TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/18 W192 2196445-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.11.2019
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Entscheidungsdatum

18.11.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 2
EMRK Art. 3
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W192 2196445-1/3E

W192 2196449-1/3E

W192 2196452-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.04.2018, Zahl: 643921402-14484636, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen

Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß §§ 8 iVm 34 Abs. 3 AsylG 2005 i.d.g.F. der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 i.d.g.F. wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte in der Dauer eines Jahres erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.04.2018, Zahl: 641433102-14484652, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen

Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 i. d.g.F. der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 i.d.g.F. wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte in der Dauer eines Jahres erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.04.2018, Zahl: 641433004-14484580, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen

Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß §§ 8 iVm 34 Abs. 3 AsylG 2005 i.d.g.F. der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 i.d.g.F. wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter in der Dauer eines Jahres erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Ukraine, die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sind Eltern und gesetzliche Vertreter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin. Die beschwerdeführenden Parteien stellten, nachdem sie im November 2013 im Besitz österreichischer Visa ins Bundesgebiet eingereist waren, am 25.03.2014 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz, zu welchen die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer am gleichen Datum vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt wurden.

Die Erstbeschwerdeführerin begründete die Flucht aus dem Herkunftsstaat im Wesentlichen damit, dass die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin bereits seit längerer Zeit krank gewesen wäre; sie seien zur Durchführung weiterer Untersuchungen nach Weißrussland gereist, wo im März 2013 die Diagnose eines angeborenen genetischen Immundefekts gestellt worden wäre. Der Erstbeschwerdeführerin und ihrem (damaligen) Lebensgefährten sei von verschiedenen Seiten eine Behandlung in einer österreichischen Krankenanstalt empfohlen worden. Durch mehrere Fonds und private Personen hätten Geldmittel in Höhe von EUR 80.000,- gesammelt werden können; nach Erhalt österreichischer Visa seien sie nach Österreich gereist. Weiters würden sich pro-russisch eingestellte Personen aufgrund der derzeitigen politischen Situation in der Ukraine in Gefahr befinden.

Der Drittbeschwerdeführer führte zum Grund seiner Flucht aus, seine Tochter leide an einem lebensbedrohlichen angeborenen genetischen Immundefekt, welcher durch eine in der Ukraine durchgeführte Impfung ausgelöst worden wäre. Seine Tochter sei in Weißrussland behandelt worden, ihnen sei jedoch ein Spezialist in Österreich empfohlen worden, weshalb sie zur Behandlung hierhergekommen wären. Es habe Geldsammlungen von verschiedenen Fonds und Privatpersonen für seine Tochter gegeben. Über Medien sei vermittelt worden, dass sich der Drittbeschwerdeführer aus den Geldmitteln eines dieser Fonds selbst bereichert hätte, obwohl er nie Geld von jenem Fonds erhalten hätte. Der Drittbeschwerdeführer habe Klage gegen jenen Fonds eingereicht, die Gegenseite hätte versucht, ein Strafverfahren gegen den Drittbeschwerdeführer einzuleiten. Schließlich sei ihnen, insbesondere dem Drittbeschwerdeführer, von diversen privaten Personen gedroht worden. Er hätte ein Dokument unterschreiben sollen, aus welchem hervorgegangen wäre, dass sie Geld aus jenem Fonds erhalten hätten, auch sei ihm gesagt worden, dass man die Mafia auf ihn ansetzen werde. Aus diesem Grund habe er Angst um sein Leben.

Nach Zulassung der Verfahren wurde der Drittbeschwerdeführer am 21.08.2017 niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen. Der Drittbeschwerdeführer gab zusammengefasst an, er gehöre der ukrainischen Volksgruppe sowie dem christlich-orthodoxen Glauben an und habe gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter in einer näher bezeichneten Stadt im Südwesten der Ukraine gelebt.

Im Rahmen einer ergänzenden Einvernahme am 12.09.2017 führte der Drittbeschwerdeführer weiters aus, einen Antrag im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 AsylG mit Bezug auf das Verfahren seiner Tochter zu stellen. Zum Grund seiner Flucht aus dem Herkunftsstaat und seiner Asylantragstellung in Österreich führte der Drittbeschwerdeführer aus, diesbezüglich seien mehrere Faktoren zusammengekommen. Viele Menschen in der Ukraine, die ihre Geschichte kennen würden, würden sich rächen wollen, da sie "Opfer der Wohltätigkeit" geworden wären. Im Internet sei eine Kampagne gegen den Drittbeschwerdeführer gestartet worden; all dies, da sie Geld für ihre Tochter gesammelt hätten, die Leiter zweier beteiligter Fonds sich abgesprochen hätten und einen Verzicht auf das Geld erzwingen wollten, welchem der Drittbeschwerdeführer nicht Folge geleistet hätte. Seither würde er über unterschiedliche Plattformen viele Bedrohungen und Beleidigungen erhalten. Der Drittbeschwerdeführer habe diese Bedrohungen bei der ukrainischen Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht, es sei ihm jedoch nicht geholfen worden. Der zweite Grund sei die Erkrankung seines Kindes, welches ständiger Behandlung bedürfe. Die Erkrankung sei durch eine Impfung in der Ukraine ausgelöst worden, der diesbezügliche Fehler sei durch die dortigen Ärzte vertuscht worden. Die Krankheit werde in der Ukraine nicht behandelt, sei nicht heilbar und sei in der Ukraine nicht diagnostiziert worden. Die Familie sei gezwungen gewesen, zur Abklärung der Beschwerden der Zweitbeschwerdeführerin nach Weißrussland zu fahren. Da der Fall zu schwer für die Ärzte in Weißrussland gewesen wäre, hätten sie Anfragen an Spitäler in aller Welt geschickt und eine Antwort aus Österreich erhalten. In Österreich sei eine Rückenmarkstransplantation durchgeführt worden. Im Falle einer Rückkehr befürchte er eine gerichtliche Verfolgung, der Fonds habe Anzeige gegen ihn erstattet und den Prozess, vermutlich durch Bestechung des Richters, gewonnen. Viele Menschen würden ihm mit Rache drohen. Hinter dem Fonds würden einflussreiche Personen stehen, welche sagen würden, der Drittbeschwerdeführer hätte versucht, sich das Geld zu erschleichen und die viele Menschen und Kriminelle gegen diesen aufhetzen würden. In Bezug auf seine Tochter befürchte er die beschränkten Möglichkeiten einer medizinischen Behandlung in der Ukraine sowie die negative Einstellung der dortigen Ärzte gegen ihre Personen wegen des Konfliktes aufgrund der Impfung. In Österreich gebe es einen Behandlungsplan, den es seines Wissens nach in der Ukraine nicht gebe. Seine Tochter befände sich aktuell in stabilem Zustand und werde nur ambulant behandelt. Sie müsste einmal monatlich ins Spital und werde von verschiedenen Fachärzten beobachtet. Sie sei auch wegen ihrer Augen, Tuberkulose, ihrer Leber sowie Hepatitis B in Behandlung bzw. Beobachtung. Zudem sei sie in psychologischer Behandlung und benötige eine spezielle Diät. Wenn alles gut wäre, sei sie etwa einmal wöchentlich beim Arzt. Sie habe sich ein Jahr durchgehend in stationärer Behandlung in einem Spital befunden. Seit September besuche seine Tochter die Schule, ihr Immunsystem sei jedoch nach wie vor geschwächt.

