TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/27 W192 2202230-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.02.2020
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Entscheidungsdatum

27.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W192 2202230-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.06.2018, Zahl 1187072305-180344456, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z. 3, 57 AsylG 2005 i.d.g.F., § 9 BFA-VG i.d.g.F. und §§ 52, 55 FPG i. d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein aus Inguschetien stammender Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte nach illegaler Einreise am 10.04.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung am selben Tag gab er an, dass sein Vater seit 1994 verschollen und seine Mutter bei seiner Geburt verstorben sei. Er habe im Herkunftsstaat elf Jahre lang die Grundschule besucht und zuletzt bei einem Paketdienst gearbeitet.

Der Beschwerdeführer habe den Herkunftsstaat verlassen, weil sein Leben in Gefahr sei. Es habe 2016 einen Anschlag durch "Banditen" auf die Nationalgarde gegeben. Bei einem der dabei getöteten "Banditen" sei am Mobiltelefon die Mobiltelefonnummer des Beschwerdeführers gefunden worden. Der Beschwerdeführer habe sein Mobiltelefon im Jänner 2017 gekauft. Am 10.02.2017 sei sein Haus von einer Spezialeinheit zur Bekämpfung des Extremismus gestürmt, der Beschwerdeführer festgenommen und in das Hauptquartier der Spezialeinheit gebracht worden, wo er gefoltert und misshandelt worden sei. Er sei am 14.02.2017 entlassen worden. Der Beschwerdeführer habe die ihm drohende Gefahr erkannt und sei zu seiner Tante gefahren, die in einer anderen Stadt wohne. Dort sei er bis Ende August geblieben und habe sich versteckt. Dann sei er in ein Dorf zu seinem Cousin gefahren, wo er bis April 2018 geblieben sei. An seine Adresse seien drei Ladungen, zwei seitens der Spezialeinheit zur Bekämpfung des Extremismus und eine der Polizei, geschickt worden. Er sei am 05.04.2018 aus dem Herkunftsstaat mit einem Kleinbus ausgereist, wobei die Kosten der Reise durch seine Tante bestritten worden seien. Bei einer Rückkehr befürchte der Beschwerdeführer im Gefängnis misshandelt zu werden.

Der Beschwerdeführer legte eine Versicherungskarte sowie eine Kopie seines Inlandsreisepass vor und gab an, dass die Originale seines Inlandspasses und Auslandsreisepass am 10.02.2017 bei einer Hausdurchsuchung durch die Polizei beschlagnahmt worden seien.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 07.06.2018 brachte der Beschwerdeführer vor, dass er bisher im Verfahren wahrheitsgemäße Angaben getätigt habe. Der Beschwerdeführer sei im Herkunftsstaat von einer Tante großgezogen worden, und er habe dort viele Cousinen und Cousins sowie einen Onkel zweiten Grades. Mit seinen Angehörigen habe er keinen Kontakt.

Als Grund der Ausreise brachte der Beschwerdeführer vor, dass er Anfang 2017 ein Mobiltelefon gekauft und benutzt habe. Am 10.02.2017 sei er von zu Hause mitgenommen worden. Er sei in einem Auto transportiert worden und habe nichts sehen können, da er einen schwarzen Sack auf dem Kopf gehabt habe. Er sei in eine nasse Räumlichkeit gebracht und befragt worden. Dabei sei er auch beleidigt und in weiterer Folge geschlagen worden. Der Beschwerdeführer sei dann eingeschlafen. Er sei durch Schreie geweckt worden und danach neuerlich über sein Leben befragt und mit einem Elektroschocker gefoltert worden. Man habe ihm auch mit Vergewaltigung gedroht. In weiterer Folge sei der Beschwerdeführer an den Händen aufgehängt und mit einem Stock auf Waden und Fersen geschlagen worden. Danach habe man angekündigt, er werde freigelassen und ihn aufgefordert, ein Blatt Papier zu unterschreiben. Der Beschwerdeführer habe sich geweigert. Man habe dem Beschwerdeführer gewaltsam Alkohol zugeführt, ihn dann in ein Auto gesetzt und sei weggefahren. Der Beschwerdeführer sei danach aus dem Auto gezerrt worden und habe gehört, wie das Auto abgefahren sei. Er habe einen Sack vom Kopf genommen, habe das Auto aber nicht mehr deutlich gesehen. Der Beschwerdeführer sei dann durch einen Wald gegangen und erinnere sich daran, von einem alten Mann aufgeweckt worden zu sein. Er sei mit ihm in das Auto gestiegen und der Mann habe ihn auf Ersuchen zu seiner Tante gefahren. Dort habe er bis Ende August gelebt und habe mit jener anderen Tante kommuniziert, die ihn großgezogen habe. Es seien an seinem Wohnort immer wieder Durchsuchungen seitens des Zentrums für Extremismusprävention vorgenommen worden und auch "Haftbefehle" des Zentrums für Extremismusprävention und der Polizei abgegeben worden. Solche habe die Tante dem Beschwerdeführer bei seiner Ausreise gegeben. Der Beschwerdeführer legte drei Dokumente vor, bei denen es sich laut der im Zuge der Einvernahme hergestellten Übersetzungen um an den Beschwerdeführer gerichtete Ladungen des russischen Innenministeriums bzw. des Zentrums für Extremismusprävention zwecks Zeugeneinvernahme für den 16.03.2017, 28.03.2017 und 17.04.2017 handelt.

