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19/05 MenschenrechteNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/18/0369Ra 2019/18/0370Ra 2019/18/0371Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. M N, 2. S H, 3. M N, und 4. M N, alle vertreten durch Mag. Marlies Teufel, Rechtsanwältin in 3292 Gaming, Im Markt 39, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. August 2019, W162 2166253-1/32E, W162 2166254-1/28E, W162 2166252-1/27E, W162 2166251-1/28E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen. II. zu Recht erkannt:
Spruch
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der revisionswerbenden Parteien wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien, alle afghanische Staatsangehörige, sind Familienangehörige; der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten und die Eltern des minderjährigen Drittrevisionswerbers und der minderjährigen Viertrevisionswerberin.
2 Sie beantragten am 30. Oktober 2015 bzw. am 4. Oktober 2016 internationalen Schutz und brachten zusammengefasst vor, in Afghanistan aus politischen Gründen verfolgt zu werden, weil ihnen aus näher dargestellten Gründen (zu Unrecht) vorgeworfen werde, den sunnitischen Glauben herabgewürdigt zu haben. Überdies wurde im Laufe des Verfahrens geltend gemacht, der Zweitrevisionswerberin drohe bei Rückkehr Verfolgung wegen ihrer westlichen Orientierung.
3 Mit Bescheiden vom 6. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde der revisionswerbenden Parteien wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis (in dem überdies Beschwerden anderer - im Revisionsverfahren nicht beteiligter - Familienmitglieder entschieden wurden) als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien sei aus näher dargestellten Gründen nicht glaubhaft. Die Zweitrevisionswerberin habe auch keinen "westlichen Lebensstil" angenommen und verinnerlicht, der bei Rückkehr nach Afghanistan zu Verfolgung führen könnte. Den revisionswerbenden Parteien sei deshalb kein Asyl zu gewähren.
6 Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz hielt das BVwG zusammengefasst fest, die revisionswerbenden Parteien stammten aus der Stadt Herat und könnten dorthin - unterstützt von dort verbliebenen Familienmitgliedern - zurückkehren. Es werde zwar nicht verkannt, dass die Situation (auch) in der Stadt Herat nach wie vor angespannt sei. Aus den Länderberichten gehe aber hervor, dass die Provinz Herat eine relativ entwickelte und friedliche Provinz sei. Auch wenn die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei, so sei die Versorgung der afghanischen Bevölkerung in der Stadt Herat dennoch zumindest grundlegend gesichert. Insofern die UNHCR-Richtlinien von einer Rekorddürre unter anderem in Herat sprächen, infolge derer die Landwirtschaft zusammenbreche, sei festzuhalten, dass der Hinweis auf eine allgemeine Dürresituation zu generell bzw. vage sei, um eine reale Bedrohungssituation im Sinne des Art. 3 EMRK zu begründen und insgesamt nicht geeignet sei, den aus den zahlreichen aktuellen Länderberichten gewonnenen Eindruck zu erschüttern. Vor diesem Hintergrund werde seitens des BVwG zwar keineswegs verkannt, dass die Folgen der Dürre und damit verbundene Landflucht der betroffenen Bevölkerung negative Auswirkungen auf die Versorgungslage nach sich zögen. In einer Gesamtbetrachtung sei jedoch nicht ersichtlich, dass die Versorgung der afghanischen Bevölkerung in Herat nicht als zumindest grundlegend gesichert anzusehen sei.
7 Im Hinblick auf die minderjährigen dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien sei noch auszuführen, dass sie zwar als besonders vulnerable Antragsteller gelten würden, im konkreten Fall aber intakte Familienverhältnisse bestünden und die Gefährdung der Minderjährigen in ihrer unmittelbaren Heimat Herat Stadt als relativ gering einzuschätzen sei.
