TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/29 W173 2187888-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.11.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.11.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W173 2187888-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Migrantinnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.1.2018, Zl. 1102700709 - 160094765, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 4.11.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer XXXX (in der Folge BF) reiste illegal in Österreich ein und stellte am 19.1.2016 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

2. Bei der am 19.1.2016 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Tirol gab der BF an, er sei am XXXX geboren und habe in der Provinz Laghman gelebt. Er sei sunnitischen Glaubens und habe als Hilfsarbeiter am Bau gearbeitet. Er sei mit

XXXX ( XXXX Jahre) verheiratet und habe drei Kinder. Über seinen Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass es in seiner Familie seit über 15 Jahren Probleme mit anderen Leuten aus dem Dorf gebe, bei denen es um Ländereien und Blutrache gehe. Nachdem bereits 6 Leute von seiner Familie getötet worden seien, habe er nicht gewusst, wann er an die Reihe komme. Er habe Angst vor dieser Feindschaft und fürchte um sein Leben. Sein Bruder XXXX , den er seit 7 Jahren nicht mehr gesehen habe, lebe in Europa.

3. Am 19.1.2018 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Burgenland, niederschriftlich einvernommen. Der BF legte diverse Dokumente zu seiner Identität und Herkunft, darunter Führerschein und Geburtsurkunde in Kopie vor. Ebenso wurden Geburtsurkunden seiner Ehegattin und seiner drei Kinder - allesamt in Kopie - vorgelegt. Ferner wurden Integrations- und Sprachkursbesuchsbestätigungen vorgelegt. Dienstausweise wurden im Original vorgelegt. Seinen Dokumenten zufolge sei der BF am XXXX geboren. Er sei sunnitischen Glaubens und seit 2010 verheiratet. In Afghanistan sei seine Adresse im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman gelegen. Er habe bis zur Ausreise seinen Aufenthalt, mit Unterbrechungen, im Iran gehabt.

Der BF gab an, er habe in der Erstbefragung alles genannt und die Wahrheit gesprochen. Die Erstbefragung sei ihm aber nicht rückübersetzt worden. Er habe die Dolmetscherin gut verstanden, obwohl die Sprache Paschtu gewesen sei. Auf den Vorhalt, dass er die Rückübersetzung mit mehrfacher Unterschrift bestätigt habe, gab der BF an, dass er dabeibleibe, dass sie ihm nicht rückübersetzt worden sei. Auf den Vorhalt, dass sein damals genanntes Geburtsdatum von jenem der vorgelegten Dokumente abweiche, gab der BF an, damals die Tazkira nicht bei sich gehabt und sein Geburtsdatum nicht gewusst zu haben. Er sei sunnitischer Moslem. Auf den Vorhalt, warum er sein Geburtsdatum nicht nennen habe können, obwohl dies auch in den vorgelegten Dienstausweisen und dem Führerschein aufscheine, gab der BF an, dass er damals einfach zu müde gewesen sei. Er habe nie in einem Konflikt gekämpft, sondern sei nur Soldat gewesen. Er sei Sanitäter gewesen und habe Munition transportiert. Von 2012 bis 2015 sei er Soldat gewesen. Wegen Probleme am linken Ellbogen sei er seit 2013 als Fahrer bei der Nationalen Sicherheit beschäftigt gewesen. Er habe den Vorsitzenden XXXX und seine Soldaten chauffiert. In Afghanistan habe er als Soldat gearbeitet. Auf den Vorhalt, dass er in der Erstbefragung angegeben habe, als Hilfsarbeiter am Bau gearbeitet zu haben, gab der BF an, dass dies im Iran gewesen sei. Er sei nicht durchgehend im Iran gewesen und sei immer wieder abgeschoben worden. Das sei vor seiner Soldatenlaufbahn gewesen. Genauer könne er es nicht sagen. Von 1998 bis 2008 habe er die Schule besucht. Danach habe er bis 2012 nichts gearbeitet. Sein Bruder habe für ihn gesorgt. Sie hätten zu Hause Angestellte gehabt, die für seine Familie landwirtschaftliche Tätigkeiten ausgeführt hätten. Sie hätten ca. 10 Hektar Weizen-, Mais- und Riesfelder gehabt. Sein älterer Bruder XXXX habe ein Lebensmittelgeschäft gehabt. Sein Vater sei schon lange tot. Nach der Schule 2008 sei er in den Iran geflüchtet. Er sei nie in relevanter oder dauernder ärztlicher Behandlung gestanden, sondern sei immer gesund gewesen. Er brauche auch keine medizinische Behandlung.

Er sei mit XXXX verheiratet, die ungefähr XXXX Jahre alt sei. Mit ihr habe er drei Kinder namens XXXX , XXXX und XXXX . Seit ca. 2010 sei er verheiratet. Dazu verwies der BF auf die Heiratsurkunde. Seine Schwestern seien bereits verheiratet und würden in anderen Gebieten leben. Seine Mutter, seine Frau und seine Kinder würden im Haus seines verstorbenen Schwiegervaters in Jalalabad leben. Sein Schwager und auch sein in Österreich lebender Bruder XXXX würden für sie sorgen. Sein Schwager arbeite in der Regierung bei der Nationalen Sicherheit.

Der BF habe mit seiner Familie in seinem Elternhaus in Laghman, XXXX gelebt. Seit seiner Geburt - mit Unterbrechungen im Iran - habe er bis ca. fünf Tage vor seiner Ausreise in seinem Elternhaus in Laghman XXXX gelebt. In diesen fünf Tage habe er sich im Haus seines Schwiegervaters aufgehalten. Das sei in der Zeit des Opferfestes 1394 (23.-27.9.2015) gewesen. Dann sei er nach Österreich geflohen.

