Entscheidungsdatum
10.01.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W258 2171894-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch Mag. Edward W. DAIGNEAULT, Rechtsanwalt in 1160 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl XXXX , nach Durchführung mündlicher Verhandlungen am 13.11.2017 und am 27.11.2019 in einer asylrechtlichen Angelegenheit zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (in Folge kurz "BF") stellte am 11.11.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 12.11.2015 gab der BF im Wesentlichen an, er sei Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz "Afghanistan") und am XXXX in der Provinz Maidan Wardak geboren. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei traditionell verheiratet. Der BF sei in Afghanistan zu Hause unterrichtet worden und als Hirte tätig gewesen. Weiters habe der BF sechs Jahre illegal in der Islamischen Republik Iran (in Folge kurz "Iran") gelebt. Die finanzielle Situation der Familie beschrieb der BF als "mittelmäßig" und führte dazu aus, er sei im Besitz eines Hauses. Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der BF zusammengefasst an, er sei von den Taliban des Diebstahls von Waffen und Munitionsgegenständen bezichtigt worden. Sein Vater sei deshalb von den Taliban entführt worden.
In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folg kurz: "belangte Behörde") am 13.07.2017 führte der BF ergänzend aus, er sei schiitischer Moslem und ein Einzelkind, weil seine Mutter sehr früh gestorben sei und sein Vater nicht mehr geheiratet habe. Der BF wisse nicht, ob seine Eltern Geschwister in Afghanistan hätten, zumal er bis zu seiner Ausreise im Alter von fünfzehn Jahren niemanden kennengelernt habe. Seit der BF in Österreich sei, habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Ehefrau, die bis zur Ausreise des BF in Teheran aufhältig gewesen sei. Der BF habe im Iran in einer Firma gearbeitet, die auf die Herstellung von kleinen harten Reifen, wie zB Reifen für einen Reisekoffer, spezialisiert gewesen sei. Sein Fluchtvorbringen ergänzte er, wonach die Taliban mit der Regierung "unter einer Decke stecken" würden. Sie hätten auch jährlich die Ernte der Felder des BF und seines Vaters gestohlen. Daher sei auch die Regierung hinter dem BF her gewesen. Dem BF sei es nicht möglich gewesen, nach Kabul zu fahren und zu arbeiten, weil seine Freunde, welche der Volksgruppe der Hazara angehört hätten, auf dem Weg nach Kabul geköpft worden seien. Am Ende der Befragung äußerte der BF seinen Wunsch, zum Christentum zu konvertieren.
Mit Bescheid vom XXXX wies die belangte Behörde den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten ab, sprach aus, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen fest. Begründend führte die belangte Behörde unter anderem aus, die vom BF geschilderte Bedrohung durch die Taliban, die afghanische Polizei und sein Konversionswunsch wären nicht glaubhaft.
Mit Schreiben vom 22.09.2017 erhob der BF Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides und wendete sich im Wesentlichen gegen die Beweiswürdigung der belangten Behörde. Weiters zitierte der BF diverse Länderberichte, wie "Bedrohungen im sozialen Alltag Afghanistans - Der fehlende Schutz bei Verfolgung und Gewalt durch private Akteure" von Friederike Stahlmann. Der BF sei auch als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie als junger und gesunder Mann durch die Taliban verfolgt; ebenso als Rückkehrer aus Europa.
In der am 13.11.2017 hg durchgeführten mündlichen Verhandlung wurde der BF neuerlich befragt.
Mit Schreiben vom 22.11.2017 übermittelte der Beschwerdeführervertreter Integrationsbestätigungen sowie einen Artikel über schiitische Hazara in Afghanistan.
Am 01.07.2019 wurde dem BF sowie der belangten Behörde wegen Zeitablauf Parteiengehör zu den aktuellen Länderberichten eingeräumt und ihnen eine Frist zur allfälligen Stellungnahme von 14 Tagen eingeräumt. Mit Stellungnahme vom 05.08.2019 verwies der BF zusammengefasst auf die schlechte Wirtschafts- und Sicherheitslage Afghanistans und darauf, dass sich in der Afghanischen Community in Wien herumspreche, wenn jemand Interesse am Christentum zeige; dies schließe eine Fluchtmöglichkeit innerhalb Afghanistans grundsätzlich aus.
In der hg am 07.11.2019 wurde der BF ergänzend zu seinem Abfall vom Glauben befragt.