8 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zum einen geltend macht, das BVwG habe "in willkürlicher Weise" den Fluchtgründen der revisionswerbenden Parteien keinen Glauben geschenkt und insbesondere der Zweitrevisionswerberin aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgesprochen, einen westlichen Lebensstil angenommen zu haben. Dass die Zweitrevisionswerberin selbst unter den in Afghanistan vorherrschenden frauenfeindlichen Bedingungen einen Beruf erlernt und als Lehrerin ausgeübt habe, beweise geradezu ihre westliche Lebenseinstellung. Zum anderen rügt die Revision, das BVwG habe die Rückkehrgefährdung für die revisionswerbenden Parteien unzureichend beurteilt und zu Unrecht angenommen, dass die revisionswerbenden Parteien in der Stadt Herat ungefährdet Aufenthalt nehmen könnten. Dabei hätte auch die Minderjährigkeit der dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien in Zusammenschau mit der volatilen Sicherheitslage in Afghanistan zu einem anderen Ergebnis führen müssen.
9 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet. Zu Spruchpunkt I.:
11 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, gelingt es ihr nicht, eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG darzulegen. Nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung wirft nämlich eine im Einzelfall vorgenommene, nicht als grob fehlerhaft erkennbare Beweiswürdigung im Allgemeinen keine über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG auf (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0048, mwN). Eine solche läge - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hätte (vgl. etwa VwGH 1.3.2019, Ra 2018/18/0552, mwN). Letzteres vermag die Revision mit ihren allgemeinen Darlegungen, wonach die Beweiswürdigung zum Fluchtvorbringen "willkürlich" und "nicht nachvollziehbar" sei, nicht aufzuzeigen. Dass die Zweitrevisionswerberin in Afghanistan als Lehrerin berufstätig gewesen sei, indiziert entgegen den Revisionsbehauptungen nicht, dass sie allein deshalb einen Lebensstil gelebt habe oder lebe, der im Herkunftsstaat zwangsläufig zu asylrelevanter Verfolgung führen würde (was es in der Vergangenheit auch nicht getan hat).
Zu Spruchpunkt II.:
12 Zulässig und berechtigt ist die Revision hingegen insoweit, als das BVwG die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten nur unzureichend geprüft hat und dabei von den höchstgerichtlichen Leitlinien abgewichen ist:
13 Bei den revisionswerbenden Parteien handelt es sich um eine Familie mit zwei minderjährigen Kindern und somit - im Hinblick auf die Minderjährigkeit der dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien - um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien tatsächlich vorfinden (vgl. dazu etwa VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0303 bis 0307, mwN).
14 Das BVwG spricht in der angefochtenen Entscheidung die besondere Vulnerabilität der Minderjährigen zwar an, zieht daraus aber keine hinreichenden Schlüsse. Insbesondere bleibt unklar, weshalb das BVwG die Rückkehrgefährdung für die Minderjährigen für "relativ gering" einschätzt und inwieweit die festgestellten "intakten Familienverhältnisse" dazu beitragen können, die Lage der Minderjährigen maßgeblich zu beeinflussen.
15 Dabei fällt ins Gewicht, dass das BVwG die Sicherheits- und Versorgungslage auch in der Stadt Herat für angespannt hält. Wenn es trotzdem zum Schluss kommt, es könne auch eine Familie mit minderjährigen Kindern ungefährdet dorthin zurückkehren, reichen die dazu getroffenen Feststellungen nicht aus: In den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses wird Herat zwar als "relativ entwickelte Provinz im Westen des Landes" und als landwirtschaftlich fruchtbar dargestellt. In der Beweiswürdigung gesteht das BVwG aber zu, dass es infolge einer Dürre und der damit verbundenen Landflucht der betroffenen Bevölkerung in der Provinz zu negativen Auswirkungen auf die Versorgungslage gekommen sei. Welche "zahlreichen aktuellen Länderberichte" das Verwaltungsgericht im Auge hat, die eine Rückkehr der Familie mit minderjährigen Kindern trotzdem gerechtfertigt erscheinen ließen, wird vom BVwG nicht konkretisiert und damit auch nicht nachvollziehbar dargestellt. 16 Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensfehler im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Aussprüche gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17 In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten war die Revision hingegen mangels Vorliegen einer Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.
18 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20
14. Darin findet das Mehrbegehren auf Zuspruch von Umsatzsteuer keine Deckung.
Wien, am 26. Februar 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180368.L00Im RIS seit
16.04.2020Zuletzt aktualisiert am
16.04.2020