Er habe noch zwei Onkel väterlicherseits in Afghanistan. Diese seien wegen Streitigkeiten mit ihren Feinden und dem Tod einer Frau angezeigt und inhaftiert worden. Dann habe er noch vier Tanten mütterlicherseits und zwei Tanten väterlicherseits. Er habe noch elf Cousins von seinen Onkeln väterlicherseits und die Anzahl seiner Cousins mütterlicherseits wisse er nicht. Die Getreidefelder in Afghanistan würden ihnen allen gehören und seine Mutter kümmere sich darum. Im Iran habe er einmal ein Jahr durchgehend und sonst ein paar Monate gelebt, wo er als Bauarbeiter gearbeitet habe. Neben einer 10-jährigen Schulbildung habe er eine militärische Ausbildung und verfüge über Erfahrung als Hilfsarbeiter am Bau. In Österreich lebe sein Bruder XXXX mit seiner Familie.

Wegen seiner Feinde habe er einen Asylantrag gestellt. Zwei Onkel väterlicherseits, zwei Cousins väterlicherseits, sein Bruder und ein Onkel mütterlicherseits seien wegen dieser Feindseligkeiten getötet worden. Bei der letzten Auseinandersetzung sei eine Frau getötet und zwei Onkel väterlicherseits inhaftiert worden. Deswegen habe er auch Angst gehabt und sei geflüchtet. Die Feindseligkeiten würden seit 2002 bestehen. Begonnen habe es damit, dass sein Cousin väterlicherseits die Tochter des XXXX (der Stiefonkel seiner Mutter) heiraten haben wollen. Dieser habe das aber nicht erlaubt. Das hätten ihm sein Cousin und dessen Vater übelgenommen. Ein Onkel, der Bruder des Vaters seines Cousins, sei aber mit diesem in Streit um ein Grundstück geraten. Er sei zuXXXX gegangen, von dem er bzw. dessen Söhnen Waffen erhalten hätten, um den Cousin und dessen Vater zu töten. Sein Cousin habe daher einen Sohn des XXXX getötet. Es sei um ein Grundstück gegangen, auf dem jeder der beiden ein Haus habe erreichten wollen. Es sei zur Zeit der Taliban gewesen und da habe es kein Gericht gegeben, das darüber entscheiden hätte können. Nach dem Tod des Sohnes von XXXX seien die Söhne von XXXX morgens gekommen und hätten seinen Onkel, zwei Cousins und einen Onkel mütterlicherseits getötet und den Bruder des BF ( XXXX ) mit einem Pistolenschuss am Arm verletzt. Dann sei ein zweiter Onkel väterlicherseits und danach der ältere Bruder des BF ( XXXX ) getötet worden. Seine Familie habe auch sechs Personen aus der Familie von XXXX getötet. Der BF sei nicht beteiligt gewesen, weil er zu jung gewesen sei.

Danach sei er in den Iran geflüchtet und nach seiner Abschiebung nach Afghanistan wieder in den Iran zurückgekehrt. Auf den Vorhalt, in den 15 Jahren nicht andauernd auf der Flucht und von 2012 bis 2015 beim Militär gewesen zu sein, wobei er in diesen Jahren ungehindert in seinem Haus gelebt habe, gab der BF an, dass er in diesen vier Jahren nicht bedroht worden sei. Er sei erst 2015 geflohen. Sein Onkel mütterlicherseits sei ein Soldat gewesen und sei von den Taliban erschossen worden. Sie hätten die Trauerfeier vorbereitet, als ihre Feinde sie in der Früh angegriffen hätten. Alle hätten geschossen, wobei eine Nachbarsfrau und eine Nichte von XXXX , ums Leben gekommen. Sie seien geflüchtet und ihr Haus sei von XXXX in Brand gesetzt worden. Die Polizei habe dann seine beiden Onkel inhaftiert. Der BF sei hingegen zum Schwiegervater und weiter nach Europa geflohen. Auf den Vorhalt, so lange unbehelligt geblieben zu sein trotz der behaupteten Gefahr seit 15 Jahren, gab der BF an, dass sie ihn vielleicht einfach nicht erwischt hätten und oder keine Gelegenheit dazu gehabt hätten. Während seiner Militärzeit sei er nicht so oft nach Hause gekommen und habe oft bei einem Schwager übernachtet. Dem Vorhalt, seine Frau, seine Mutter, seine Kinder und Geschwister hätten ungefährdet weiterhin in Laghman leben können, entgegnete der BF, dass Frauen in Ruhe gelassen werden würden. Aus finanziellen Gründen habe er sie nicht mitnehmen können. Selbst in einer anonymen Millionenstadt wie Kabul ohne Meldesystem seien nach Ansicht des BF die Taliban überall. Außerdem sei er beim Militär gewesen. Er hätte überall Probleme.

Dass sein Bruder XXXX anlässlich seiner Einvernahme beim Asylgerichtshofs am 17.7.2013 auf Befragung zu seinen Fluchtgründen aus seinem Herkunftsstaates angegeben habe, für ihn würden Fluchtgründe nach der GFK derzeit nicht mehr bestehen, und sogar bei den angeblichen miterlebten Streitigkeiten die erlittene Schusswunde bei der Befragung durch den Asylgerichtshof nicht erwähnt habe, glaubte der BF nicht. Der BF vertrat die Meinung, dass er vielleicht verrückt geworden sei. Weitere Gründe würden bei ihm für die Flucht nicht bestehen.

Bei einer Rückreise nach Afghanistan würden ihn die Feinde oder die Taliban töten. Wenn er die geschilderten Probleme wegen der Grundstücksstreitigkeiten und der Feindseligkeiten nicht hätte, würde er in Afghanistan leben können und wollen. Im Hinblick auf die vorgehaltenen Länderberichte verzichtete der BF auf eine Stellungnahme. Im vorgelegten Empfehlungsschreiben seines sich in Österreich aufhaltenden Bruders (XXXX), dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, wurde aufgeführt, dass der BF oft zu ihm komme und ihm helfe. Als netter Onkel spiele der BF mit seinen Kindern, die ihn lieben würden. Im Zuge der Einvernahme wurden vom BF Führerschein, Geburtsurkunden von sich und seiner Familie, Dienstausweise, Fotografien, ein Zertifikat ÖSD A1 vom 21.21.2017, eine Teilnahmebestätigung für einen Wertekurs und Empfehlungsschreiben vorgelegt.