Anlässlich einer ebenfalls am 12.09.2017 abgehaltenen niederschriftlichen Einvernahme gab die Erstbeschwerdeführerin gegenüber dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst an, sie sei Angehörige der ukrainischen Volksgruppe, bekenne sich zum christlich-orthodoxen Glauben, sei ausgebildete Betriebswirtin und habe Angehörige im Herkunftsstaat, welchen sie im September 2013 Richtung Weißrussland verlassen hätte. Bei ihrer Tochter sei eine Knochenmarkstransplantation mit entsprechenden Begleitbehandlungen durchgeführt worden. Die Transplantation hätte geholfen, das Immunsystem der Minderjährigen zu stabilisieren, dennoch sei ihr Immunsystem nicht wie jenes von anderen Kindern. Derzeit nehme ihre Tochter alle zwei Monate einen Gesundheitscheck in einem Spital wahr, bei dem diverse Analysen durchgeführt würden. Außerdem habe diese Probleme mit den Augen, aufgrund derer sie bereits mehrfach operiert worden wäre und desöfteren Arzttermine wahrnehmen müsse. An Medikamenten nehme die Zweitbeschwerdeführerin derzeit Thyrex für die Schilddrüse sowie ein lebenswichtiges Medikament namens Baraclude ein. Von der Größe her sei ihre Tochter wie ein vierjähriges Kind. Die Erstbeschwerdeführerin beschrieb sodann die Aufbringung der Kosten für die durchgeführte Transplantation in Höhe von 180.000 EUR. Weiters erklärte die Erstbeschwerdeführerin, in Bezug auf ihre eigene Person einen Antrag auf Familienverfahren gemäß § 34 AsylG in Bezug auf das Verfahren ihrer Tochter zu stellen.

Die beschwerdeführenden Parteien legten diverse Unterlagen zum Beleg der Erkrankung der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin sowie der beschriebenen Spendenaktion zwecks Finanzierung einer Behandlung und der vom Drittbeschwerdeführer erwähnten Gerichtsprozesse in diesem Kontext vor. Weiters wurden Auszüge aus Internetforen in Vorlage gebracht, welche die gegen den Drittbeschwerdeführer ausgesprochenen Drohungen belegen würden.

Im Rahmen einer am 09.11.2017 abgehaltenen ergänzenden Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl schilderte der Drittbeschwerdeführer die in der Ukraine erlebten Bedrohungen näher; er habe sich diesbezüglich an die Polizei in der Ukraine gewandt und habe die Situation zunächst mit dem Staatsanwalt für Minderjährige besprochen. Danach habe er sich an die Hauptstaatsanwaltschaft in Kiev gewandt und der Prozess, welcher zwischenzeitig mit einem dem Drittbeschwerdeführer unbekannten Ergebnis abgeschlossen worden wäre, sei eingeleitet worden. Im Jahr 2015 habe er erfahren, dass der Fonds einen Zivilprozess gegen seine Person gewonnen hätte. Der Drittbeschwerdeführer sei beschuldigt worden, Gelder veruntreut und nicht zweckmäßig verwendet zu haben. In der Hetzkampagne sei dem Drittbeschwerdeführer vorgeworfen worden, dass er das gesammelte Geld für seine eigenen Zwecke verwenden und sein Kind nicht behandeln lassen wolle. Die Teilnehmer der Aktion hätten eine Petition gegen den Drittbeschwerdeführer gestartet und verlangt, dass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren einleiten solle, der Drittbeschwerdeführer das Sorgerecht verlieren und all seine Konten geschlossen werden sollen. Er sollte geschlagen werden. Der Drittbeschwerdeführer nehme an, dass der Fonds diese Kampagne zum Zwecke des Geldraubes initiiert hätte; sodass sich der Drittbeschwerdeführer nicht an die Polizei und die Gesellschaft wende. Sie hätten ihm ein negatives Image im Internet verschafft. Er wolle dies stoppen, wisse jedoch nicht, wie. Er habe Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet, diese hätte jedoch nichts unternommen.

Der Drittbeschwerdeführer legte einen Bericht vor, in dem er einen im ukrainischen Fernsehen ausgestrahlten Beitrag, welcher u.a. den Fall seiner Tochter behandelte, sowie die in der Ukraine in Zusammenhang mit der Spendenaktion erlebten Bedrohungen und Hetzkampagnen näher beschrieb.

Anlässlich einer ergänzenden Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 10.11.2017 gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, sie habe ihre Heimat verlassen und in Österreich einen Asylantrag gestellt, da ihr Kind in der Heimat keine Diagnose erhalten hätte; in Folge falscher Behandlungen habe das Kind viele negative Nachwirkungen. Der Hauptgrund sei ihr Kind, dessen Leben in der Ukraine in Gefahr wäre. Weitere Fluchtgründe habe sie nicht. Für den Fall einer Rückkehr in die Ukraine befürchte sie, dass ihre Tochter dort nicht behandelt werden könnte. Die Zweitbeschwerdeführerin habe eine seltene Erkrankung und bekomme in Österreich lebenserhaltende Behandlungen und Untersuchungen. In ihrer Heimatstadt hätte es die benötigte Behandlung nicht gegeben, in Kiev sei die Durchführung einer solchen abgelehnt worden. In der Ukraine gebe es derzeit keine Medikamente, welche das Leben ihrer Tochter erhalten würden. Zudem sei ihre Tochter in der Ukraine falsch behandelt worden und die Ärzte seien ihnen gegenüber voreingenommen. Einer persönlichen Bedrohung oder Verfolgung in der Ukraine sei die Erstbeschwerdeführerin indirekt ausgesetzt gewesen. Zusammengefasst habe einer der Fonds, welcher Geld für die Behandlung der Zweitbeschwerdeführerin gesammelt hätte, nichts zahlen wollen, ab diesem Zeitpunkt hätte die Hetze begonnen. Die Direktorin des Fonds hätte sie im Internet beschuldigt, das Kind nicht behandeln zu wollen, was dazu geführt hätte, dass Menschen, welche ihnen zuvor geholfen hätten, sich gegen sie gewandt und sie für Betrüger gehalten hätten. Die Erstbeschwerdeführerin schilderte desweiteren den Krankheits- und Behandlungsverlauf ihrer Tochter in der Ukraine.

Am 01.12.2017 übermittelte die (damalige) bevollmächtigte Vertreterin des Drittbeschwerdeführers eine Stellungnahme, in welcher ausgeführt wurde, die Tochter des Drittbeschwerdeführers leide entsprechend den vorgelegten Unterlagen an einer lebensbedrohlichen Krankheit mit zahlreichen Folgeerkrankungen; der Aufenthalt in Österreich diene der medizinischen Versorgung der Sechsjährigen, zumal eine Behandlung im Herkunftsstaat nicht möglich wäre. Der Zweitbeschwerdeführerin wäre daher aufgrund des bei einer Rückkehr drohenden Risikos einer Verletzung von Art. 3 EMRK subsidiärer Schutz zu gewähren und dem Drittbeschwerdeführer gemäß den Bestimmungen des Familienverfahrens der gleiche Schutzumfang zuzuerkennen. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass dem Drittbeschwerdeführer in der Ukraine aus eigenen asylrelevanten Gründen Verfolgung drohe. Dieser sei wiederholt - insbesondere in Online-Foren - bedroht worden und es sei ihm diesbezüglich kein effektiver Schutz durch die Behörden der Ukraine gewährt worden. Zudem leide der Drittbeschwerdeführer selbst unter gesundheitlichen Problemen.

In einer durch den bevollmächtigten Vertreter der Erstbeschwerdeführerin eingebrachten schriftlichen Stellungnahme vom 14.12.2017 wurde zusammengefasst festgehalten, bei der Erstbeschwerdeführerin handle es sich um eine junge alleinerziehende Mutter, welche im November 2013 mit ihrer minderjährigen Tochter zur medizinischen Behandlung legal eingereist wäre. Die Tochter leide an einem schweren lebensbedrohlichen Immundefekt, dem Omenn-Syndrom, welches durch eine Stammzellentransplantation in einem österreichischen Spital im Dezember 2013 erfolgreich behandelt worden wäre. Das Omenn-Syndrom werde zu den schweren kombinierten Immundefekten gezählt, einer Gruppe seltener monogenetischer Erkrankungen mit Insuffizienz der humoralen und zellvermittelten Immunität infolge eines Defekts der lymphoiden Stammzellen im Knochenmark. Die Krankheit habe eine ungünstige Prognose und verlaufe unbehandelt tödlich. Mit Behandlung würden die Überlebensraten bei über 80 Prozent liegen. Die Behandlung in der Ukraine sei gescheitert, da die Krankheit falsch diagnostiziert und die Symptome dergestalt behandelt worden wären, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Krankenhaus beinahe gestorben wäre. Die Behandlung der Grunderkrankung im späteren Verlauf in Österreich sei bis dato erfolgreich gewesen. Noch immer würden allerdings zahlreiche, sowohl mit der Grunderkrankung als auch mit der allogenen Stammzellentransplantation assoziierte, Spätfolgen und Komplikationen bestehen, unter anderem eine chronische Hepatitis B-Infektion, Tbc, chron. CMV Infektion, Konjunktivitis, Strabismus, ret. Partovirusinfektionen, psychomotorische Entwicklungsverzögerungen etc., deren kontinuierliche Behandlung zur Erhaltung des gegenwärtigen Zustands des Mädchens unbedingt notwendig wäre. Ein Spezialzentrum für die benötigte stammzellentransplant-spezifische Nachsorge existiere in der Ukraine nicht. Auch die permanent benötigte Medikation mittels einer speziellen Darreichungsform des Medikaments Baraclude sei nach dem momentanen Informationsstand in der Ukraine nicht erhältlich. Zudem sei ein praktischer Zugang zu möglichen Medikamenten aufgrund der extrem hohen Behandlungskosten in der Ukraine nicht gegeben. Da bereits die Grunderkrankung in der Ukraine nicht korrekt diagnostiziert werden habe können, sei auch vor diesem Hintergrund von keiner korrekten Weiterbehandlung in der Ukraine auszugehen. Der Gesundheitszustand der Zweitbeschwerdeführerin würde durch die Unmöglichkeit der Inanspruchnahme einer stammzellentransplant-spezifischen Nachsorge in einem Spezialzentrum und der Nichteinnahme der notwendigen Schilddrüsenmedikamente sowie der Medikamente zur Senkung der Virenzahl bezüglich der Hepatitis-Erkrankung eine drastische Verschlechterung erfahren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Verhältnisse in der Ukraine habe die Zweitbeschwerdeführer dort keinen reellen Zugang zur lebensnotwendigen Behandlung.

2. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.04.2018 wurden die Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG 2005 wurde jeweils gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG für auf Dauer unzulässig erklärt und den beschwerdeführenden Parteien gemäß § 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 57 und 55 AsylG 2005 eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkte III.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, es habe nicht festgestellt werden können, dass die beschwerdeführenden Parteien in der Ukraine, einem sicheren Herkunftsstaat, der Gefahr einer individuellen, konkret gegen sie gerichteten, Verfolgung durch den Staat oder durch Dritte ausgesetzt wären. Die Krankheit der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin entfalte keine Asylrelevanz. Der Drittbeschwerdeführer habe glaubwürdig angegeben, aufgrund von Problemen mit einem näher angeführten Fonds von Privatpersonen über Internetseiten bedroht worden zu sein. Eine Bedrohung durch Privatpersonen könne jedoch zu keiner Asylgewährung führen, zumal die Ukraine als sicherer Herkunftsstaat gelte und von einer Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des Staates auszugehen wäre.

Die medizinische Versorgung in der Ukraine sei in der Regel kostenlos und flächendeckend. Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, in denen überlebenswichtige Maßnahmen durchgeführt und chronische, auch innere und psychische Krankheiten, behandelt werden könnten, würden sowohl in der Hauptstadt Kiev als auch in vielen Gebietszentren des Landes existieren.

Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin den Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht hätte, hier die benötigte medizinische Behandlung erhalte und nunmehr eine Sonderschule besuche.

3. Gegen die Spruchpunkte I. und II. der dargestellten Bescheide richtet sich die am 18.05.2018 durch die bevollmächtigte Vertreterin der Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführerin eingebrachte Beschwerde, zu deren Begründung zusammengefasst ausgeführt wurde, die belangte Behörde habe es verabsäumt, die Stellungnahme vom 14.12.2017 zu würdigen, in welcher der Rechtsvertreter ausführlich dargelegt hätte, weshalb eine Rückkehr in die Ukraine eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde. Es wäre nach dem konkreten und substantiierten Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien hinsichtlich des Nichtvorhandenseins der für die Zweitbeschwerdeführerin notwendigen Behandlungsmöglichkeiten Aufgabe der belangten Behörde gewesen, zu ermitteln, ob die von der Zweitbeschwerdeführerin benötigte medizinische Behandlung in der Ukraine zur Verfügung stehen würde. Näher angeführte Berichte würden zeigen, dass die Situation des ukrainischen Gesundheitssystems dergestalt sei, dass die Zweitbeschwerdeführerin de facto keinen Zugang zu den erforderlichen Medikamenten hätte, da diese für ukrainische Verhältnisse unerschwinglich wären. Ebenfalls sei nicht garantiert, dass das Medikament Baraclude in der Ukraine in der nötigen Qualität und Dosierung bereitgestellt werden könnte. Demnach müsse die Zweitbeschwerdeführerin jedenfalls begründete Angst vor einer maßgeblichen Gefährdung ihrer körperlichen Unversehrtheit iSd Art. 3 EMRK haben.

4. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 13.05.2019 wurden die gegenständlichen Verfahren der bis dahin zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zu den Personen der beschwerdeführenden Parteien und ihrer Rückkehrsituation:

1.1.1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Ukraine, Angehörige der ukrainischen Volksgruppe sowie der christlich-orthodoxen Religionsgemeinschaft.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sind Eltern und gesetzliche Vertreter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin. Die Obsorge für die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin steht beiden Elternteilen zu, diese wird hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut.

Die aus einer Stadt im Süden der Ukraine stammenden beschwerdeführenden Parteien reisten im November 2013 legal in das österreichische Bundesgebiet ein, stellten am 25.03.2014 Anträge auf internationalen Schutz und halten sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf. Mit den Spruchpunkten III. der angefochtenen Bescheide vom 23.04.2018 - welche infolge insofern ungenutzten Ablaufs der Beschwerdefrist in Rechtskraft erwachsen sind - wurden die beschwerdeführenden Parteien betreffende Rückkehrentscheidungen für auf Dauer unzulässig erklärt und diesen Aufenthaltsberechtigungen gemäß § 55 AsylG 2005 erteilt.

1.1.2. Die achtjährige Zweitbeschwerdeführerin leidet an einem schweren kombinierten Immundefekt (SCID; Omenn-Syndrom, RAG1-Mutation) und wurde diesbezüglich im Dezember 2013 im Bundesgebiet durch eine Stammzellentransplantation behandelt. Zuletzt bestanden bei der Zweitbeschwerdeführerin noch zahlreiche, sowohl mit der Grunderkrankung, als auch mit der allogenen Stammzellentransplantation, assoziierte Spätfolgen und Komplikationen in Form von insbesondere einer chronischen Hepatitis B-Infektion, Tbc, chronischer CMV-Infektion, Konjunktivitis, Strabismus, rez. Patrovirusiunfektionen, sowie psychomotorischen Entwicklungsverzögerungen. Die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin nahm zuletzt eine stammzellentransplant-spezifische Nachsorge in zweimonatigen Abständen in Anspruch. Die Medikation der Zweitbeschwerdeführerin bestand zuletzt in der täglichen Einnahme vom Baraclude 0.05mg/ml, Thyrex 25 ug, sowie Oleovit D3.

In der Ukraine erfolgte keine zutreffende Diagnose der Erkrankung der Zweitbeschwerdeführerin. Ihre Eltern schilderten glaubwürdig, dass die dort durchgeführten Behandlungen ihrer Symptome zu einer akut lebensbedrohlichen Verschlechterung ihres Zustandes geführt hatten. Aus dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien in Zusammenschau mit den ins Verfahren eingeführten Länderberichten ergibt sich, dass die von der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin benötigte lebenserhaltende Behandlung für diese im Herkunftsstaat nicht erhältlich gewesen wäre und auch die derzeit erforderliche Dauermedikation, die regelmäßigen Verlaufskontrollen und die stammzellentransplant-spezifische Nachsorge im Falle einer Rückkehr nicht im ausreichenden Maß verfügbar wären, sodass anzunehmen ist, dass eine Rückkehr in den Herkunftsstaat für die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin insbesondere mangels Zugangs zur in regelmäßigem Abstand benötigten stammzellentransplant-spezifischen Nachsorge mit einer potentiell lebensbedrohenden Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes verbunden sein würde. Die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin verbrachte den Großteil ihres bisherigen Lebens im Bundesgebiet und besuchte zuletzt eine Sonderschule.