Beweise wurden aufgenommen durch Einvernahme des BF als Partei sowie Einsicht in den Akt des Verwaltungsverfahrens (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:
* Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatdokumentation vom 13.11.2019 (in Folge kurz "LIB"),
* UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in Folge kurz "UNHC-Richtlinien"),
* EASO Country Guidance: Afghanistan Guidance Note and Common Analysis June 2019 (in Folge kurz "EASO"),
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan:
Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren [a-9219] vom 12.06.2015 (in Folge kurz "Anfragebeantwortung 12.06.2015"),
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan:
Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen,
3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159] vom 01.06.2017 (in Folge kurz "Anfragebeantwortung 01.06.2017"),
* Kursantrittsbestätigung vom XXXX 09.2017 sowie eine Kursanmeldebestätigung hinsichtlich eines Deutschkurses vom XXXX 09.2017 bis XXXX 02.2018 und XXXX 09.2017 bis XXXX 06.2018 als Konvolut (Beilage ./1),
* Vorbringen zu den Länderberichten (Beilage ./2),
* UNHCR-Anmerkungen vom Dezember 2016 zur Situation in Afghanistan (Beilage ./3),
* Bericht von Amnesty International hinsichtlich der Situation Rückkehrender Asylwerber von Europa nach Afghanistan (Beilage ./4),
* EASO Country of Origin Information Report Afghanistan, hinsichtlich Schlüsselfaktoren sozial wirtschaftliche Indikatoren, Staatlichen Schutz und Mobilität in Kabul Stadt, Mazar-e Sharif und Herat von August 2017 (Beilage ./5),
* Teilnahmebestätigung des BF am XXXX Workshop vom XXXX 11.2017,
* Teilnahmebestätigung des BF an einer Bibelrunde am 17.11.2017,
* Ein vom BF vorgelegter Internetartikel über die Hazara (OZ 5),
* Strafregisterauszug des BF vom 20.11.2019.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Der folgende Sachverhalt steht fest:
1.1. Zur individuellen Situation des BF:
1.1.1. Allgemeines:
Der männliche, volljährige, gesunde und arbeitsfähige BF ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Der BF spricht sowohl Dari als auch Farsi mit einem iranischen Akzent. Er wurde am XXXX in der Provinz Maidan Wardak, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX , geboren. Der BF wurde von seinem Vater zu Hause unterrichtet und er hat ihm in der Landwirtschaft geholfen sowie als Hirte gearbeitet. Die Familie des BF war im Besitz eines Hauses sowie mehrerer Grundstücke, auf denen sie Kartoffeln, Tomaten, Weizen etc angebaut haben.
Der BF ist seit ungefähr 2014 traditionell mit einer afghanischen Staatsangehörigen verheiratet und kinderlos. Seine Ehefrau lebte bis zur Ausreise des BF in Teheran; ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Der BF hat keine Geschwister und seine Mutter ist gestorben, als der BF noch klein war. Der Aufenthaltsort seines Vaters ist ebenfalls unbekannt.
Im Alter von ungefähr fünfzehn Jahren reiste der BF illegal in den Iran, wo er sechs Jahre gelebt hat, ehe er nach Europa ausgereist ist. In Teheran hat der BF in einer Firma, die auf die Herstellung von kleinen Reifen spezialisiert war, gearbeitet. Mit den dadurch erzielten Einnahmen hat er seine schleppergestützte Ausreise finanziert und einen Teil des Geldes seiner Ehefrau hinterlassen.
Der BF verfügt in Afghanistan über keine Verwandten. Er steht weder in Kontakt mit seiner Ehefrau noch mit seinem Vater.
Der BF ist ungefähr im Oktober 2015 schleppergestützt aus dem Iran ausgereist. Anschließend ist der BF unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet Österreichs eingereist und hat am 11.11.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
1.1.2. Zu den (Nach-)Fluchtgründen:
Der BF ist in Afghanistan individuell weder bedroht worden noch kam es zu Übergriffen auf ihn oder seinen Vater. Der BF ist auch keiner Verfolgung seitens der afghanischen Regierung ausgesetzt.
Der BF hatte in Afghanistan weder Schwierigkeiten oder Nachteile, weil er der Volksgruppe der Hazara angehört oder schiitischer Moslem ist.
Der BF hat keine westlichen Werte übernommen. Er ist mit der afghanischen Lebensweise und Tradition vertraut.
Der BF ist weder vom Islam abgefallen oder zum Christentum konvertiert noch wird das von Dritten in Afghanistan angenommen.
1.1.3. Zum (Privat- und Familien-) Leben des BF in Österreich:
In Österreich verfügt der BF über keine Angehörigen und hat während seines Aufenthaltes keine intensiven Freundschaften geschlossen. Er geht gerne spazieren, treibt Sport und spielt mit seinen Freunden gemeinsam Fußball, Volleyball oder Billard.
Der BF verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau A1, hat zumindest an zwei Deutschkursen teilgenommen und sich für einen Deutschkurs A1+ angemeldet. Weiters hat der BF im Zeitraum vom XXXX 06.2016 bis XXXX 09.2016 an drei Veranstaltungen zum Thema Zusammenleben und Kindererziehung ohne Gewalt sowie am XXXX 11.2017 am XXXX Workshop teilgenommen. Er ist kein Mitglied in einem Verein und war in Österreich noch nie erwerbstätig. Gelegentlich hat er in seiner Asylunterkunft geholfen, indem er zB das Essen verteilt oder bei der Vorbereitung von Festen geholfen hat. Einmal hat er beim Pflanzen von Bäumen geholfen. Am 17.11.2017 hat er an einer Bibelrunde teilgenommen.
Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat des BF:
1.2.1. Allgemeines (LIB Kapitel 3.):
1.2.1.1. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil, nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten. Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban.
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten. Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen:
die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren. Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19 % im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen. Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten.
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet. In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten. So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan.
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5 %, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte.
Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63 % Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert. Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7 % gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist.
Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 sind 56 % (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7 % im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17 %. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44 % verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57 % mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018.
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit
29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge.
Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56 % auf 54 % der Distrikte ab, die Kontrolle bzw der Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15 % auf 12 %. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29 % auf 34 %. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5 % zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6 % der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand.
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39 % der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37 % von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20 % der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4 % der Distrikte.
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet.
1.2.1.2. Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41 % der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) berichtet bzw dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5 % bzw 11 % bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24 % gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt.
Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen. Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 High-Profile Angriffe (HPAs) in Kabul statt (Vorjahreswert: 73), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs.
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge.
1.2.1.3. In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.
1.2.2. Zur Sicherheits- und Versorgungslage in der Heimatprovinz des BF, Maidan Wardak (LIB Kapitel 3.33. und andere Quellen):
Die Provinz Wardak, auch bekannt als Maidan Wardak, grenzt im Norden an Parwan und Bamyan, im Osten an Kabul und Logar und im Süden und Westen an Ghazni. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad (CSO 2019; vgl. IEC 2018w, UNOCHA 4.2014w, NPS o.D., OPr 1.2.2017). Die Provinzhauptstadt ist Maidan Shahr, die sich etwa 40 Kilometer südwestlich von Kabul befindet (WP 26.10.2016; vgl. OPr 1.2.2017).
Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Wardak für den Zeitraum 2019-20 auf 648.866 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara (OPr 1.2.2017; vgl. NPS o.D.).
Wardak ist aufgrund seiner strategischen Position - unter anderem kreuzen hier die Autobahn Richtung Westen und Osten, sowie Norden und Süden - und der Nähe zu Kabul eine bedeutsame Provinz (ARN 23.6.2019). Die Autobahn Kabul-Kandahar durchquert die Distrikte Maidan Shahr, Narkh und Saydabad (UNOCHA 4.2014w). Im Juni 2019 kündigte der afghanische Transportminister an, dass ein Stück der Straße nun asphaltiert würde (AN 30.6.2019). Eine Provinzstraße führt von Maidan Shahr nach Bamyan durch die Distrikte Jalrez, Hesa-e Awal-e Behsud, Markaz-e Behsud und den Haji-gak-Pass (UNOCHA 4.2014w). Die Taliban sind entlang dieser Straße präsent, dort kam es in der Vergangenheit zu Fällen von Erschießungen oder Entführungen von Passagieren (DA 11.6.2019; vgl. RY 2.6.2019; NYT 18.8.2018; WZ 4.1.2018), das Sammeln von "ushr" (eine prozentuelle Steuer - Anm.) (PAJ 5.11.2018). In gewissen Distrikten - wie z.B. Sayyid Abad und Daimir Dad - sollen die Taliban Posten auf der Autobahn aufgestellt haben (UNSG 7.12.2018; vgl. PAJ 27.10.2018; AP 7.10.2018; UNAMA 11.2018). Im Rahmen der Parlamentswahlen im Oktober 2018 sollen die Taliban in Maidan Wardak zudem Straßensperren errichtet haben, um die Bewohner vom Wählen abzuhalten (UNAMA 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die Sicherheitslage in der Provinz Maidan Wardak hat sich in den letzten Monaten verschlechtert. Aufständische der Taliban sind in gewissen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten aus (KP 19.7.2019; vgl. KP 2.7.2019; DA 11.6.2019; KP 22.4.2019; KP 30.12.2018). In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Wardak in der Verantwortung des
203. ANA Corps (USDOD 6.2019; vgl. KP 4.7.2019), das der Task Force Southeast unter der Leitung von US-Truppen untersteht (USDOD 6.2019).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz (Maidan) Wardak gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
Tabelle kann nicht abgebildet werden
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 224 zivile Opfer (88 Tote und 136 Verletzte) in der Provinz Wardak. Dies entspricht einer Steigerung von 170% gegenüber 2017. Die Hauptursachen für zivile Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Selbstmordanschlägen und Sprengstoffanschlägen (UNAMA 24.2.2019).
In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen (z.B. KP 9.8.2019; KP 6.8.2019; KP 19.7.2019; KP 2.7.2019; KP 20.6.2019;
XI 29.5.2019; KP 21.5.2019; KP 22.4.2019; BN 28.5.2019; AJ 10.3.2019; PAJ 23.1.2019; KP 30.12.2018; ARU 11.10.2018; AT 9.10.2018; TN 26.9.2018). Dabei werden manchmal Aufständische getötet (z.B. KP 6.8.2019; KP 2.7.2019; KP 20.6.2019; XI 29.5.2019; KP 21.5.2019; KP 22.4.2019; BN 28.5.2019) und manchmal Gefangene der Taliban befreit (AN 20.6.2019).
Die Taliban griffen Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte an und es kam zu Gefechten mit den Regierungstruppen, was zu Opfern unter den Sicherheitskräften und den Aufständischen führte (z.B. FRP 29.7.2019; ARN 23.6.2019; AN 29.5.2019; TN 9.9.2018; KP 20.10.2018; KP 30.12.2018). Der prominenteste Angriff war eine Autobombe der Taliban auf eine Basis des NDS in der Nähe der Provinzhauptstadt (NYT 21.1.2019; vgl. GN 21.1.2019).
Bei manchen sicherheitsrelevanten Vorfällen kamen auch Zivilisten zu Schaden (z.B. BAMF 15.7.2019; AJ 10.3.2019; PN 9.3.2019; PAJ 23.1.2019; TN 21.1.2019; PAJ 27.10.2018; RFE/RL 27.10.2018; AT 9.10.2018; TN 26.9.2018; PAJ 24.9.2018; PAJ 7.9.2018).
IDPs - Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 3.199 Vertriebene aus der Provinz Wardak, von denen die meisten in der Provinz selbst und die übrigen in die benachbarten Provinzen Kabul und Ghazni vertrieben wurden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 945 Binnenvertriebene aus Wardak, die sich größtenteils in der Provinz selbst, sowie in geringerem Ausmaß in Kabul (35) niederließen (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.31.12.2018 meldete UNOCHA 2.205 Binnenvertriebene, welche sich in Wardak niederließen und vor allem aus der Provinz selbst (2.156), sowie aus Kandahar (49) stammten (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 910 konfliktbedingt in die Provinz Wardak vertriebene Personen, die allesamt aus der Provinz selbst stammten (UNOCHA 18.8.2019).
1.2.3. Zur Lage in der Provinz Balkh im Allgemeinen und in Mazar-e Sharif im Besonderen (LIB Kapitel 3.5. und weitere - jeweils zitierte - Quellen):
Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan; sie ist geostrategisch gesehen eine wichtige Provinz und bekannt als Zentrum für wirtschaftliche und politische Aktivitäten. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Balkh grenzt an drei zentralasiatische Staaten:
Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.475.649 geschätzt, davon leben geschätzt 469.247 Personen in der Provinzhauptstadt. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird.
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen. Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet.
1.2.3.1. Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen. In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete. Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert. Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet.
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdad. Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert.
1.2.3.2. Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Balkh gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
Tabelle kann nicht abgebildet werden
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. UNAMA verzeichnete für das Jahr 2018 insgesamt 99 zivile Opfer durch Bodenkämpfe in der Provinz. Hinsichtlich der nördlichen Region, zu denen UNAMA auch die Provinz Balkh zählt, konnte in den ersten 6 Monaten ein allgemeiner Anstieg ziviler Opfer verzeichnet werden.
Im Winter 2018/2019 und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt. Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäßig Operationen in der Provinz unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch. Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak, Chemtal, Dawlatabad und Nahri Shahi an.
Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert. Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen.
1.2.3.3. Humanitäre Situation, Versorgungslage und Arbeitsmarkt
Die humanitäre Situation in Afghanistan hat sich durch eine schwere Dürre verschärft, von welcher insbesondere die Regionen im Norden und Westen des Landes, zu denen auch Balkh gehört, betroffen sind (UNHCR 30.08.2018, S 36). Die Lebensmittelversorgung wird nach EASO mit Krisenlevel 2 "stressed" bewertet, wonach einer von fünf Haushalten in Mazar-e Sharif dringend benötigte "non food" Ausgaben nicht finanzieren kann; diesen Haushalten steht aber ein Minimum an Nahrungsmitteln zur Verfügung (EASO, S 38).
Den meisten Bewohnern von Mazar-e Sharif (76 %) stehen verbesserte Trinkwasserquellen über Leitungen oder Brunnen zur Verfügung. 92 % der Haushalte verfügen über verbesserte sanitäre Anlagen (EASO, S 133).
Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein industrielles Zentrum für große Produktionsunternehmen und einer großen Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen, die Handarbeiten, Decken und Teppiche herstellen. Der Arbeitsmarkt wird im Vergleich zu Herat oder Kabul als stabiler angesehen. Der größte Anteil von Arbeitern stammt aus den Bereichen Dienstleistung und Verkauf (EASO, S 134).
1.2.3.4. IDPs - Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 1.218 aus der Provinz Balkh vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst in den Distrikten Nahri Shahi und Kishindeh Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 4.361 konfliktbedingt Vertriebene aus Balkh, die allesamt in der Provinz selbst verblieben (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 15.313 Vertriebene in die Provinz Balkh, darunter
1.218 aus der Provinz selbst, 10.749 aus Faryab und 1.610 aus Sar-e-Pul (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 14.301 Vertriebene nach Mazar-e-Sharif und Nahri Shahi, die aus der Provinz Faryab, sowie aus Balkh, Jawzjan, Samangan und Sar-e-Pul stammten (UNOCHA 18.8.2019).
1.2.4. Zur Lage der Hazara in Afghanistan:
1.2.4.1. Allgemeines (LIB Kapitel 16.1. und 17.3.):
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10 % der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul.
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch.
Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich gebessert.
1.2.4.2. Umgang des Afghanischen Staates mit Hazara:
Die Verfassung garantiert die "Gleichheit aller ethnischen Gruppen und Stämme" (UNHCR 30.08.2018 S 104). Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sie sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3.).
Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart (LIB Kapitel 17.3.).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (LIB Kapitel 16.1.).
Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die ua dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30 %. Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB Kapitel 16.1.).
Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10 % in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (LIB Kapitel 17.3.).
1.2.4.3. Umgang anderer ethnischer Gruppen mit Hazara (LIB Kapitel 16.1. und 17.3.):
Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung.
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen (LIB Kapitel 17.3.).
In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara.
1.2.4.4. Umgang von Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte mit Hazara:
In jüngerer Zeit stiegen die Fälle von Schikanierung, Einschüchterung, Entführung und Tötung von Hazara durch Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR 30.08.2018 S 107). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (LIB Kapitel 17.3.)
Im Jahr 2018 gab es 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34 %. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt (LIB Kapitel 16.1.). Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 01.01.2018 bis 30.09.2018 211 Todesopfer. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB Kapitel 17.3.).
1.2.5. Zur Lage von Schiiten in Afghanistan (LIB Kapitel 16.1.):
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19 % geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten.
Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen.
1.2.6. IDPs und Flüchtlinge (LIB Kapitel 20.):
Im Jahresverlauf 2018 verstärkten sich Migrationsbewegungen innerhalb des Landes aufgrund des bewaffneten Konfliktes und einer historischen Dürre. UNHCR berichtet für das gesamte Jahr 2018 von ca 350.000 bis 372.000 Personen, die aufgrund des bewaffneten Konfliktes zu Binnenvertriebenen (IDPs, internally displaced persons) wurden. Trotz des im Zeitvergleich hohen Ausmaßes der Gewalt war im Jahr 2018 das Ausmaß der konfliktbedingten Vertreibungen geringer als im Jahr 2017, als ca 450.000 bis 474.000 Menschen durch den Konflikt innerhalb Afghanistans vertrieben wurden. Aufgrund der Dürre, vorwiegend in den Provinzen Herat und Badghis, kommen ca 287.000 IDPs hinzu. Nach Angaben von UNOCHA sind im ersten Halbjahr 2019 rund 210.000 neue Konflikt induzierte Binnenflüchtlinge hinzugekommen. Mehr als die Hälfte von ihnen stammen aus den Provinzen Takhar, Faryab und Kunar. Die Gesamtzahl von Binnenflüchtlingen lag IDMC zufolge Stand Jahresende 2018 bei ca 2,598,000 Menschen.