4. Mit Bescheid vom 26.1.2018, Zl. 1102700709 - 160094765, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkte III., IV. und V.). Weiters wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Im Bescheid traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Die vorgebrachten Fluchtgründe und die diesbezüglich gemachten Angeben des BF seien nicht glaubhaft. Der BF sei persönlich nicht glaubwürdig. Der BF habe 15 Jahre in Afghanistan trotz der behaupteten Bedrohungen unbehelligt leben können, obwohl er während seines dortigen Aufenthalts jederzeit zu finden gewesen wäre. Auch sein Bruder (XXXX) habe bei seiner Einvernahme vor dem Asylgerichtshof (17.7.2013) vom Fehlen einer individuellen asylrelevanten Verfolgungsgefahr in Afghanistan gesprochen. Er habe lediglich angegeben, dort nicht mehr leben zu können, da bereits sechs Familienmitglieder dort ums Leben gekommen seien und die Sicherheitslage äußerst schlecht sei. Der Bruder habe mit keinem Wort Blutrache, Überfälle oder eine Verletzung durch Schusswaffen erwähnt. Es habe sich außerhalb des Vorbringens kein für den BF in Betracht kommender konventionsrelevanter Sachverhalt ergeben. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei dem BF als jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann möglich und zumutbar. Seine Krenfamilie lebe in Afghanistan und verfüge über Besitz. Zwar lebe der Bruder des BF in Österreich. Zu diesem habe der BF keinen engen sozialen bzw. familiären Kontakt. Hingegen lebe seine Krenfamilie in Afghanistan. Der BF befinde sich in Grundversorgung und finanziere sich seinen Lebensunterhalt ausschließlich aus der staatlichen Unterstützung. Er habe keine engen sozialen Kontakte und sei auch sonst nicht nachhaltig integriert. Umstände, die einer Rückkehrentscheidung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan entgegenstehen, beziehungsweise diese als unverhältnismäßig erscheinen lassen würden, hätten nicht festgestellt werden können.

5. Mit Verfahrensanordnung vom 30.1.2018 wurde dem BF die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberatung amtswegig zur Seite gestellt.

6. Mit der am 22.2.2018 datieren Beschwerde, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, bekämpfte der BF alle Spruchpunkte des Bescheides vom 26.1.2018. Es würden inhaltliche Rechtswidrigkeit und die Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegen. Der BF sei wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und aus politischen/religiösen Gründen verfolgt. Einerseits sei der BF aufgrund einer jahrelangen Blutrache zwischen seiner Familie und einer benachbarten Familie, mit dem Umbringen bedroht, andererseits gehe eine Bedrohung des BF auf seiner Tätigkeit für die afghanische Armee zurück. Vor den Verfolgungshandlungen den BF zu beschützen, sei die afghanischen Behörden weder in der Lage noch willig gewesen.

Die Behörde würde dem Vorbringen des BF die Glaubwürdigkeit absprechen, zumal keine ausreichend emotionale Schilderung erfolgt sei und der Bruder des BF nichts davon erzählt habe. Diese Erklärungen der Behörde seien nicht nachvollziehbar. Die Behörde würde nur in tendenziös Textausschnitte herausklauben, die ihrer Argumentation zuträglich seien. Abgesehen von der bestehenden Glaubwürdigkeit des BF, dessen Angaben ausführlich und konkret seien, gehe die Bedrohungslage aus den Länderberichten hervor. Die vorgelegten Beweismittel seien nicht untersucht worden. Der Bruder des BF habe wohl persönliche Gründe gehabt, die Blutrache nicht in seinem Verfahren anzusprechen. Auch der Verfolgung von privaten Personen und privaten Gruppierung komme Asylrelevanz zu. Die staatlichen Behörden seien jedenfalls schutzunfähig und schutzunwillig. Es fehle auch an Vertrauen in der Bevölkerung.

Darüber hinaus werde auf die UNHCR-RL bezüglich afghanischer Flüchtlinge verwiesen. Der BF sei zudem gefährdet, wegen seines langjährigen Auslandsaufenthaltes als "verwestlicht" angesehen zu werden. Die belangte Behörde hätte auch Recherchen im Heimatland des BF vornehmen können. Die Lage in der Heimatprovinz des BF sei äußerst prekär. Ebenso würden sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan zunehmen und habe sich verschlechtert. Es würde die Zahl der Binnenflüchtlinge steigen. Allenfalls sei dem BF aufgrund der Lage in seiner Herkunftsprovinz und mangelnder familiärer Unterstützung subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

Der BF habe darüber hinaus sich in der Zeit seines Aufenthaltes in Österreich intensiv um seine Integration bemüht, die deutsche Sprache in bereits beeindruckendem Ausmaß erlernt und soziale Kontakte geknüpft, die ihm bei seiner weiteren Integration sehr behilflich sein würden. Er sei arbeitsfähig und -willig sowie unbescholten. Die Ausweisung stelle daher einen Widerspruch zu Art. 8 sowie Art. 2 und 3 EMRK dar. Der Beschwerde wurde eine Vollmachtserklärung für den Migrantinnenverein St. Marx angehängt.

7. Am 12.3.2019 wurde der BF wegen des Verdachts auf beharrliche Verfolgung zum Nachteil von Frau XXXX als Beschuldigter einvernommen. Am 13.3.2019 wurde der BF wegen Gefahr im Verzug und zur Aufrechterhaltung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit in eine andere Unterkunft von XXXX verlegt. Mit Schreiben vom 29.3.2019 wurden vom BF eine Teilnahmebestätigung der Burgenländischen Volkshochschulen vorgelegt, wonach der BF seit Jänner 2019 an einem Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses teilnehme.

