.10.2018 in Rechtskraft.

1.4. Am 28.05.2019 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen, zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

1.5. Der Beschwerdeführer konnte seit Rechtskraft der letzten Entscheidung über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 04.04.2018 kein neues entscheidungsrelevantes individuelles Vorbringen glaubhaft dartun. Der Beschwerdeführer machte im gegenständlichen Verfahren keine neuen Verfolgungsgründe geltend. Der Beschwerdeführer hielt seine Fluchtgründe aus dem Vorverfahren aufrecht. Der Beschwerdeführer ergänzte die Fluchtgründe seines Vorverfahrens. Diese Ergänzungen beinhalteten keinen glaubhaften Kern.

1.6. Nicht festgestellt werden kann des Weiteren, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten sind, wonach dem Beschwerdeführer in der Ukraine aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr in die Ukraine die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Der Beschwerdeführer nimmt seit dem Jahr 2016 Heroin. Der Beschwerdeführer ist opiatabhängig. Der Beschwerdeführer hat bereits am 12.09.2018 mit einer Drogenersatztherapie begonnen (AS 199).

Der Beschwerdeführer leidet an keiner zwischenzeitlich aufgetretenen lebensbedrohlichen oder im Herkunftsland nicht behandelbaren Krankheit.

1.7. Der Beschwerdeführer spricht als Muttersprache Russisch und Ukrainisch. Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über kein schützenswertes Privat- oder Familienleben. Er hat keine Familienangehörigen oder sonstigen engen sozialen Bezugspunkte im Bundesgebiet, ist nicht selbsterhaltungsfähig und bestreitet seinen Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung. Er verfügt aufgrund eines früheren Aufenthalts in Deutschland über Deutschkenntnisse, während seines Aufenthalts in Österreich absolvierte er keine Kurse oder Ausbildungen, war nicht ehrenamtlich tätig und ist in keinem Verein Mitglied. Eine tiefgreifende Verwurzelung des Beschwerdeführers im Bundesgebiet konnte nicht erkannt werden.

1.8. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers, der Ukraine, werden die vom Bundesamt herangezogenen, aktuellen Länderfeststellungen (Stand 29.05.2019, letzte Kurzinformation vom 30.08.2019) diesem Verfahren zugrunde gelegt. Es kann nicht festgestellt werden, dass seit Rechtskraft der Erstentscheidung eine entscheidungswesentliche Änderung der Situation in der Ukraine eingetreten ist.

KI vom 30.08.2019 (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage)

Am 29.8.2019 ist die ukrainische Oberste Rada zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammengetreten. Die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Diener des Volkes, hatte bei der Wahl mehr als 250 der insgesamt 450 Sitze gewonnen (DS 29.8.2019; vgl. Ukrinform 30.8.2019).

Sechs Fraktionen wurden gebildet: Diener des Volkes mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform "Für das Leben" mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion "Für die Zukunft" mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019).

Für die neue Regierung stimmten 281 Parlamentarier. Neuer Premierminister ist der 35-jährige Jurist Olexij Hontscharuk (DS 29.8.2019; vgl. Ukrinform 30.8.2019).

Zum neuen Ministerkabinett gehören:

Vizepremierminister für europäische und euroatlantische Integration Dmytro Kuleba

Vizepremierminister und Minister für IT-Transformation Mychailo Fedorow

Minister des Ministerkabinetts Dmytro Dubilet

Außenminister Wadym Prystaiko

Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk

Innenminister Arsen Awakow (Bereits in der Vorgängerregierung tätig)

Minister für Wirtschaftsentwicklung, Handel und Landwirtschaft Tymofij Mylowanow

Justizminister Denys Maljuska

Finanzministerin Oxana Markarowa (Bereits in der Vorgängerregierung tätig)

Minister für Energiewirtschaft und Kohleindustrie Olexij Orschel

Minister für Infrastruktur Wladyslaw Kryklij

Ministerin für Entwicklung von Gemeinden und Territorien Olena Babak

Ministerin für Bildung und Wissenschaft Hanna Nowosad

Gesundheitsministerin Zorjana Skalezka

Minister für Kultur, Jugend und Sport Wolodymyr Borodjanskyj

Ministerin für Sozialpolitik Julia Sokolowska

Ministerin für Angelegenheiten von Veteranen, vorläufig besetzen Gebieten und Binnenflüchtlingen Oxana Koljada

(Ukrinform 30.8.2019)

Zu den unmittelbaren Vorhaben der neuen Regierung zählen nun wirtschaftspolitische Maßnahmen, die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität (eine weithin geforderte Maßnahme zur Korruptionsbekämpfung, welche allerdings eine Zweidrittelmehrheit verlangt), die Schaffung einer Möglichkeit zur Absetzung des Präsidenten und ein Gesetz zum Whistleblowing in Korruptionsangelegenheiten (RFE/RL 30.8.2019).