1.1.3. Die Beschwerdeführer haben ihren Herkunftsstaat aufgrund des Wunsches nach einer Behandlung für die zum damaligen Zeitpunkt akut lebensbedrohend erkrankte minderjährige Zweitbeschwerdeführerin verlassen. Der Drittbeschwerdeführer hat überdies vorgebracht, in Zusammenhang mit einer - teils über verschiedene Fonds abgewickelten - Spendenaktion zwecks Aufbringung der Behandlungskosten für die Zweitbeschwerdeführerin Anfeindungen im Internet ausgesetzt gewesen zu sein und in einem durch einen der erwähnten Fonds initiierten Zivilprozess unterlegen zu sein. Dem Drittbeschwerdeführer war es möglich, in Bezug auf die geschilderten Vorkommnisse die innerstaatlichen Schutzmechanismen in der Ukraine in Anspruch zu nehmen. Er hat nicht vorgebracht, in der Vergangenheit je einem persönlichen konkreten Übergriff ausgesetzt gewesen zu sein oder im Falle seiner Rückkehr im Kontext mit der Spendenaktion von staatlicher oder privater Seite in seinem Recht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit bedroht zu sein.

Es kann auch von Amts wegen nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle einer Rückkehr in die Ukraine aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wären.

1.1.4. Es besteht für die Erstbeschwerdeführerin und den Drittbeschwerdeführer darüber hinaus persönlich im Falle ihrer Rückkehr in die Ukraine jeweils keine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Die erst- und drittbeschwerdeführenden Parteien liefen jeweils nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es kann nicht festgestellt werden, dass sich die wirtschaftliche Situation der Familie als derart desolat erwiesen hätte, als dass die beschwerdeführenden Parteien, welche im Herkunftsstaat zahlreiche familiäre und soziale Anknüpfungspunkte haben, im Falle einer Rückkehr Gefahr liefen, in eine Existenz bedrohende Notlage zu geraten. Die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden Erkrankungen und sind zu einer Teilnahme am Erwerbsleben fähig, es wäre den beschwerdeführenden Parteien zudem möglich, wieder an ihrer früheren Anschrift Wohnsitz zu nehmen, wo sie durch ihre zahlreichen Angehörigen auch auf Unterstützung im Alltag zurückgreifen könnten.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1. Sicherheitslage

Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahlgang am 07.06.2014 direkt zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Diese Politik hat zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren geführt, obwohl Russland im März 2014 die Krim annektierte und seit Frühjahr 2014 separatistische "Volksrepubliken" im Osten der Ukraine unterstützt (AA 7.2.2017).

Die ukrainische Regierung steht für einen klaren Europa-Kurs der Ukraine und ein enges Verhältnis zu den USA. Das 2014 von der Ukraine unterzeichnete und ratifizierte Assoziierungsabkommen mit der EU ist zum Jahresbeginn 2016 in Kraft getreten und bildet die Grundlage der Beziehungen der Ukraine zur EU. Es sieht neben der gegenseitigen Marktöffnung die Übernahme rechtlicher und wirtschaftlicher EU-Standards durch die Ukraine vor. Das Verhältnis zu Russland ist für die Ukraine von zentraler Bedeutung. Im Vorfeld der ursprünglich für November 2013 geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens übte Russland erheblichen Druck auf die damalige ukrainische Regierung aus, um sie von der EU-Assoziierung abzubringen und stattdessen einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion/Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft herbeizuführen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs und dem Sturz von Präsident Janukowytsch verschlechterte sich das russisch-ukrainische Verhältnis dramatisch. In Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen und bilateraler Verträge annektierte Russland im März 2014 die Krim und unterstützt bis heute die bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine (AA 2.2017c).

Die sogenannten "Freiwilligen-Bataillone" nehmen offiziell an der "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Streitkräfte teil. Sie sind nunmehr alle in die Nationalgarde eingegliedert und damit dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Offiziell werden sie nicht mehr an der Kontaktlinie eingesetzt, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, eventuell auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von allerdings teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).

Seit Ausbruch des Konflikts im Osten der Ukraine in den Regionen Lugansk und Donezk im April 2014 zählte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN (OHCHR) 33.146 Opfer des Konflikts, davon

9.900 getötete und 23.246 verwundete Personen (inkl. Militär, Zivilbevölkerung und bewaffnete Gruppen). Der Konflikt wird von ausländischen Kämpfern und Waffen, die nach verschiedenen Angaben aus der Russischen Föderation in die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete (NGCA) gebracht werden, angeheizt. Zudem gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen sind betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Der bewaffnete Konflikt stellt einen Bruch des Internationalen Humanitären Rechts und der Menschenrechte dar. Der Konflikt wirkt sich auf die ganze Ukraine aus, da es viele Kriegsrückkehrern (vor allem Männer) gibt und die Zahl der Binnenflüchtlinge (IDPs) hoch ist. Viele Menschen haben Angehörige, die getötet oder entführt wurden oder weiterhin verschwunden sind. Laut der Special Monitoring Mission der OSZE sind täglich eine hohe Anzahl an Brüchen der Waffenruhe, die in den Minsker Abkommen vereinbart wurde, zu verzeichnen (ÖB 4.2017).

Russland kontrolliert das Gewaltniveau in der Ostukraine und intensiviert den Konflikt, wenn es russischen Interessen dient (USDOS 3.3.2017a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (7.2.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/file_upload/4598_1488455088_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-januar-2017-07-02-2017.pdf, Zugriff 31.5.2017

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AA - Auswärtiges Amt (2.2017b): Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

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AA - Auswärtiges Amt (2.2017c): Außenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Aussenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

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USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 12.7.2017

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2. Rechtsschutz/Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering (USDOS 3.3.2017a).

Nach einer langen Phase der Stagnation nahm die Justizreform ab Juli 2016 mit Verfassungsänderungen und neuem rechtlichem Rahmen Fahrt auf. Für eine Bewertung der Effektivität der Reform ist es noch zu früh (FH 29.3.2017).

Die Reform der Justiz war eine der Kernforderungen der Demonstranten am sogenannten Euro-Maidan. Das größte Problem der ukrainischen Justiz war immer die mangelnde Unabhängigkeit der Richter von der Exekutive. Auch die Qualität der Gesetze gab stets Anlass zur Sorge. Noch problematischer war jedoch deren Umsetzung in der Praxis. Auch Korruption wird als großes Problem im Justizbereich wahrgenommen. Unter dem frisch ins Amt gekommenen Präsident Poroschenko machte sich die Regierung daher umgehend an umfassende Justizreformen. Mehrere größere Gesetzesänderungen hierzu wurden seither verabschiedet. Besonders hervorzuheben sind Gesetz Nr. 3524 betreffend Änderungen der Verfassung und Gesetz Nr. 4734 betreffend das Rechtssystem und den Status der Richter, die Ende September 2016 in Kraft traten. Mit diesen Gesetzen wurden die Struktur des Justizsystems reformiert und die professionellen Standards für Richter erhöht und ihre Verantwortlichkeit neu geregelt. Außerdem wurde der Richterschaft ein neuer Selbstverwaltungskörper gegeben, der sogenannte Obersten Justizrat (Supreme Council of Justice). Dieser ersetzt die bisherige Institution (Supreme Judicial Council), besteht hauptsächlich aus Richtern und hat ein Vorschlagsrecht für Richter, welche dann vom Präsidenten zu ernennen sind. Ebenso soll der Oberste Justizrat Richter suspendieren können. Die besonders kritisierte fünfjährige Probezeit der Richter wurde gestrichen und ihr Einkommen massiv erhöht. Auf der anderen Seite wurden die Ernennungskriterien für Richter erhöht, bereits ernannte Richter müssen sich einer Überprüfung unterziehen. Die Antikorruptionsregelungen wurden verschärft und die richterliche Immunität auf eine rein professionelle Immunität beschränkt. Richter, die die Herkunft ihres Vermögens (bzw. das enger Angehöriger) nicht belegen können, sind zu entlassen. Besonders augenfällig ist auch die Umstellung des Gerichtssystems von einem viergliedrigen zu einem dreigliedrigen System. Unter dem ebenfalls reformierten Obersten Gerichtshof als höchster Instanz, gibt es nun nur noch die Appellationsgerichte und unter diesen die lokalen Gerichte. Die zuvor existierenden verschiedensten Gerichtshöfe (zwischen Appellationsgerichten und Oberstem Gerichtshof) wurden abgeschafft. Außerdem wurde ein spezialisierter Antikorruptionsgerichtshof geschaffen, wenn auch dessen genaue Zuständigkeit noch durch Umsetzungsdekrete festzulegen ist. Die Kompetenz Gerichte zu schaffen oder umzuorganisieren etc., ging vom Präsidenten auf das Parlament über (BFA/OFPRA 5.2017).

Die andere große Baustelle des Justizsystems ist die Reform des Büros des Generalstaatsanwalts, der bislang mit weitreichenden, aus der Sowjetzeit herrührenden Kompetenzen ausgestattet war. Im April 2015 trat ein Gesetz zur Einschränkung dieser Kompetenzen bei gleichzeitiger Stärkung der Unabhängigkeit in Kraft, wurde in der Praxis aber nicht vollständig umgesetzt. Große Hoffnungen in diese Richtung werden in den im Mai 2016 ernannten neuen Generalstaatsanwalt Juri Lutsenko gesetzt. Eine neu geschaffene Generalinspektion soll die Legalität der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft überwachen. Die praktische Umsetzung all dieser Vorgaben erfordert allerdings die Verabschiedung einer Reihe begleitender Gesetze, die es abzuwarten gilt. Etwa 3.400 Posten in der Staatsanwaltschaft, die neu besetzt wurden, gingen überwiegend an Kandidaten, die bereits vorher in der Staatsanwaltschaft gewesen waren. Alle Kandidaten absolvierten eingehende und transparente Tests, aber am Ende waren unter den Ernannten nur 22 neue Gesichter, was in der Öffentlichkeit zu Kritik führte. Für die Generalinspektion ist aber neues Personal vorgesehen. Die schlechte Bezahlung der Staatsanwälte ist ein Einfallstor für Korruption. Der Antikorruptions-Staatsanwalt bekommt als einziger Staatsanwalt höhere Bezüge, obwohl gemäß Gesetz alle Staatsanwälte besser bezahlt werden müssten (BFA/OFPRA 5.2017; vgl. FH 29.3.2017).

Mit 1. Oktober 2016 hat die Generalstaatsanwaltschaft sechs Strafverfahren gegen Richter eingeleitet. Richter beschweren sich weiterhin über eine schwache Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative. Einige Richter berichten über Druckausübung durch hohe Politiker. Andere Faktoren behindern das Recht auf ein faires Verfahren, wie langwierige Gerichtsverfahren, vor allem in Verwaltungsgerichten, unzureichende Finanzierung und mangelnde Umsetzung von Gerichtsurteilen. Diese liegt bei nur 40% (USDOS 3.3.2017a).

Der unter der Präsidentschaft Janukowitschs zu beobachtende Missbrauch der Justiz als Hilfsmittel gegen politische Mitbewerber und kritische Mitglieder der Zivilgesellschaft ist im politischen Prozess der Ukraine heute nicht mehr zu finden. Es bestehen aber weiterhin strukturelle Defizite in der ukrainischen Justiz. Eine umfassende, an westeuropäischen Standards ausgerichtete Justizreform ist im September 2016 in Kraft getreten, deren vollständige Umsetzung wird jedoch noch einige Jahre in Anspruch nehmen (ÖB 4.2017).

Laut offizieller Statistik des EGMR befindet sich die Ukraine auf Platz 1 in Bezug auf die Anzahl an anhängigen Fällen in Strassburg (18.155, Stand 1.1.2017). 65% der anhängigen Fälle betreffen die nicht-Umsetzung von nationalen Urteilen. Wiederkehrende Vorwürfe des EGMR gegen die Ukraine kreisen auch um die überlange Dauer von Zivilprozessen und strafrechtlichen Voruntersuchungen ohne Möglichkeit, dagegen Rechtsmittel ergreifen zu können; Verstöße gegen Art. 5 der EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit); Unmenschliche Behandlung in Haft bzw. unzulängliche Untersuchung von derartig vorgebrachten Beschwerden; Unzureichende Haftbedingungen und medizinische Betreuung von Häftlingen (ÖB 4.2017).

Quellen:

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BFA/OFPRA - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

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FH - Freedom House (29.3.2017): Nations in Transit 2017 - Ukraine, http://www.ecoi.net/local_link/338537/481540_de.html, Zugriff 6.6.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

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USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 31.5.2017

3. Sicherheitsbehörden

Die Sicherheitsbehörden unterstehen effektiver ziviler Kontrolle. Der ukrainischen Regierung gelingt es meist nicht Beamte strafzuverfolgen oder zu bestrafen, die Verfehlungen begangen haben. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen bemängeln aber die Maßnahmen angebliche Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsbehörden zu ermitteln bzw. zu bestrafen, insbesondere angebliche Fälle von Folter, Verschwindenlassen, willkürlichen Inhaftierungen etc. durch den ukrainischen Geheimdienst (SBU), speziell wenn das Opfer verdächtig war/ist "pro-separatistisch" eingestellt zu sein. Straflosigkeit ist somit weiterhin ein Problem. Gelegentlich kam es zu Anklagen, oft aber blieb es bei Untersuchungen. Der Menschenrechtsombudsmann hat die rechtliche Möglichkeit, Ermittlungen innerhalb der Sicherheitsbehörden wegen Menschenrechtsverletzungen zu initiieren. Die Sicherheitsbehörden verhindern generell gesellschaftliche Gewalt oder reagieren darauf. In einigen Fällen kam es aber auch zu Fällen überschießender Gewaltanwendung gegen Demonstranten oder es wurde versäumt Personen vor Drangsale oder Gewalt zu schützen (USDOS 3.3.2017a).

Die Sicherheitsbehörden haben ihre sowjetische Tradition überwiegend noch nicht abgestreift. Reformen werden von Teilen des Staatsapparats abgelehnt. Staatsanwaltschaft und Sicherheitsdienst (SBU) waren jahrzehntelang Instrumente der Repression; im Bereich von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung gibt es weiterhin überlappende Kompetenzen. Die 2015 mit großem Vertrauensvorschuss neu geschaffene und allseits für ihre Integrität gelobte Nationalpolizei muss sich auseinandersetzen mit einer das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinträchtigenden Zunahme der Kriminalität infolge der schlechten Wirtschaftslage und der Auseinandersetzung im Osten, einer noch im alten Denken verhafteten Staatsanwaltschaft und der aus sozialistischen Zeiten überkommenen Rechtslage. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, einige wenige Personen in der Konfliktregion (Ostukraine) unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).

Nach einem Bericht über illegale Haft und Folter, sowohl durch den ukrainischen Geheimdienst SBU als auch durch prorussische Separatisten, reagierte im Juli 2016 der SBU mit der Entlassung von 13 Personen aus der Haft (die Illegalität der Haft wurde aber abgestritten). Bezüglich der Polizeigewalt gegen Maidan-Demonstranten im Jahre 2014 wurden vier Berkut-Beamte wegen der Tötung von drei Demonstranten und Verletzung 35 weiterer angeklagt (FH 1.2017; vgl. HRW 12.1.2017).

Da die alte ukrainische Polizei, die sogenannte Militsiya, seit Ende der Sowjetunion mit einem sehr schlechten Ruf als zutiefst korrupt zu kämpfen hatte und sie nach den Ereignissen des sogenannten Euromaidan zu sehr mit - zum Teil tödliche r- Gewalt gegen Demonstranten gleichgesetzt wurde, reagierte die neue Regierung in der post-Janukowitsch-Ära sehr schnell und präsentierte bereits Ende 2014 eine Strategie zur Einführung einer neuen Polizeieinheit, welche korruptionsfrei, weniger militaristisch und serviceorientierter sein sollte. Die relevante Gesetzgebung konnte schließlich im November 2015 in Kraft treten. Die neue Nationalpolizei nahm ihre Tätigkeit aber bereits Anfang Juli 2015 auf, als die ersten 2.000 neuen Beamten nach nur drei Monaten Ausbildung ihren Eid ablegten. Diese kurze Ausbildungszeit erklärt sich auch aus der Notwendigkeit heraus, die neuen Beamten rasch auf die Straße zu bekommen, wo sie wohlgemerkt ohne Anleitung durch erfahrene (Militsiya-)Beamte Dienst taten, sozusagen als Verkörperung des Wandels. Die etwa 12.000 Nationalpolizisten tun derzeit Dienst in den Großstädten, inklusive Odessa, Kharkiv, Kiew und Lemberg, sowie in 32 Oblast-Hauptstädten im ganzen Land, inklusive der ukrainisch kontrollierten Teile der Ostukraine. Es ist geplant, dass sie danach schrittweise auf den Autobahnen und im ganzen Land tätig werden sollen. Geplant und durchgeführt wurde die Polizeireform v.a. von georgischen Experten, die bereits in ihrer Heimat einschlägige und international beachtete Erfahrungen gesammelt hatten. Um die Trennung vom alten System zu verdeutlichen, wurde die Militsiya angewiesen nicht mehr auf den Straßen präsent zu sein. Dort patrouilliert nur noch die Nationalpolizei. In den Revieren jedoch wird Innendiensttätigkeit weiterhin von der Militsiya verrichtet, deren Ende praktisch besiegelt ist. Die Kooperation zwischen den beiden Wachkörpern ist folglich eher problembeladen. Die neuen Polizisten verrichten praktisch ausschließlich Patrouillentätigkeiit. Wenn sie jemanden festnehmen wird die weitere Ermittlungsarbeit - auch mangels Erfahrung der Nationalpolizisten - weiter von der Militsiya gemacht, bevor es zu einer Anklage kommen kann. Die Reform der Kriminalpolizei und weiterer Einheiten, mit ihren etwa 150.000 Beamten in der gesamten Ukraine, steht erst bevor und wird als der wahre Belastungstest für die Polizeireform gesehen. Mit dem Eintritt der ersten neuen Nationalpolizisten in den Kriminaldienst wird frühestens nach drei Jahren gerechnet. Bewerber für die Nationalpolizei müssen sich eingehender Fitness- und Persönlichkeitstest unterziehen. Angehörige der Militsiya können in den neuen Wachkörper wechseln, müssen aber die Vorgaben erfüllen und sich den Eignungstest unterziehen. Ende 2015 hatten sich 18.044 Milizionäre diesem Prozess gestellt und 62% davon haben die ersten zwei (von drei) Testrunden überstanden (General Skills Test, Professional Skills Test und kommissionelles Interview). An diesem Auswahlprozess sind Vertreter der Zivilgesellschaft beteiligt und die EU beobachtet diesen. Nationalpolizisten werden im Vergleich zur Militsiya sehr gut bezahlt, was Korruption vorbeugen soll. In den ersten zwei Monaten wurden 28 der neuen Beamten entlassen, zwei davon wegen Korruptionsvorwürfen. Trotz dem Mangel an Erfahrung der neuen Polizisten, der immer wieder kritisiert wurde, werden die ersten Monate in denen die neue Nationalpolizei Dienst tat, als Erfolg betrachtet. Im Vergleich zur Militsiya wurden die neuen Beamten öfter gerufen, reagierten aber trotzdem schneller. Die Zahl der Notrufe vervierfachte sich binnen kurzer Zeit, was als Beweis des Vertrauens der Bürger in die Polizei gewertet wird. 85% der Kiewer Bevölkerung halten die Polizei für glaubwürdig, aber nur 5% sagen dasselbe über die Militsiya. In anderen Großstädten sind die Werte ähnlich. Der Anstieg der Kriminalität (+20% in Kiew im Jahre 2015 gegenüber dem Jahr davor) wird von Kritikern in Zusammenhang mit der neuen Polizei gebracht. Jedoch werden auch der Konflikt im Osten des Landes, die allgemein schlechte ökonomische Lage, sowie die Anwesenheit zahlreicher Personen aus der Ostukraine, die aufgrund des Konflikts ihren Lebensmittelpunkt nach Kiew verlagert haben (IDPs und andere) als relevante Faktoren genannt. Auch angeführt wird, dass der Anstieg der Kriminalität eher damit zu tun haben könnte, dass in der Nationalpolizei die Statistiken nicht mehr frisiert und die neuen Polizisten aufgrund höheren Bürgervertrauens schlicht öfter zur Hilfe gerufen werden. Der Wandel der Polizei geht auch einher mit einem Wandel des Innenministeriums, das nach den Worten des Innenministers von einem "Milizministerium" zu einem zivilen Innenministerium europäischer Prägung wurde. Der Rücktritt von Vize-Innenministerin Ekaterina Zguladze-Glucksmann und von Polizeichefin Khatia Dekanoidze, zwei der zahlreichen georgischen Experten, die zur Durchsetzung von Reformen engagiert worden waren, im November 2016, gab bei einigen Beobachtern Anlass zur Sorge über die Zukunft der ukrainischen Polizeireform. Dekanoidze beklagte bei ihrem Abgang, dass, trotzdem es ihr gelungen sei die Grundlagen für einen Polizeikörper westlichen Zuschnitts zu legen, man ihr nicht genug Kompetenzen für eine noch radikalere Reform in die Hand gegeben hätte (BFA/OFPRA 5.2017).

Das sichtbarste Ergebnis der Polizeireform der Ukraine, die am 2. Juli 2015 beschlossen wurde, ist sicherlich die (Neu-)Gründung der Nationalen Polizei, die im selben Monat noch in drei ausgewählten Regionen und insgesamt 32 Städten (darunter auch Kiew, Lemberg, Kharkiv, Kramatorsk, Slaviansk und Mariupol) ihre Tätigkeit aufnahm. Als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan, das anhand von europäischen Standards mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft aufgebaut wurde, stellt die neue Nationale Polizei jedenfalls einen wesentlichen Schritt vorwärts dar. Mit 7. November 2015 ersetzte die neue Nationale Polizei der Ukraine offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte Militsiya. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Struktur aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen "Re-Attestierungs-Prozess" samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritäts-Prüfungen durchlaufen. Mit 20 Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses. Im Zuge dessen wurden 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft. Allgemein wird der vorläufig große Erfolg dieser Reform oft als Aushängeschild der allgemeinen Reformvorhaben gesehen. Nach dem Rücktritt der ehemaligen georgischen Innenministerin Khatia Dekanoidze wurde, im Zuge eines offenen und transparenten Verfahrens, Serhii Knyazev als neuer Leiter der Nationalen Polizei ausgewählt und am 8. Februar 2017 ernannt. Eine gewisse Verlangsamung der Reformen im Polizeibereich ist zu bemerken (ÖB 4.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (7.2.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/file_upload/4598_1488455088_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-januar-2017-07-02-2017.pdf, Zugriff 6.6.2017

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BFA/OFPRA - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

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FH - Freedom House (1.2017): Freedom in the World 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/336975/479728_de.html, Zugriff 22.6.2017

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HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/334769/476523_de.html, Zugriff 6.6.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

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USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 6.6.2017

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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