8. Am 13.6.2019 wurde der BF durch das LG Eisenstadt wegen des Vergehens der beharrlichen Verfolgung nach § 107a Abs. 1 und Abs.2 Z 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Begründend wurde ausgeführt, dass der BF die am XXXX geborene XXXX im Zeitraum von September 2018 bis zum 10.1.2019 in XXXX , XXXX und andernorts beharrlich verfolgt hat. Das Urteil erwuchs in Rechtskraft.

9. Mit Schriftsatz vom 21.8.2019 brachte der BF, vertreten durch en Rechtsanwalt Dr. Alois Eichinger, ein Fristsetzungsantrag sowie ein Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe für Gebühren ein. Mit 30.8.2019 datierten Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs wurde dem BF Verfahrenshilfe gewährt und mit verfahrensleitender Anordnung das Bundesverwaltungsgericht aufgefordert, binnen 3 Monaten die Entscheidung zu erlassen.

10. Nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung durch das Bundesverwaltungsgericht für 4.11.2019 unter Einräumung einer Stellungnahmefrist zu den aktuellen Länderberichten wurde vom BF mit Stellungnahme vom 28.10.2019 vorgebracht, dass die Sicherheitslage Afghanistans eine tiefgreifende Verschlechterung erfahren habe. Aus dem LIB vom 4.6.2019 gehe die katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage, die mangelnde Effizienz und Durchschlagskraft der Zentralbehörden hervor, sodass der BF keinen Schutz erfahre.

Auch anhand der Risikoprofile aus der UNHCR Richtlinie vom 30.8.2018 zeige sich, dass der BF sich von der Masse der Bevölkerung abhebe und dadurch kein sicheres Leben in Afghanistan führen könne. Die Sicherheitslage sei sehr instabil. Kabul komme nicht mehr als eine Fluchtalternative in Frage. Ebenfalls sei es nicht möglich, in Herat eine Erwerbstätigkeit zu finden, was aus einem 2012 veröffentlichten Bericht des Norwegian Refugee Council (NRC) und der Joint IDP Profiling Service (IPS) ergehe. Erschwerend sei auch der bedenkliche Umfang der Nahrungsmittelversorgung in Herat. Auch Balkh/Mazar-e Sharif sei von der mangelhaften Nahrungsmittelversorgung schwer getroffen. Auch sei laut UNHCR der Zugang zum Arbeitsmarkt sehr eingeschränkt und fehle es Binnenvertriebenen und Rückkehrern häufig an notwendigen Fähigkeiten für die Arbeitsplätze, die in den Gebieten, in die sie vertrieben worden seien, verfügbar seien. Eine Rückschiebung des BF in seine Heimatregion sei nicht möglich. Wegen der drohenden unmenschlichen Behandlung in alternativ genannten Städte könne der BF nicht in diese Städte verwiesen werden.

Aus dem Gutachten Strahlmann ergehe weiters, dass junge afghanische Männer eher der Gefahr ausgesetzt seien, Opfer von Morden durch terroristische Gruppierungen zu werden. Eine pauschalierte Behauptung, man sei als junger Mann keiner Gefahr ausgesetzt, sei nicht gerechtfertigt. Weiters erkenne man aus dem Gutachten sehr deutlich, dass ausgerechnet junge Menschen sowohl von der Regierungsseite aus auch von der Nicht-Regierungsseite konstant ausgenutzt werden würden. Sie seien Zwangsrekrutierungen ausgeliefert. Die BF sei als ein junger Mann einzustufen. Insbesondere seien Menschen ohne familiäres Auffangnetz dieser Gefahr ausgesetzt.

Wie aus dem erklärten Sachverhalt deutlich sei, unterliege der BF dem Risiko der Blutrache und werde daher aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt. Auch würde der BF als verwestlicht angesehen werden. Der BF habe während seiner Zeit zwar nicht die Heimatsprache verlernt, aber er habe einen Akzent entwickelt, der innerhalb der Bevölkerung in Afghanistan erkennbar sei. Darüber hinaus habe er die Werte der Demokratie gelernt und anerkannt. Dies sei Afghanistan nicht in diesem Ausmaß gegeben. So sei der BF, nachdem er die österreichischen Werte und die österreichische Kultur kennenlernen habe dürfen, kritisch gegenüber den konservativ-islamischen Werten Afghanistan geneigt. Der BF traue sich auch dies Kritik offen auszusprechen. Insbesondere habe der BF gelernt, dass es sehr wohl möglich sei, mit Andersdenkenden (Atheisten, Agnostikern, gläubigen Christen, Juden oder Moslems) zusammenzuleben und respektvolle Toleranz zu haben. Auch wenn der BF die Gepflogenheiten Afghanistans nicht vollständige verlernt habe, so sei er dennoch in einer Situation, in der er jene Gepflogenheiten nicht mehr folgen wollen würde und teilweise sogar ablehnend gegenüberstehe. Selbst wenn diese "verwestlichte" Einstellung aus Sicht einer "westlichen Person" noch keine Verwestlichung darstelle, so stelle sie dennoch im Verhältnis und aus der Sicht der afghanischen Bevölkerung eine eindeutige Verwestlichung dar. Es bestehe die Gefahr einer Verfolgung des BF aufgrund seiner westlichen Lebensausrichtung, die sich in seiner tiefen Integration in Österreich und einer Annahme der österreichischen Lebensart zeige, die der konservativ-islamischen Gesellschaftsordnung in Afghanistan widerspreche. Der BF würde daher bei einer Rückführung in seinen Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK verletzt. Der BF verfüge über keine Familienangehörige in Afghanistan, auf die er zurückgreifen könne und besitze keine Mittel, um zumindest vorläufig menschliche Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Der BF laufe Gefahr, in eine aussichtlose Lage zu geraten.

Zur Frage der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sei darauf hinzuweisen, dass der BF in seiner Zeit in Österreich große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen, die deutsche Sprache erlernt und soziale Kontakte entwickelt habe. Der BF sei ebenso arbeitsfähig wie arbeitswillig.

12. Am 4.11.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, dessen rechtlicher Vertretung, der Vertrauensperson XXXX (Bruder des BF) und einem Dolmetscher für die Sprache Paschtu durch. Der BF gab an, bei den bisherigen Einvernahmen wäre für ihn alles in Ordnung gewesen. Er habe alles verstanden. Die Protokolle seien rückübersetzt worden. Sein Geburtsdatum sei der XXXX . Zum in Erstbefragung von ihm angegebenen anderslautenden Geburtsdatum ( XXXX ) verwies der BF auf die fehlende Tazkira. Die habe er erst bei seiner Einvernahme bei der belangten Behörde vorgelegen können. Danach sei er am XXXX geboren. Er sei afghanischer Staatsbürger, geboren in der Provinz Laghman,

XXXX , im Dorf namens XXXX . In seinem Heimatdorf sei er auch aufgewachsen. Sonst habe er eine längere Zeit in Kabul gelebt, weil er dort für die Regierung gearbeitet habe. Er sei bis zu seiner Flucht immer in seinem Heimatdorf und nur in Kabul gewesen, außer seiner Zeit im Iran, die er im Zeitraum von ca. 2008 bis 2012 verbracht habe. Er sei wegen seiner Feinde in den Iran geflohen. Während dieses Zeitraums sei er nach Afghanistan abgeschoben worden und wieder in den Iran eingereist. Drei- oder vier Mal sei er vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden.

Als er 2012 wieder nach Afghanistan abgeschoben worden sei, habe er nicht noch einmal in den Iran zurückkehren können, da ihn die iranischen Behörden bzw. Soldaten mehrmals geschlagen hätten. Er sei nicht mehr ins Heimatdort zurückgekehrt, sondern habe dann in Kabul bei der Nationalarmee gearbeitet. Er sei nur mehr einmal in sein Heimatdorf zurückgekehrt, nämlich 2015 anlässlich des Begräbnisses seines Onkels im Heimatdorf. In sein Heimatdorf habe er wegen der Feinde nicht zurückkehren können.

Er habe als Soldat in einer Militärkaserne in Kabul gewohnt, während seine Familie einschließlich seiner Krenfamilie in Jalalabad gelebt habe. Auf die Frage, ob seine Familie im Heimatdorf Besitztümer gehabt habe, wovon sie gelebt und wer sie ernährt habe, sprach der BF von einem Elternhaus und auch von Grundstücken im Heimatdorf, die von Bauern bewirtschaftet worden seien, während er in Kabul gewesen sei. Das Familienhaus sei aber 2015 am Tage des Begräbnisses seines Onkels und des Opferfestes von den Feinden verbrannt worden. Als er wegen des Begräbnisses im Heimatdorf gewesen sei, hätten die Feinde sie angegriffen und das Haus in Flammen gesetzt. Während dieser Auseinandersetzung sei eine Nachbarin, die Nichte ihrer Feinde, erschossen und zwei seiner Onkel deswegen eingesperrt worden. Der BF und seine Kernfamilie (Ehefrau und drei Kinder) hätten das Heimatdorf aber unverletzt verlassen können. Seine Familie sei wieder nach Jalalabad und er sei nach Kabul zurückgekehrt. Von dort sei er dann im Winter geflohen.

In der Folge korrigierte der BF seine Aussage zu seinem Fluchtausgangspunkt und gab nunmehr an, dass seine Dienststelle zu dieser Zeit in XXXX , in der Provinz Laghman, gewesen sei, wo er bei der Sicherheitsbehörde als Autolenker gearbeitet habe. Er sei auch von dort aus geflohen. Er sei nämlich von 1391 bis 1392 bei der Nationalarmee und danach bis zu seiner Flucht bei der nationalen Sicherheitsbehörde gewesen. Nach dem Vorfall mit dem Haus sei er noch ein bis zwei Monate bei seiner Dienststelle gewesen, bevor er geflohen sei. Die Flucht nach Österreich habe drei Monate gedauert.

Er gehöre zur Volksgruppe der Pashaie. Seine Muttersprache sei Pashaie. Er spreche aber auch Paschtu, Dari, Frasi und ein wenig Deutsch. Er sei sunnitischer Moslem. Er habe zehn Jahre die Schule in der Nähe seines Heimatdorfes besucht. Er sei bis 2008 in der Nähe seines Heimatortes in die Schule gegangen. Er habe keine offizielle Berufsausbildung erfahren, aber im Iran im Baubereich das Fliesenlegen gelernt, bevor seine Arbeit für die Regierung begonnen habe. Nach einer zweimonatigen Ausbildung habe er in der Militärakademie namens "Marschall Fahim" eine Dienststelle als Soldat bekommen, wobei er als Wache gearbeitet habe und in der Militärakademie gewohnt habe. Seine Familie in Jalalabad habe er sporadisch alle sechs Monate besucht.

Sein Vater sei lange verstorben, seine Mutter lebe in Jalalabad. Zwei Schwestern würden noch in Afghanistan leben. Ein Bruder, der ihn zur Verhandlung begleitet habe, lebe in Österreich. Sein anderer Bruder sei 2007 von den Feinden getötet worden. Sein Bruder sei in der Provinz Laghman im Bezirk Ali Sheng auf einem Hügel getötet worden. Der BF und seine gesamte Familie hätten damals im Heimatdorf gelebt. Sein Bruder habe nach Kabul fahren wollen und sei auf dem Weg dorthin festgenommen und von ihren Feinden getötet worden. Das wisse er vom Feind namens XXXX .

Zuvor seien bereits seine zwei Onkel väterlicherseits, seine zwei Cousins väterlicherseits und ein Onkel mütterlicherseits durch XXXX getötet worden. Das sei 2002 gewesen und habe sich in seinem Heimatdorf ereignet, wobei der BF nicht dabei gewesen. Es sei wegen der Ehre gewesen. Ein Mädchen, die Tochter von ihrem Feind XXXX , sei von seinem Cousin geliebt worden. Der Vater ( XXXX ) sei aber dagegen gewesen. Sein Cousin habe daraufhin den Bruder von diesem Mädchen getötet. Dadurch sei die Feindschaft entstanden. Nach einem Krankenhausaufenthalt sei seine Leiche in das Heimatdorf des Feindes XXXX namens XXXX in einen Laden gebracht worden. Danach sei den Familienmitgliedern des BF eine Falle gestellt worden. In der Früh, bei der Frühgebetszeit, seien seine zwei Cousins erschossen und sein Bruder ( XXXX ), welcher den BF zur Verhandlung begleitet habe, sei zwar im Armbereich verletzt worden. Er habe aber überlebt. Der BF sei klein gewesen und habe keine Schäden davongetragen. Der BF führte dazu aus, dass sein Onkel väterlicherseits bei diesem Vorfall in der Moschee gewesen. Als er die Schießerei gehört habe, sei er rausgekommen und habe zwei Leichen am Boden liegend gesehen. Sein Onkel habe die Leichen nach Hause bringen wollen und sei auch erschossen worden. Sein Onkel mütterlicherseits sei auch am gleichen Tag getötet worden, weil zwischen ihnen und unseren Feinden eine Schießerei begonnen habe, die ca. bis 13:00 Uhr gedauert habe.

Auf die Frage, ob er das alles vom Hörensagen wisse, gab der BF nunmehr an, dass er das alles mit seinen eigenen Augen gesehen habe. Zum Vorhalt zu Hause gewesen sei, gab der BF an, dass die Gegner das Haus gestürmt hätten. Nach dem Vorfall 2002 hätten die Weißbärtigen und Dorfhäuptlinge diese Auseinandersetzung beendet. Es sei dann Ruhe gewesen bis 2005 sein Onkel väterlicherseits, auch ein Weißbärtiger, als Vorarbeiter eines Straßenbauprojektes ca. zwischen 08:00 und 09:00 Uhr auf dem Weg zur Arbeit erschossen worden sei.

Als 2002 zwei seiner Onkel väterlicherseits getötet worden seien, hätten seine Cousins väterlicherseits aus Rache zwei Söhne des Gegners getötet. Insgesamt seien 2002 vier Personen ums Leben gekommen. Von 2002 bis 2005 sei es ruhig gewesen, bis 2005 sein zweiter Onkel - der Weißbärtige - getötet worden sei. 2007 sei dann sein Bruder auf dem Weg nach Kabul durch einen Polizisten festgenommen und an ihren Feind übergeben worden. Danach sei er auf einem Berg, in der Nähe ihres Heimatdorfes, erschossen worden. Der letzte Vorfall habe sich 1394 (2015) beim Begräbnis seines Onkels mütterlicherseits im seinem Heimatdorf ereignet. Ihre Feinde hätten sie angegriffen und ihr Haus in Flammen gesetzt.

In den Jahr 2007 bis 2015 habe Ruhe geherrscht, weil sein Bruder ( XXXX ) nach Europe gegangen und der BF im Iran gewesen sei. Kurz nach 2007 oder 2008 sei sein Bruder nach Europa und 2008 sei er in den Iran geflohen. Auch sein Onkel väterlicherseits sei dort gewesen. Der BF sei noch sehr klein gewesen. Während seines Aufenthalts im Iran habe sich der Rest seiner Kernfamilie (Mutter und Schwestern) in Kabul aufgehalten. Immer wenn der BF abgeschoben worden sei, sei er rund ein Monat in Kabul geblieben und dann wieder in den Iran zurückgekehrt, wo er Fliesen gelegt habe.

Er sei seit XXXX mit XXXX verheiratet und habe drei Kinder. Sein Sohn heiße XXXX ( XXXX ), seine Tochter heiße XXXX (ca. XXXX ) und sein jüngster Sohn heiße Ilham (ca. XXXX ). Seiner sich in Jalalabad befindenden Familie gehe es gut. Er habe einmal wöchentlich Kontakt mit ihnen. Er habe es sich nicht leisten können, seine Familie aus Afghanistan mitzunehmen. Seine Mutter und seine Frau mit den Kindern leben bei seiner Schwiegerfamilie. Das Geld reiche für alle.

Sein Bruder ( XXXX ) sei derzeit in Österreich arbeitslos und besuche einen Deutschkurs vom AMS. Zur Finanzierung seiner Familie in Afghanistan gab der BF an, dass seine Mutter einerseits einen Teil von der Ernte ihrer Grundstücke bekomme und auch vom Schwager unterstützt werde. Die Frauen seien meistens zu Hause und hätten keine Ahnung, was da draußen passiere. Er meine damit, dass die Frauen keinen Kontakt mit Männern draußen hätten. Da seine Schwiegerfamilie nicht von seiner Volksgruppe abstamme - sie seien Paschtunen - würden sie seiner Frau und auch meiner Mutter nicht so viel erzählen. Sie würde aber allein in einem Haus in Jalalabad leben. Seine vier Schwestern seien verheiratet und hätten in Afhghanistan eigene Leben. An Festtagen bestehe telefonischer Kontakt. Sie würden in Kabul, Jalalabad und der Provinz Laghman leben. Eine befinde sich in seinem Heimatdort.

Der BF lebe bis jetzt in Österreich mit seinem Bruder ( XXXX ) gemeinsam. Derzeit aber nicht mehr. Der BF nennt mit Hilfe seines Rechtsvertreters seine Adresse in der XXXX in XXXX Wien. Er beiziehe seit sieben oder acht Monaten keine Grundversorgung und mache zurzeit in Österreich nichts. Früher habe er einen Hauptschulkurs besucht. Wegen seiner Rückenschmerzen verbringe er die ganze Zeit zu Hause. Er werde sich demnächst bemühen, einen Deutschkurs zu beginnen und sich auf Niveau B1 zu verbessern. Er habe eine A1 Prüfung absolviert und danach eineinhalb Jahre die Hauptschule bis März 2019 besucht, aber nicht beendet. Dazu legte der BF eine Bestätigung der Volkshochschule Burgenland vom 6.3.2019 vor. Als die vorsitzende Richterin den BF auffordert, in deutscher Sprache seinen Tagesablauf in Afghanistan zu schildern, gelingt es dem BF nicht, einen korrekten Satz zu formulieren.