KI vom 23.07.2019 (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage)

Die Partei "Sluha Narodu" (Diener des Volkes) von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die ukrainische Parlamentswahl vom 21.07.19 gewonnen. Noch liegt das amtliche Endergebnis nicht vor, aber nach Auszählung von etwa 70% der Stimmen steht fest, dass die Partei auf rund 42,7% kommt. Es folgen die russlandfreundliche Oppositionsplattform mit etwa 13%, die Partei "Europäische Solidarität" des früheren Präsidenten Petro Poroschenko mit etwa 8,4%, die Vaterlandspartei der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit 7,4% und die Partei "Holos" (Stimme) des Rocksängers Swiatoslaw Wakartschuk mit 6,2%. Dies sind die fünf Parteien, die die 5%-Hürde überwinden konnten. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019).

Zusammen mit den gewonnenen Sitzen aus den Direktwahlkreisen kommt Selenskyjs Partei auf knapp 250 der insgesamt 450 Sitze im Parlament. Das gute Ergebnis über die Parteiliste war vorausgesagt worden, jedoch überrascht der Gewinn von mehr als 120 Direktmandaten , da die Kandidaten durchwegs Polit-Neulinge sind und über keinerlei Erfahrung im Parlament verfügen. Die enorme Wählerzustimmung für Selenskyjs Partei bedeutet, dass das erste Mal in der Ukraine eine politische Kraft die absolute Mehrheit der Sitze in der Rada erreicht hat. Damit entfallen die komplizierten Koalitionsverhandlungen, mit denen im Vorfeld der Wahl viele Experten gerechnet hatten. Offenbar wurde auch Selenskyj selbst davon überrascht, denn noch am Wahlabend hatte er Wakartschuks "Holos", auch diese eine erst vor kurzem gegründete Partei mit ausschließlich politisch unerfahrenen Kandidaten und radikaler Antikorruptions-Agenda, Koalitionsverhandlungen angeboten. Dies dürfte nun unnötig geworden sein (BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019).

Politische Lage

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20.05.2019 Präsident Wolodymyr Selensky, Regierungschef ist seit 14.4.2016 Ministerpräsident Wolodymyr Hroisman.

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wird über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt (AA 20.5.2019). Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Auch die unterschiedlichen Auslegungen der Gerichte in Bezug auf das Wahlrecht sind Gegenstand der Kritik. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus. Die im Oktober 2014 abgehaltenen vorgezogenen Parlamentswahlen wurden im Allgemeinen als kompetitiv und glaubwürdig erachtet, aber auf der Krim und in von Separatisten gehaltenen Teilen des Donbass war die Abstimmung erneut nicht möglich. Infolgedessen wurden nur 423 der 450 Sitze vergeben (FH 4.2.2019). Der neue Präsident, Wolodymyr Selensky, hat bei seiner Inauguration im Mai 2019 vorgezogene Parlamentswahlen bis Ende Juli 2019 ausgerufen (RFE/RL 23.5.2019).

In der Rada sind derzeit folgende Fraktionen und Gruppen vertreten:

Partei

Sitze

Block von Petro Poroschenko (Blok Petra Poroschenka)

135

Volksfront (Narodny Front)

81

Oppositionsblock (Oposyzijny Blok)

38

Selbsthilfe (Samopomitsch)

25

Radikale Partei von Oleh Ljaschko (Radykalna Partija Oleha Ljaschka)

21

Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna)

20

Gruppe Wolja Narodu

19

Gruppe Widrodshennja

24

Fraktionslose Abgeordnete

60

Nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 verfolgte die Ukraine unter ihrem Präsidenten Petro Poroschenko eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Zu den Schwerpunkten seines Regierungsprogramms gehörte die Bekämpfung der Korruption sowie eine Verfassungs- und Justizreform. Dennoch wurden die Erwartungen der Öffentlichkeit zu Umfang und Tempo der Reformen nicht erfüllt. Die Parteienlandschaft der Ukraine ist pluralistisch und reflektiert alle denkbaren Strömungen von national-konservativ und nationalistisch über rechtsstaats- und europaorientiert bis links-sozialistisch. Die kommunistische Partei ist verboten. Der Programmcharakter der Parteien ist jedoch kaum entwickelt und die Wähler orientieren sich hauptsächlich an den Führungsfiguren (AA 22.2.2019).

Der ukrainische Schauspieler, Jurist und Medienunternehmer Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj gewann am 21. April 2019 die Präsidentschaftsstichwahl der Ukraine gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko mit über 73% der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung: 61,4%). Poroschenko erhielt weniger als 25% der Stimmen (RFE/RL 30.4.2019). Beobachtern zufolge verlief die Wahl im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Selenskyj wurde am 20.5.2019 als Präsident angelobt. Er hat angekündigt möglichst bald parlamentarische Neuwahlen ausrufen zu lassen, da er in der Verkhovna Rada über keinen parteipolitischen Rückhalt verfügt und demnach kaum Reformen umsetzen könnte. Tatsächlich hat er umgehend per Dekret vorgezogene Parlamentswahlen bis Ende Juli 2019 ausgerufen (RFE/RL 23.5.2019).

Es ist ziemlich unklar, wofür Präsident Selenskyj politisch steht. Bekannt wurde er durch die beliebte ukrainische Fernsehserie "Diener des Volkes", in der er einen einfachen Bürger spielt, der eher zufällig Staatspräsident wird und dieses Amt mit Erfolg ausübt. Tatsächlich hat Selenskyj keine nennenswerte politische Erfahrung, ist dadurch jedoch auch unbefleckt von politischen Skandalen. Eigenen Aussagen zufolge will er den Friedensplan für den umkämpften Osten des Landes wiederbeleben und strebt wie Poroschenko einen EU-Beitritt an. Über einen Nato-Beitritt der Ukraine soll jedoch eine Volksabstimmung entscheiden (DS 21.4.2019; ZO 21.4.2019). Selenskyj hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf seine Fahnen geschrieben (UA 27.2.2019).

Kritiker sehen Selenskyj als Marionette des Oligarchen Igor Kolomojskyj, dessen weitgehende Macht unter Präsident Poroschenko stark beschnitten wurde, und auf dessen Fernsehsender 1+1 viele von Selenskyjs Sendungen ausgestrahlt werden. Diesen Vorwurf hat Selenskyj stets zurückgewiesen (UA 27.2.2019; CNN 21.4.2019; Stern 23.4.2019).

Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 22.2.2019).

Durch die Besetzung der Krim, die militärische Unterstützung von Separatisten im Osten und die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen die Ukraine, kann Russland seinen Einfluss auf den Verlauf des politischen Lebens in der Ukraine aufrechterhalten. Menschen, die in den besetzten Gebieten des Donbass leben, sind stark russischer Propaganda und anderen Formen der Kontrolle ausgesetzt (FH 4.2.2019).

Nach UN-Angaben kamen seit Beginn des bewaffneten Konflikts über 10.000 Menschen um; es wurden zahlreiche Ukrainer innerhalb des Landes binnenvertrieben oder flohen ins Ausland. Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) stockt trotz hochrangiger Unterstützung im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die u.a. aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Dennoch hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten "Sonderstatusgesetzes" bis Ende 2019 verlängert (AA 22.2.2019).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, "das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen". In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Rechtsschutz / Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Einige Richter behaupteten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 13.3.2019).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommenen Gesetzesänderung zur "Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren" sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung ("re-attestation") aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat ("council of prosecutors") ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Nachdem unter Präsident Janukowitsch die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eingemahnte Verfassungsreform jahrelang hinausgezögert wurde, wurde von Präsident Poroschenko durch seinen im Juli 2014 vorgelegten Gesetzesentwurf zur Änderung der ukrainischen Verfassung ein neuer Impuls gesetzt. Die darin vorgesehenen Schritte zu dezentraleren Strukturen mit erweiterten Kompetenzen der gewählten Gemeinde- und Bezirksräte, nicht zuletzt im Hinblick auf die Verteilung und Verwaltung öffentlicher Mittel, dem Ausbau der regionalen Selbstverwaltung und der erstmaligen Verankerung des Prinzips der Subsidiarität, wurden von der Venedig-Kommission begrüßt. Jedoch gibt es für die Annahme der Verfassungsreform in zweiter Lesung derzeit keine Mehrheit im Parlament. Vor allem die verfassungsrechtliche Absicherung der im Rahmen des Minsk-Prozesses zur Beilegung des Konflikts in der Ostukraine festgelegten Dezentralisierung steht unter starker Kritik einiger Parteien, weil diese eine "Ermächtigungsklausel" zur Schaffung eines Gesetzes über den Sonderstatus des Donbasss enthält. In der Praxis wurden jedoch bereits Erfolge bei der finanziellen Dezentralisierung erzielt, sowie zahlreiche Gemeinden zusammengelegt, die dadurch mit mehr finanziellen Mittel ausgestattet sind und effizienter arbeiten können. Ohne eine verfassungsmäßige Absicherung der Dezentralisierungsreform bleibt diese jedoch vorerst weiterhin unvollendet (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen bleiben hinter den Erwartungen zurück, werden aber fortgesetzt (FH 4.2.2019).