Von August 2017 bis 05.04.2018 habe der Beschwerdeführer bei einem Cousin väterlicherseits gelebt. Dann habe ihn die Tante, die ihn großgezogen habe, abgeholt und in die Stadt gefahren. Sie habe dem Beschwerdeführer eine Tasche mit seinen Sachen, den "Haftbefehlen" und den Papieren gegeben und ihm gesagt, dass er in ein sicheres Land gebracht werde.

Zu den Gründen für die erlittenen Übergriffe habe dem Beschwerdeführer seine Tante erklärt, dass 2016 eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der russischen Nationalgarde und "Banditen" stattgefunden habe. Bei einem getöteten "Banditen" sei ein Mobiltelefon gefunden worden, auf dem die Nummer des Beschwerdeführers gespeichert gewesen sei. Dann habe der Beschwerdeführer verstanden, dass man ihn zwingen wollte, ein Papier zu unterschreiben, weil er damit als Teilnehmer dieser Auseinandersetzung identifiziert worden sei. Der angesprochene Konflikt habe sich 2016 ereignet, der Beschwerdeführer wisse nicht den genauen Zeitpunkt, aber glaube, dass es Ende 2016 gewesen sei. Es habe sich im Sunschenski Bezirk irgendwo im Wald ereignet. Es sei eine geheime Sache gewesen und wegen der Toten nicht an die Öffentlichkeit gegeben worden. Befragt nach weiteren Informationen führte er aus, dass man solche im Internet finden könne. Er habe später selbst in einem Forum im Internet Mitteilungen von Leuten gefunden, was diese darüber gehört hätten.

Der Beschwerdeführer habe die Ladungen nicht befolgt und er glaube, dass man ihn bei den Verwandten seines Vaters nie gesucht habe. Er habe während des Aufenthaltes bei seiner Tante und bei seinem Cousin väterlicherseits jeweils das Haus nicht verlassen. Zur Frage nach Spuren von Verletzungen durch die dargestellte Behandlung durch die Polizei brachte der Beschwerdeführer vor, dass er eine Narbe an der Ferse habe. Man habe auf Bereiche geschlagen, welche schnell heilen.

Im Herkunftsstaat habe der Beschwerdeführer eine elfklassige Schule abgeschlossen und den Lebensunterhalt mit Kurzzeitjobs auf der Baustelle, als Kurier, Zusteller und Händler bestritten. Nach Rückübersetzung ergänzte der Beschwerdeführer, dass er seine Tante auch deshalb nicht kontaktiert habe, weil er keine Möglichkeit gehabt habe, ein Mobiltelefon zu kaufen. Er wolle hinzufügen, dass er freigelassen worden sei, weil zum Zeitpunkt, in welchem er im Zentrum gewesen sei, eine Person getötet worden sei. Dies sei in Nachrichten gezeigt worden und man habe deshalb begonnen, alle freizulassen. Der Beschwerdeführer habe dort auch andere Leute schreien gehört.

Zu ihm ausgefolgten länderkundlichen Feststellungen brachte der Beschwerdeführer in einer schriftlichen Stellungnahme vom 20.06.2018 vor, dass die Bevölkerung in Tschetschenien Angst vor Ramsan Kadyrow und seinem Kreis hätte. In Nordkaukasus, Tschetschenien und Dagestan sei eine normale Demokratie nicht möglich und Oppositionspolitiker würden unterdrückt und verfolgt. Wer eine gute Bildung, Freiheit, die Befolgung der Menschenrechte und eine freie Presse haben wolle, habe nur die Möglichkeit, die Heimat zu verlassen und ein neues Leben in freien Ländern wie zum Beispiel Österreich zu beginnen.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für dessen freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Im Rahmen der Entscheidungsbegründung wurde ausgeführt, dass die vorgebrachten Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates nicht glaubhaft gewesen seien. Die Behörde gründete dies auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer sich nach eigenen Angaben von Februar 2017 bis April 2018, somit über 14 Monate, bei nahen Angehörigen aufhalten habe können, ohne dass russische Sicherheitskräfte ihn ausfindig machen hätten können. Auch der Umstand, dass ihm in diesem Zeitraum lediglich drei Ladungen zugestellt worden seien, kontraindiziere ein Interesse der russischen Behörden an seiner Person. Weiters sei der Beschwerdeführer auf den Ladungen lediglich als Zeuge geführt worden.

Auch die Darstellung des Beschwerdeführers, er sei bei seiner Entlassung mit der Ankündigung konfrontiert worden, man werde ihn in einer Woche erneut festnehmen, erscheine unprofessionell, da dies geradezu eine Aufforderung zur Flucht darstellen würde. Dem Beschwerdeführer sei aufgrund seines Alters, seiner Ausbildung und Berufserfahrung zumutbar, nach einer Rückkehr in die russische Föderation seinen Lebensunterhalt zu erwerben und er könne gegebenenfalls kurzfristig Unterstützung durch Familienangehörige aufnehmen. Angesichts des Fehlens von familiären Bindungen im Inland und der kurzen Dauer des Aufenthaltes würden keine Hinderungsgründe gegen die Rückkehrentscheidung vorliegen.

3. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 25.07.2018 fristgerecht Beschwerde ein, in welcher begründend zusammengefasst ausgeführt wurde, dass die Behörde selbst die Schilderungen des Fluchtgrundes des Beschwerdeführers als "plastisch und detailreich" bezeichnet habe und ihm daher nicht die Glaubhaftigkeit absprechen könne. Während des Aufenthaltes vor seiner Ausreise bei Familienangehörigen habe sich der Beschwerdeführer bei Verwandten väterlicherseits versteckt und sei dort von den Behörden nicht gesucht worden. Der Beschwerdeführer sei nach den vorgelegten Ladungen zwar tatsächlich als Zeuge geladen worden, jedoch seien Ermittlungen dahingehend ausgeblieben, ob diese Ladungen nur als Vorwand benutzt wurden, um den Beschwerdeführer festzunehmen. Die Behörde wäre verpflichtet gewesen, Ermittlungen zur Echtheit der Dokumente anzustellen. Die Freilassung des Beschwerdeführers nach der dargestellten Inhaftierung von vier Tagen entspreche der üblichen Vorgangsweise der Sicherheitskräfte.

Die Behörde habe die Länderberichte nicht berücksichtigt, wonach aus ganz Russland Folter und Todesfälle von Häftlingen - insbesondere im Polizeigewahrsam oder in Untersuchungshaft - gemeldet werden. Weiters sei aus diesen Berichten auch ersichtlich, dass Rückkehrer vor Schwierigkeiten wirtschaftlicher und sozialer Art stehen und es bestehe aufgrund der allgemeinen Gefahren der russischen Föderation eine ernsthafte Gefahr für das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers.

4. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.05.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der bis dahin zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

5. Am 07.11.2019 fand zur Ermittlung des entscheidungsmaßgeblichen Sachverhaltes eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an welcher der Beschwerdeführer, dessen nunmehriger bevollmächtigter Vertreter sowie eine Dolmetscherin für die russische Sprache teilgenommen haben. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte bereits im Vorfeld schriftlich mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der Verhandlung zu verzichten.

Der Beschwerdeführer legte zu Beginn der Verhandlung ein russischsprachiges Dokument vor, bei welchem es sich laut Übersetzung durch die anwesende Dolmetscherin um eine auf den Namen des Beschwerdeführers lautende Ausschreibung zur Fahndung durch die russischen Behörden wegen des Verdachtes der Verübung einer Straftat gemäß § 208 Abs. 2 und § 282 Abs. 1 des Strafgesetzes der Russischen Föderation mit einem näher dargestellten weiteren Inhalt handelt.

Zur Frage, auf welche Weise jenes Schriftstück in seinen Besitz gelangt sei, brachte der Beschwerdeführer vor, den Kontakt zu jener in Inguschetien lebenden Tante, bei welcher er aufgewachsen sei, zwischenzeitlich wieder hergestellt zu haben. Die Genannte habe das erwähnte Dokument sowie die in Abwesenheit des Beschwerdeführers weiters erhaltenen Ladungen - der Beschwerdeführer legte sieben weitere russischsprachige Schreiben vor - an einen in Deutschland lebenden Freund seines Vaters übermittelt, welcher die Schriftstücke folglich zum Beschwerdeführer nach Österreich gebracht hätte.

Nach erfolgter Befragung zu den fluchtauslösenden Vorfällen, seinen Rückkehrbefürchtungen sowie seinen Lebensumständen in Österreich wurde der Beschwerdeführer auf mehrere sich aus der Übersetzung des in Vorlage gebrachten Fahndungsersuchens ergebende Unstimmigkeiten angesprochen: so beziehe sich das vorgelegte Schriftstück, welches ein Lichtbild des Beschwerdeführers enthält, auf eine Person, deren Wohnsitz in Moskau registriert sei und deren Geburtsdatum gänzlich von jenem des Beschwerdeführers abweiche; weiters enthalte das Schriftstück an den im Formblatt hierfür vorgesehenen Stellen keine Eintragung einer Geschäftszahl, ebensowenig sei das Dokument mit einem behördlichen Stempel versehen. Zum Vorhalt, dass die dargestellten Unstimmigkeiten und Mängel nahelegen würden, dass es sich beim vom Beschwerdeführer vorgelegten Schriftstück um eine Fälschung handle, gab der Beschwerdeführer keine mögliche Erklärung in Bezug auf die im Einzelnen vorgehaltenen Mängel ab und beharrte darauf, dass es Fakt sei, dass nach ihm gesucht werde.

Am 18.12.2019 langte die vom Bundesverwaltungsgericht in Auftrag gegebene schriftliche Übersetzung ins Deutsche des vom Beschwerdeführer in der Verhandlung vorgelegten Fahndungsersuchens sowie einer der Ladungen ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer führt die im Spruch ersichtlichen Personalien, ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der Volksgruppe der Inguschen und bekennt sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 10.04.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und hält sich seitdem durchgängig im Bundesgebiet auf. Der Beschwerdeführer, welcher im Vorfeld der Ausreise immer an der gleichen Anschrift in einer Stadt in Inguschetien registriert gewesen ist, hat im Herkunftsstaat eine elfjährige Schulbildung absolviert und seinen Lebensunterhalt im Anschluss im Rahmen mehrerer kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse in unterschiedlichen Bereichen bestritten. In Inguschetien halten sich unverändert zwei Tanten sowie mehrere Cousins und Cousinen des Beschwerdeführers auf.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat durch die dortigen Behörden aufgrund des Umstandes, dass seine Telefonnummer im Mobiltelefon eines im Zuge einer Kampfhandlung im Jahr 2016 getöteten Regierungsgegners vorgefunden worden wäre, einer gezielten Verfolgung ausgesetzt sein würde. Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation (Inguschetien) aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Es besteht für den Beschwerdeführer als gesunden leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation (Inguschetien) keine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Dieser liefe auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Im Herkunftsstaat halten sich unverändert zahlreiche Angehörige des Beschwerdeführers auf, welche diesen im Bedarfsfall finanziell oder durch Zurverfügungstellung einer Wohngelegenheit unterstützen könnten. Dem Beschwerdeführer ist es zumutbar, sich alternativ zu einer Rückkehr in seine Heimatregion Inguschetien in Moskau niederzulassen.

Der unbescholtene Beschwerdeführer geht im Bundesgebiet keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und hat keine Verwandten oder sonst enge soziale Bezugspunkte in Österreich. Er hat freundschaftliche Beziehungen in Österreich aufgebaut, Deutschkurse besucht und eine ÖIF-Prüfung auf dem Niveau A1 absolviert. Der Beschwerdeführer ist nicht selbsterhaltungsfähig und bestreitet seinen Lebensunterhalt durch Mittel der Grundversorgung.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

...

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-

BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS- Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-

DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018

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US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von

Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT- OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen "Komitee gegen Folter" kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am

20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_14899

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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