Zu seinen weiteren Plänen in Österreich sprach der BF von einer Ausbildung zum Fliesenleger. Er versuche, im November 2019 wieder die Schule anzufangen. Er sei aber noch nicht eingeschrieben. Neben seinem genannten Bruder habe er noch eine Großcousine in Österreich. Sie hätten guten Kontakt und würden sich sogar besuchen.

Zur Frage, nicht mit dem Bruder nach Europe geflohen zu sein, gab der BF an, sein Bruder habe ihn zum weiteren Verbleib und zum späteren Nachkommen aufgefordert, wenn er einen positiven Bescheid bekomme. Zum Vorhalt, sein Bruder XXXX habe im Verfahren zu seinem Antrag auf internationalen Schutz in Österreich angegeben, keine Angst vor Feinden in Afghanistan mehr zu haben, vertrat der BF die Ansicht, dass sein Bruder ( XXXX ) nach der Tötung seines weiteren Bruders 2007 aus Angst vor den Feinden geflohen sei, zumal er auch verletzt worden sei. Bei seiner Rückkehr nach Afghanistan habe der BF Angst vor seinen Feinden in ganz Afghanistan. Während seines Aufenthalts in Kabul zwischen 2012 bis 2015 habe er auch Angst gehabt. Außerdem habe er für die Regierung gearbeitet und habe auch deshalb Probleme.

Die Adresse der Militärakademie ( XXXX ) in Kabul im Stadtteil XXXX konnte der BF allerdings nicht nennen, da er sich in Kabul nicht gut auskenne. Bei der afghanischen Nationalarmee sei von 1391 bis 1392 gewesen und wisse nicht, an welchem Tage er zuletzt beim Militär gearbeitet habe. Danach sei er zur nationalen Sicherheitsbehörde gegangen. Bis 2013 sei er in Kabul gewesen und danach sei er in die Provinz Laghman gegangen und habe dort als Chauffeur für den Direktor der nationalen Sicherheitsbehörden gearbeitet. Zu seinem dortigen letzten Arbeitstag konnte der BF nicht einmal die Jahreszeit angeben. Trotzdem er bis zuletzt bei der nationalen Sicherheit gearbeitet habe und das ungehindert möglich gewesen sei, gab der BF an, die ganze Zeit gefährdet gewesen zu sein.

Zu seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen beharrlicher Verfolgung vertrat der BF die Meinung, keine Straftat begangen zu haben. Vielmehr liebe ihn diese Frau. Er sei freigesprochen worden. Er habe nichts falsch gemacht. Dazu könne das betroffene Mädchen befragt werden. Er sei wegen der Verurteilung aus dem Burgenland verlegt worden. In einem Verein sei er nicht, er spiele ab und zu gern Fußball. Er habe österreichische Bekannte aber keine Freunde.

13. Dem BF wurde in der Folge die aktuellen Länderinformationsblätter der Staatendokumentation zu Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019) unter Einräumung einer Stellungnahmefrist bis zum 26.11.2019 übermittelt. In der mit 25.11.2019 datierten Stellungnahme wurde vorgebracht, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan tiefgreifend verschlechtert habe. Es sei von der veralteten Pauschalentscheidung abzugehen. Dies gehe bereits aus dem Länderbericht vom 29.6.2018 hervor. Auch die UNHCR-RL vom 30.8.2018 bestätige, dass der sich aus der Masse der Bevölkerung abhebende BF kein sicheres Leben in Afghanistan führen zu können. Auf das diesbezügliche Risikoprofil von bestimmten Personengruppen wurde verwiesen. Die von UNHCR wahrgenommene verschlechternde Situation finde sich im Länderbericht vom 29.6.2018 wieder. Kabul scheide als Fluchtalternative aus. Die sich verschlechternde Sicherheitslage ergebe sich auch aus dem aktuellen Länderinformationsblatt. Die Zahl der Binnenvertriebenen habe sich auf 1.728 157 Menschen erhöht. Auch in Herat habe sich die Lage verschlechtert. Diese betreffe die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage sowie der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sahrif und Kabul. In Herat sei die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit nicht gegeben.

Die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung in Herat habe einen bedenklichen Umfang. Auch in der Provinz Balkh/Mazar-e Sharif sei die Nahrungsmittelversorgung schwer getroffen. Zum Arbeitsmarkt in Mazar-e Sharif führte UNHCR in November 2018 aus, dass der Zugang sehr eingeschränkt sei. Dazu trage die Dürre im Sommer 2018 bei. Die genannten Städte würden als Fluchtalternative ausscheiden. Ein Überleben könne in der aktuellen Lage nicht sichergestellt werden. Laut UNHCR vom 30.8.20189 sei eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar, wenn die BF Unterstützung durch ein Netzwerk hätten, das tatsächlich unterstützen würde. Dazu komme auch EASO. Dies würde gegen eine Rückschieb sprechen. Auch eine Rückkehr in die Heimatregion scheide beim BF aus.

Dazu werde auch noch auf das Gutachten von Stahlmann vom 28.3.2018 verwiesen. Als junger Mann sei er eher gefährdet, Opfer von Morden durch Terroristen zu werden. Sie würden von Regierungs- wie auch nicht-Regierungsseite konstant ausgenutzt. Auch UNHCR spreche davon, dass ausgerechnet junge Männer eine niedrigere Chance hätten, in Afghanistan einen Lebensunterhalt sicherzustellen, um damit ein Überleben zu sichern. Eine Rückführung des BF nach Afghanistan würde den BF in seinen verfassungsmäßig gewährten Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK verletzten. Er unterliege als junger Mann einem erhöhten Risiko.

Hinzu käme die asylrelevante Verfolgung auf Grund der Blutrache. Die afghanischen Behörden seien nicht in der Lage ihn davor zu beschützen. Zudem sei der BF als verwestlicht anzusehen und werde von Terroristen als Feind eingeordnet. Dies ergebe sich sowohl aus der UNHCR-RL als auch dem Stahlmann-Gutachten. Der BF sei verwestlicht, da er schon mehrere Jahre außerhalb von Afghanistan bzw. in Österreich gelebt habe. Der BF habe einen Akzent in seiner Heimatsprache entwickelt. Er habe die Werte der Demokratie und der österreichischen Kultur kennen gelernt und sei kritisch gegenüber der konservativen-islamischen Kultur in Afghanistan. Er habe zwar die afghanischen Gepflogenheiten nicht vollständig verlernt, möchte diese aber nicht mehr verfolgen. Aus Sicht der Afghanen sei der BF eindeutig verwestlicht. Eine Rückführung verletzt den BF in seinen Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK. Aus einer Gesamtberücksichtigung des aktuellen LIB vom 29.6.2018 habe sich sowohl die Lage in Kabul verschlechtert. Dafür spreche auch die Entscheidung des französischen Asylgerichts. Der BF habe auch keine Familienangehörige in Afghanistan und Kabul, auf die er zurückgreifen könne. Er besitze keine Mittel. Eine Rückführung gefährde sein Leben. Er laufe Gefahr in eine ausweglose Lage zu geraten. Er sei wegen seiner Verwestlichung einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt, die sich in seiner tiefen Integration in Österreich und in der Annahme der Lebensart zeige, die der konservativen-islamischen Gesellschaftsordnung widerspreche.

Der BF habe große Anstrengungen zur Integration unternommen, die deutsche Sprache gelernt und soziale Kontakte entwickelt. Er sei arbeitswillig und arbeitsfähig und sollte daher ein Aufenthaltsrecht bekommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der BF ist am XXXX in Afghanistan in der Provinz Laghman im Distrikt XXXX ( XXXX ) im Dorf XXXX geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Der BF ist dort aufgewachsen und hat dort gelebt.

Der BF ist Moslem mit sunnitischem Glaubensbekenntnis und gehört den paschaiischen Stämmen in der Provinz Laghman an.

Der BF hat 10 Jahre lang in der Nähe seines Heimatdorfes die Schule besucht.

Der BF spricht muttersprachlich Paschai. Er sprich aber auch Paschtu, Dari, Farsi und verfügt über geringe Deutschkenntnisse.

Der BF ist seit XXXX verheiratet und hat mit seiner Ehefrau drei Kinder im Alter zwischen XXXX und XXXX Jahren. Die Kernfamilie des BF lebt mit dessen Mutter derzeit im Haus des Schwiegervaters in Jalalabad. Der Familie geht es gut und der BF hat mit ihnen regelmäßiger Kontakt. Finanzielle Problem bestehen nicht. Sie wird von der Mutter des BF und dem Schwager finanziell unterstützt.

Ein Bruder des BF, XXXX , lebt in Österreich. Diesem wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 12.08.2013 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Er sah sich in Afghanistan nicht mehr asylrelevant verfolgt. Der BF lebt nach einer Unterkunft in der XXXX in XXXX Wien nunmehr in XXXX Wien. Eine Großcousine des BF lebt in Österreich, zu dieser pflegt der BF ein gutes Verhältnis und es kommt auch zu Besuchen.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

Von 2008 bis 2012 lebte der BF die meiste Zeit im Iran. Vom Iran aus wurde er mehrmals wieder nach Kabul abgeschoben, von wo aus er wieder in den Iran reiste. Im Iran arbeitete der BF als Fliesenleger.

Im Jahr 2012 war der BF bei der Nationalarmee beschäftigt, wobei er als Wachmann tätig war. Von 2013 bis 2015 arbeitete der BF in der Provinz Laghman als Chauffeur bei der nationalen Sicherheitsbehörde.

Mit Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 13.6.2019 wurde der BF aufgrund des Vergehens der beharrlichen Verfolgung nach § 107a Abs. 1, Abs. 2 Z 1 StGB rechtskräftig zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Der BF hat die am XXXX geborene XXXX im Zeitraum von September 2018 bis zum 10.1.2019 in XXXX , XXXX und andernorts beharrlich verfolgt. Der BF leugnete jedoch nunmehr die Straftat wegen der seiner Ansicht nach bestehenden Liebe der Frau und seiner rechtmäßigen Vorgangsweise.

Der BF hat in Österreich einen Werte- und Orientierungskurs am 13.12.2016 besucht. Er hat zwar einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 am 21.12.2017 abgeschlossen. Derzeit besucht er keinen weiteren Deutschkurs und verfügt auch derzeit nur über geringe Deutschkenntnisse. Der BF hat einen Lehrgang zur Nachholung eines Pflichtschulabschlusses an der VHS Burgenland in XXXX besucht, den er jedoch bereits im März 2019 wieder abgebrochen hat. Der BF ist in keinem Verein aktiv und hat keine österreichischen Freunde, sondern lediglich Bekannte. Der BF möchte in Österreich eine Ausbildung zum Fliesenleger beginnen.

Dem im afghanischen Kulturkreis aufgewachsenen und mit der afghanischen Tradition und den Gebräuchen vertrauten BF ist eine Rückkehr in seinen Heimatdistrikt XXXX in der Herkunftsprovinz Laghman nicht zumutbar. Dem BF stehen jedoch zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung. Er ist jung, gesund, arbeitsfähig und hat eine 10-jährige Schulausbildung in Afghanistan absolviert, sowie Arbeitserfahrung als Fliesenleger, Wachmann und Chauffeur.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF ist in Afghanistan keiner persönlichen und konkreten Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt. Es fehlt an einer asylrelevanten Verfolgung in Afghanistan.

Insbesondere das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen (aufgrund von Blutrache bzw. Grundstückstreitigkeiten verfolgt zu sein) ist unzutreffend. Abgesehen davon stünde dem BF selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

1.3 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

* Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019

* UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018;

1.3.1 Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verte

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten