Entscheidungsdatum
22.01.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W209 2169298-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Reinhard SEITZ als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, vertreten durch Mag. Georg BÜRSTMAYR, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.08.2017, Zl. 1093993601 - 151724620, betreffend Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz, Erlassung einer Rückkehrentscheidung, Versagung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und Feststellung, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig ist, sowie Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.01.2020 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird Folge gegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Oktober 2015 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 14.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Bei seiner Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion Wien am 09.11.2015 gab der BF an, er sei am XXXX in XXXX in der Provinz Kunduz geboren. Er gehöre der Volksgruppe der Usbeken an und sei sunnitischen Glaubens. Zu seinem Fluchtgrund führte der BF aus, dass Afghanistan zum einen wegen der Taliban und zum anderen wegen seines Großvaters väterlicherseits verlassen habe. Wegen seiner Tätigkeit sei er von den Taliban mit dem Tod bedroht worden. Sie würden ihm vorwerfen, dass er sich in einem ungläubigen Land habe ausbilden lassen, und hätten ihn aufgefordert, die Tätigkeit zu beenden und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Außerdem werde er von seinem Großvater und seinem Onkel väterlicherseits namens XXXX bedroht. Als sein Vater verstorben sei, habe seine Mutter einen anderen Mann geheiratet und auch den BF mit nach Österreich bringen wollen. Dieser Mann habe Einwände gehabt. Seine Schwester und er seien von der Mutter getrennt worden und sehr schlecht behandelt und auch misshandelt worden. Im Zuge der Erstbefragung wurde seitens des BF eine Tazkira in Kopie vorgelegt.
3. Am 31.05.2017 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien (in der Folge: BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und seiner Mutter als Vertrauensperson einvernommen. Der BF legte im Zuge der Einvernahme eine Tazkira, ein Schulabschlusszeugnis, in kyrillisch abgefasste Diplome, ein Empfehlungsschreiben, sowie diverse Fotos, welche den BF in Militäruniform zeigen, Berichte zur Sicherheitslage in Kunduz, Besuchsbestätigungen für Deutsch- und Computerkurse, ein Deutschzertifikat A2, eine Mitgliedschaftsbestätigung für das Fitnessstudio "McFit" sowie einen Nachweis über freiwillige Tätigkeiten im Wiener Hilfswerk vor.
Der BF gab an, er sei am XXXX in XXXX , XXXX , in der Provinz Kunduz geboren. Er gehöre der usbekischen Volksgruppe an und sei Muslim sunnitischen Glaubens. Er sei in Kabul auf die Welt gekommen und habe dann bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Kunduz gelebt. Dann sei er nach Mazar-e-Sharif gezogen. Als die Taliban Mazar-e-Sharif eingenommen hätten, sei er nach Kunduz gezogen. Dort habe es familiäre Probleme gegeben und er sei, als seine Mutter geheiratet habe, von seinem Großvater quasi entführt und nach Mazar-e Sharif gebracht worden. In Mazar-e Sharif habe er die Schule beendet und danach sei er fünf Jahre lang in Russland gewesen, wo sie im letzten Jahr ein Praktikum gehabt hätten. Er habe zurück nach Afghanistan gehen müssen und es sei um das Minenlegen gegangen. Weil er und seine Großeltern aus Kunduz stammen würden, hätte das Verteidigungsministerium gewollt, dass er sein Praktikum in Kunduz mache. Er sei dann ca. zwei Wochen dort gewesen und sei direkt geflohen. Seine Aufgabe sei die Minenräumung in Kunduz gewesen. Dabei seien einige Burschen durch Explosionen verletzt worden. Einer sei dabei gestorben. Er habe gesehen, dass die Lage schlecht sei und habe beschlossen nach Österreich zu gehen. Er sei ca. eine Woche in Kabul beim Verteidigungsministerium gewesen. Von dort sei er wieder nach Kunduz geschickt worden. Sein Vater sei vor ca. 25 Jahren gestorben, seine Mutter, sein Halbbruder und sein Stiefvater würden in Österreich leben und seien österreichische Staatsbürger. Eine ca. 23 Jahre alte Schwester lebe in der Türkei. Eine Tante, ein Onkel und seine Großmutter würden in Kunduz leben. Er habe weitere Verwandte in Mazar-e Sharif. Dort würden sein Großvater und ein Onkel leben. Er habe ungefähr zehn Onkel. Sechs würden in Mazar-e Sharif, zwei in Ungarn und einer in den Niederlanden leben. Er sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. Er spreche Usbekisch, Dari, Russisch, ein bisschen Deutsch und ein bisschen Türkisch. Er habe die Matura und sei in Russland fünf Jahre lang auf die Universität gegangen. Das sei eine Militäruniversität gewesen und er habe dort die Ausbildung zum Minenfachmann gemacht. Während der Schulzeit habe ihn sein Großvater finanziell unterstützt. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF an, dass sein Großvater seine Schwester und ihn nach Mazar-e Sharif gebracht habe. Er habe ihnen die Mutter weggenommen. Sein Großvater habe gesagt, dass seine Mutter einen Onkel heiraten müsse, aber seine Mutter habe das nicht gewollt. Sein Großvater sei sehr stark gewesen und habe sie mit Hilfe von Soldaten seiner Mutter weggenommen. Dann sei seine Mutter nach Österreich gegangen und sie hätten keinen Kontakt mit ihrer Mutter haben dürfen. Mit seinem Onkel und seiner Großmutter hätten sie auch keinen Kontakt haben dürfen. Dann habe er die Schule beendet und sei nach Russland gegangen. Sein Großvater und sein Onkel hätten sie oft geschlagen. Als er von Russland zurückgekommen sei, habe er gesehen, dass es seiner Schwester sehr schlecht gehe. Sie sei oft geschlagen worden und hätte einen Bruder des Großvaters, der in Saudi-Arabien lebe, heiraten sollen. Der BF habe die Schwester da rausgeholt und nach Kunduz gebracht. Dann habe der Großvater beschlossen, dass er den BF und die Schwester umbringen werde. Der BF sei vier Tage in Kunduz verblieben und dann wieder nach Russland gegangen. Seine Schwester habe einen Cousin mütterlicherseits geheiratet und habe bis vor einem Jahr in Kunduz gelebt. Sie sei des Öfteren bedroht worden, bis sie beschlossen hätten, in die Türkei zu gehen. Im fünften Jahr seiner Ausbildung sei der BF nach Kunduz zurückgekehrt. Er sei von seinem Großvater bedroht worden und wegen der Arbeit sei sein Leben in Gefahr gewesen. Er habe die Minen geräumt und gesehen, dass die Arbeit sehr gefährlich sei. Einer der Kollegen sei getötet worden. Er habe für die das Verteidigungsministerium gearbeitet. Sein Onkel in Kunduz sei auch durch die Taliban bedroht worden. Weil er eine Ausbildung in Russland gemacht habe, hätte er mit ihnen zusammenarbeiten sollen, sonst würde er getötet werden. Sein Großvater habe Kontakte in Kabul und zu Generälen. Auch in Kunduz kenne er viele Leute. Überall kenne er Leute. Er könne nirgendwo in Afghanistan leben. Er habe auch mit der Hezb-e-Islami Kontakt. Einmal sei ein Taliban zu ihm ins Dorf gekommen. Er habe gesagt, er solle mitmachen oder er würde getötet werden. Es sei ein Doppelspion gewesen, der mit der Regierung und den Taliban gearbeitet habe. Er habe das den Vorgesetzten gemeldet und diese hätten gesagt, er solle in Kabul bleiben, aber dort sei kein Platz gewesen, wo er hätte leben können. Es habe finanzielle Schwierigkeiten gegeben und er habe keinen Ort zum Leben gehabt. Die Taliban hätten seinen Onkel 2015 bedroht. Er sei wegen dem Praktikum zwei Wochen dort gewesen und da wäre einerseits die Bedrohung durch die Taliban gewesen und dann auch durch den Großvater und den Beruf. All diese Gründe seien ausschlaggebend gewesen, dass er das Land verlassen habe. Aufgrund seines Arbeitsvertrages hätte er noch vier Jahre in Afghanistan arbeiten müssen. Er habe seinen Vorgesetzten von der Bedrohung erzählt, aber es habe nichts geholfen, sie hätten gesagt, er müsse tun, was im Bescheid stehe. Er habe die gefährliche Arbeit begonnen, weil er von seinem Großvater wegkommen habe wollen. Er habe sich nicht bei der Arbeitsstelle gemeldet und sei desertiert.
4. Am 12.06.2017 übermittelte der BF ein Schreiben, in dem er richtigstellte, dass er in Kabul geboren sei, und sein bisheriges Vorbringen - angereichert durch Details - wiederholte.
5. Mit beschwerdegegenständlichem Bescheid vom 11.08.2017, Zl. 1093993601 - 151724620, wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 und der Feststellung, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise des BF binnen 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt IV.).
In der Begründung des Bescheides traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Die vom BF angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes wurden als nicht glaubhaft erachtet. Dem BFA zufolge habe somit nicht festgestellt werden können, dass der BF in Afghanistan asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Der BF verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte in Kunduz und Mazar-e Sharif. Daher sei dem BF eine Rückkehr nach Kabul zumutbar. Eine Integrationsverfestigung des BF in Österreich habe nicht festgestellt werden können. Die Mutter des BF lebe zwar seit zehn Jahren in Österreich. Der BF lebe aber nicht mit ihr zusammen. Der Rest seiner Familie befinde sich in Afghanistan. Es bestünden auch sonst keine besonderen sozialen Kontakte, die den BF an Österreich binden würden.
6. Gegen den Bescheid vom 11.08.2017 erhob der BF, zu diesem Zeitpunkt vertreten durch Mag. Wolfgang AUNER, Rechtsanwalt in 8700 Leoben, mit Schreiben vom 28.08.2017 in vollem Umfang Beschwerde. Der Bescheid wurde wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, mangelhafter bzw. unrichtiger Bescheidbegründung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten. Im Rahmen der Einvernahme des BF habe es Probleme mit dem Dolmetscher gegeben, welche die Mutter des BF, die selbst Dolmetscherin sei, dezidiert wahrgenommen habe. Wenn die belangte Behörde feststelle, dass die Identität des BF nicht feststehen würde, werde entgegengehalten, dass der BF unter anderem seine Tazkira, Unterlagen betreffend sein Militärstudium in Russland und sein Schulzeugnis aus Afghanistan vorgelegt habe. Die zur Vorlage gebrachten Urkunden und Unterlagen seien zur Feststellung der Identität des BF jedenfalls geeignet. Auch hätte die in Mutter des BF, welche mittlerweile österreichische Staatsbürgerin sei, hierzu einvernommen werden müssen und werde daher ihre Einvernahme beantragt. Die Behauptung der belangten Behörde, wonach die Mutter des BF im Bundesgebiet lebe, seine Familie "jedoch" in Afghanistan sei, empfinde dieser als merkwürdig, da seine Mutter für ihn die Kernfamilie darstelle und zudem für ihn das Familienoberhaupt sei. Der Kontakt zu seiner Mutter sei ihm ab seinem 12. Lebensjahr vom Großvater gewaltsam entzogen worden. Der BF habe Österreich als Zielland ausgewählt, damit er die Nähe seiner Mutter wieder erleben, sie öfters sehen und ihre Mutterliebe wieder spüren könne.
Hinsichtlich des Asylvorbringens habe der BF bei seine Erstbefragung und bei seiner Asyleinvernahme seine Fluchtgründe im Wesentlichen ausführlich und wahrheitsgetreu dargestellt. Der BF habe im Schreiben vom 12.06.2017 seine Fluchtgründe genauer dargestellt und dieses Schreiben sei von der Behörde offensichtlich nicht bei der Entscheidung herangezogen worden. Zusammenfassend sei auszuführen, dass der BF angehender Offizier gewesen und sei in Russland studiert habe, weswegen er von den Taliban verfolgt werde. Er habe entgegen seines Vertrages sein Offiziersstudium nicht beendet und nicht in den Dienst der afghanischen Armee gestellt. Aufgrund der Sicherheitssituation beim Minenräumen in Kunduz habe er nicht mehr im Dienst der Armee stehen wollen. Auch würde sein Onkel väterlicherseits, mit dem Namen XXXX , ihn schwer schädigen oder töten, wenn er sich weiterhin in seiner Reichweite aufgehalten hätte. Sein Großvater, der Vater von XXXX , habe diesen dazu ermutigt. Es habe - teils massive - Gewalttätigkeiten in der Familie gegeben, unter denen die Schwester des BF gelitten habe, als der BF nach Russland gegangen sei, um seine Ausbildung zu absolvieren. Der BF habe seine Schwester letztlich aus der Familie "rausholen" und geheim zu der in Kunduz lebenden Großmutter bringen können. Der BF befürchte auch aufgrund der familiären Situation Widrigkeiten gegen Leib und Leben und rechne damit, vom Großvater getötet zu werden, weil er gegen dessen Anordnungen verstoßen und die Schwester entgegen dessen Willen weggebracht habe. Es werde darauf hingewiesen, dass die Weigerung einer Witwe ihren Schwager zu heiraten und sich der Entscheidung ihres Schwiegervaters zu entziehen, in der afghanischen Tradition eine Ehrverletzung darstelle und, um dieser Witwe zu schaden, würden ihre Kinder vom Ex-Schwiegervater in die Enge getrieben und schwer geschädigt, damit ihre Mutter "ewig darunter leide".
Auch könnte der BF entgegen den Feststellungen der Behörde keine Unterstützung durch das familiäre Netzwerk erhalten. Der BF wäre daher bei einer Abschiebung der Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle der Nummer 6 und Nummer 13 zur Konvention ausgesetzt zudem würde massiv in die Bestimmung des Art. 8 EMRK eingegriffen. Der BF weise auch gegenüber vergleichbaren Fällen bereits innerhalb kurzer Zeit eine entsprechende Integration im österreichischen Bundesgebiet auf. Er übe ehrenamtliche Tätigkeiten aus und sei der deutschen Sprache mittlerweile mächtig.
7. Mit Schreiben vom 01.08.2018 gab der bisherige Rechtsvertreter des BF die Auflösung der Vollmacht bekannt. Mit Schreiben vom 10.08.2018 gab der BF bekannt, dass er nunmehr von Rechtsanwalt Mag. Georg BÜRSTMAYR vertreten werde.
8. Mit Schreiben vom 18.10.2018 übermittelte der Rechtvertreter des BF eine Stellungnahme, in der ausgeführt wurde, dass der BF neben der Verfolgung durch die Taliban und der Bedrohung durch seinen Großvater auch eine hohe Freiheitsstrafe aufgrund der Desertion während eines Einsatzes befürchte. In diesem Zusammenhang wurde eine Arbeitsübersetzung der betreffenden Bestimmungen im afghanischen Militärstrafgesetzt vorgelegt. § 15 des genannten Gesetzes sehe für die Desertion im Militärdienst eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei und höchstens fünf Jahren vor. Fliehe ein Soldat während einer Reise, eines Krieges oder eines Kampfeinsatzes, so drohe ein -Freiheitsstrafe von mindestens 5 bis höchstens 15 Jahren. Unabhängig von den sonst im Verfahren geltend gemachten Fluchtgründen drohe dem BF aufgrund der Desertion im Strafverfahren und bei einer Verurteilung eine unbedingte Freiheitsstrafe. Dem aktuellen LIB sei in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass Häftlinge in afghanischen Gefängnissen gefoltert würden und die Versorgung im Allgemeinem unzureichend sei. Die Verbüßung einer Freiheitsstrafe würde angesichts der vorherrschenden Bedingungen in afghanischen Haftanstalten eine Verletzung der in Art. 3 EMRK bzw. Art. 44 GRC gewährleisteten Rechte darstellen und wäre dem BF aus diesen Gründen jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen.
Der Stellungnahme wurde ein Deutschzertifikat B1 angeschlossen.
9. Mit Stellungnahme vom 24.06.2019 wurde mitgeteilt, dass der BF zwischenzeitlich einen Deutschkurs auf dem Niveau B2 absolviere, an mehreren Workshops und Kursen teilgenommen habe und ehrenamtlich beim Wiener Hilfswerk tätig sei. Im Rahmen dieser Tätigkeit sei er u. a. einmal pro Woche beim Sprachen-Café und einmal pro Monat bei einem vom Hilfswerk organisierten Flohmarkt tätig. Auch arbeite der BF ehrenamtlich im Pflegewohnhaus XXXX . Entsprechende Bestätigungen wurden der Stellungnahme beigeschlossen. Zum Gesundheitszustand des BF werde vorgebracht, dass er seit ca. 3 Monaten eine Gesprächstherapie beim Verein Hemayat wahrnehme.
10. Mit Schriftsatz vom 13.01.2020 ergänzte der BF sein Vorbringen dahingehend, dass er aufgrund seiner Desertion von einem Ausbildungseinsatz auch Vergeltungshandlungen von Personen befürchte, darunter ein ranghoher General der afghanischen Armee, die für die Ausbildung des BF aufgekommen seien bzw. gebürgt hätten, und legte als neue Beweismittel Berichte von zwei Onkeln mütterlicherseits vor, die das bisherige Vorbringen des BF bestätigten. Gleichzeit wurde angekündigt, für die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die Mutter der BF als Zeugin stellig zu machen. Weiters vorgelegt wurde ein psychotherapeutischer Befundbericht des Vereins Hemayat, demzufolge der BF an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet.
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.01.2020 unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der BF ist am XXXX in Kabul geboren.
Der BF gehört der usbekischen Volksgruppe an und ist Moslem sunnitischen Glaubens.
Die Identität des BF steht fest.
Der BF hat ab seinem 2. Lebensjahr in XXXX in der Provinz Kunduz und ab seinem 12. Lebensjahr in Mazar-e Sharif gelebt. In Mazar-e Sharif schloss er eine höhere Schule ab. Nach der Matura lebte er fünf Jahre lang in XXXX , Russland, wo er eine militärische Ausbildung absolvierte.
Der BF spricht Usbekisch, Dari, Russisch, etwas Türkisch sowie Deutsch zumindest auf dem Niveau B1.
Der Vater des BF war Offizier der afghanischen Nationalarmee und ist vor ca. 25 Jahren im Einsatz getötet worden. Die Mutter des BF lebt in Österreich und ist österreichische Staatsbürgerin. Auch ein Halbbruder und der Stiefvater des BF leben in Österreich. Die Schwester des BF lebt in der Türkei. Der Rest der Familie, mit Ausnahme zweier Onkel und ihre Familie, die in Ungarn leben, lebt in Afghanistan in der Provinz Kunduz und in Kabul.
Der BF leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der BF kehrte 2015 aus Russland nach Afghanistan zurück, um im Rahmen seiner Ausbildung ein militärisches Praktikum zu absolvieren. Der BF wurde in Kunduz bei der Minenräumung eingesetzt, beendete diese Tätigkeit jedoch vorzeitig, weil sie ihm zu gefährlich war. Als ihm vom Militärkommando mitgeteilt worden war, dass er sich auf bestimmte Zeit zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet hätte, und er daher umgehend seinen Dienst wieder antreten müsse, verließ er Afghanistan und reiste nach Österreich.
Während des Praktikums in Kunduz wurde der BF von den Taliban aufgefordert, sich ihnen anzuschließen, und mit dem Tode bedroht. Auch ein Onkel mütterlicherseits des BF wurden wegen der Tätigkeit des BF für das Militär von den Taliban bedroht.
Im Sommer 2013, als der BF in Afghanistan auf Urlaub war, befreite er seine Schwester aus der Gewalt seines Großvaters väterlicherseits, der die Schwester nach Saudi-Arabien zwangsverheiraten wollte, wodurch der Schwester schließlich die Flucht in die Türkei gelang. Dies und der Umstand, dass verschiedene, seinem Großvater väterlicherseits nahestehende Personen, darunter ein ranghoher General, für die Militärausbildung des BF bürgten und nunmehr wegen der Desertion des BF mit hohe Geldforderungen konfrontiert sind, führte dazu, dass der BF von seinem Großvater und den ihm nahestehenden Personen mit dem Tod bedroht wird. Der Einflussbereich des Großvaters und ihm nahestehender Personen erstreckt sich auf alle Landesteile Afghanistans sowie auf die afghanischen Sicherheitsbehörden. Dem BF stünde vor der (asylrelevanten) Verfolgung durch die Taliban keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, in welcher er keine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten zu befürchten hätte.
Dass der BF aufgrund der von seinem Großvater ausgehenden Bedrohung aus Gründen der GFK verfolgt wird, konnte nicht festgestellt werden.
Gleiches gilt für die dem BF aufgrund seiner Desertion drohenden Gefahren.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit
29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)
2016 2017 2018 2019
Jänner 2111 2203 2588 2118
Februar 2225 2062 2377 1809
März 2157 2533 2626 2168
April 2310 2441 2894 2326
Mai 2734 2508 2802 2394
Juni 2345 2245 2164 2386
Juli 2398 2804 2554 2794
August 2829 2850 2234 2443
September 2493 2548 2389 -
Oktober 2607 2725 2682 -
November 2348 2488 2086 -
Dezember 2281 2459 2097 -
insgesamt 28.838 29.866 29.493 18.438
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019)
Jahr Tote Verletzte Insgesamt
2009 2.412 3.557 5.969
2010 2.794 4.368 7.162
2011 3.133 4.709 7.842
2012 2.769 4.821 7.590
2013 2.969 5.669 8.638
2014 3.701 6.834 10.535
2015 3.565 7.470 11.035
2016 3.527 7.925 11.452
2017 3.440 7.019 10.459
2018 3.804 7.189 10.993
2019* 2.563* 5.676* 8.239*
Insgesamt 32114 59561 91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o. D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in