Sicherheitsbehörden

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Sicherheitskräfte verhindern oder reagieren im Allgemeinen auf gesellschaftliche Gewalt. Zuweilen wenden sie jedoch selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen, oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen (z.B. im Falle der Zerstörung eines Roma-Camps durch Nationalisten, gegen die die Polizei nicht einschritt). Der ukrainischen Regierung gelingt es meist nicht, Beamte, die Verfehlungen begangen haben, strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen (USDOS 13.3.2019).

Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan, die im Juli 2015 in vorerst 32 Städten ihre Tätigkeit aufnahm. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte "Militsiya". Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen "Re-Attestierungsprozess" samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen,

4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Feber 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz "Über die Nationalpolizei" sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Katia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt "Detektive" - Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines "Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)" auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter der Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine "Strategie des Innenministeriums bis 2020" sowie ein Aktionsplan entwickelt.(ÖB 2.2019).

Die Nationalpolizei muss sich mit einer, das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinträchtigenden Zunahme der Kriminalität infolge der schlechten Wirtschaftslage und des Konflikts im Osten, einer noch im alten Denken verhafteten Staatsanwaltschaft und der aus sozialistischen Zeiten überkommenen Rechtslage auseinandersetzen. Über Repressionen durch Dritte, für die der ukrainische Staat in dem von ihm kontrollierten Staatsgebiet mittelbar die Verantwortung trägt, indem er sie anregt, unterstützt oder hinnimmt, liegen keine Erkenntnisse vor (AA 22.2.2019).

Folter und unmenschliche Behandlung

Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafung, die gegen die Menschenwürde verstößt, ist gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 22.2.2019).

Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustandegekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen bemängeln die Maßnahmen, angebliche Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsbehörden zu ermitteln bzw. zu bestrafen, insbesondere angebliche Fälle von Folter, Verschwindenlassen, willkürlichen Inhaftierungen etc. durch den ukrainischen Geheimdienst (SBU), speziell wenn das Opfer aus Gründen der nationalen Sicherheit inhaftiert war/ist oder verdächtig war/ist "pro-russisch" eingestellt zu sein. Straflosigkeit ist somit weiterhin ein Problem. Während die Behörden manchmal Anklagen gegen Angehörige der Sicherheitsbehörden erheben, kommt es bei einschlägigen Ermittlungen oft nicht zu Anklagen, während die mutmaßlichen Täter weiter ihrer Arbeit nachgehen. Laut Bericht einer NGO kommt es nur in drei Prozent der Strafverfahren gegen Strafverfolgungsbehörden wegen körperlichen Missbrauchs von Festgenommenen zu einer Anklage. Das Innenministerium gibt an, dass Sicherheitskräfte 80 Stunden an verpflichtenden Menschenrechtsschulungen erhalten. Polizeiakademien bieten ebenfalls Kurse zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Verfassungsrechten, Toleranz und Nichtdiskriminierung, Verhütung häuslicher Gewalt und Folter (USDOS 13.3.2019).

2017 hat das ukrainische Innenministerium bis 1. Dezember ca. 2.000 Beschwerden bezüglich Menschenrechtsverstößen durch Polizeibeamte erhalten. 125 Ermittlungen wurden eingeleitet (davon 83 wegen Körperverletzung, 3 wegen Folter). Im selben Zeitraum begann die Staatsanwaltschaft 43 Untersuchungen (davon 22 wegen Körperverletzungen, 6 wegen Folter). Mit der Gründung des State Bureau of Investigation (SBI) ist dieses u.a. auch für die Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen gegen Sicherheitsbeamte zuständig. Einige Häftlinge berichteten, dass ihre Beschwerden bezüglich Misshandlung bei der Festnahme trotz sichtbarer Verletzungen von Richtern ignoriert wurden (CoE 6.9.2018).

Von der ukrainischen Seite der Kontaktlinie zu den Separatistengebieten der Ostukraine gibt es Berichte über Entführungen bzw. nicht-kommunizierte Haft bei nahezu völliger Straflosigkeit. Dies geschieht vor allem durch den Geheimdienst (SBU); die Opfer werden der Zusammenarbeit mit dem russischen Geheimdienst (FSB) oder bewaffneten Gruppen verdächtigt. Die ukrainischen Behörden sollen sich bei diesen Verhaftungen mitunter auch nationalistischer Gruppen bedient haben, welche die Gefangenen dann dem SBU übergaben. Auch von Misshandlung und Folter ist die Rede, wenn auch nicht in der Systematik und in dem Maßstab wie in den Separatistengebieten (USDOS 13.3.2019). Der SBU bestreitet dies trotz anderslautender Erkenntnisse der Beobachtungsmission des UN-Hochkommissars für Menschenrechte. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlungen gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden wegen illegaler Haft aufgenommen (AA 22.2.2019).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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