Im Jahr 2018 kam es in 33 der 34 Provinzen zu konfliktbedingten Vertreibungen. Der Auslöser für Flucht war häufig Einschüchterung durch bewaffnete Akteure. Beispielsweise wurden im Zuge des Angriffes der Taliban auf die Stadt Ghazni im August 2018 rund 36.000 Menschen zu IDPs. Auch wurden zum Beispiel im November 2018 in Folge eines bewaffneten Konfliktes zwischen Hazara und Taliban
6.400 Menschen aus bis dahin sicheren Distrikten der Provinz Ghazni vertrieben.
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Ein Großteil der Binnenflüchtlinge ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führt zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlt weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft.
Die afghanische Regierung kooperiert mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, Rückkehrern und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung bezüglich vulnerabler Personen - inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran - ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die Regierung hat einen Exekutivausschuss für Vertriebene und Rückkehrer sowie einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan eingerichtet, der erfolgreiche Integration von Rückkehrern und Binnenvertriebenen fördert sowie humanitäre und entwicklungspolitische Aktivitäten erstellt und diese koordiniert.
1.2.7. Grundversorgung (LIB Kapitel 21.):
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38 % (2011) auf 55 % (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6 % und wird für 2019 auf 3,1 % prognostiziert.
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8 %.
Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt:
Einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren.
1.2.8. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit (LIB Kapitel 21.):
Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle.
In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft.
1.2.9. Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen (LIB Kapitel 21.1.):
Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Ein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem gibt es, von einigen Ausnahmen abgesehen (zB Armee und Polizei), nicht. Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch. Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Manche Arbeitgeber zahlen ihren Angestellten Abfertigungen, welche die Angestellten sich nach einem gewissen Zeitraum ausbezahlen lassen können. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.
Im Rahmen des zehn Jahre andauernden "Citizens' Charter National Priority Program" wurde im Jahr 2016 das Citizens' Charter Afghanistan Project ins Leben gerufen. Es zielt darauf ab, die Armut in teilnehmenden Gemeinschaften zu reduzieren und den Lebensstandard zu verbessern, indem die Kerninfrastruktur und soziale Leistungen durch Community Development Councils (CDCs) gestärkt werden. Das CCAP soll Entwicklungsprojekte unterschiedlicher Ministerien umsetzen und zu einem größeren Nutzen für die betroffenen Gemeinschaften führen. Ziel des Projektes war es von Anfang an, 3,4 Millionen Menschen den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu ermöglichen, die Qualität von Dienstleistung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, ländliche Straßen und Elektrizität zu verbessern sowie die Zufriedenheit der Bürger/innen mit der Regierung und das Vertrauen in selbige zu steigern. Außerdem sollten vulnerable Personen - Frauen, Binnenvertriebene, behinderte und arme Menschen - besser integriert werden. Alleine im Jahr 2016 konnten 9,3 Millionen Afghan/innen von den Projekten profitieren.
1.2.10. Medizinische Versorgung (LIB Kapitel 22.):
1.2.10.1. Allgemeines:
Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen. Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in ganz Afghanistan und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer Einrichtung entfernt.
Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Bürger/innen zur Verfügung zu stellen. Außerdem fördert der Staat die Errichtung und Ausweitung medizinischer Leistungen und Gesundheitszentren. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw Tazkira. Alle Staatsbürger/innen haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (va Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich.
Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren.
90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden.
Beispielsweise um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Seit dem Jahr 2009 wurden insgesamt 65 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen gebaut oder renoviert. Neben verbesserten diagnostischen Methoden kommen auch innovative Technologien wie zB Telemedizin zum Einsatz.
1.2.10.2. Medizinische Versorgung in der Stadt Mazar-e Sharif (LIB Kapitel 22.):
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer; jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken; 20 % dieser Gesundheitskliniken finanzieren sich selbst, während 80 % öffentlich finanziert sind.
Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patient/innen in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu.