TE Vwgh Erkenntnis 2020/2/26 Ra 2019/18/0225

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Veröffentlicht am 26.02.2020
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Index

19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §11 Abs1
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S A, vertreten durch Mag. Christian Marchhart, Rechtsanwalt in 3100 St. Pölten, Domgasse 2, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. April 2019, W229 2167641-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 20. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Zu seinen Fluchtgründen brachte er zusammengefasst vor, seine Eltern würden ursprünglich aus der Provinz Kandahar stammen, er selbst sei jedoch im Iran geboren und aufgewachsen. Er habe weder im Iran noch in Afghanistan eine sinnvolle Perspektive.

2 Mit Bescheid vom 1. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag sowohl hinsichtlich Asyls (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich subsidiären Schutzes (Spruchpunkt II.) ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).

3 Die gegen die Spruchpunkte II. bis IV. dieses Bescheides erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig. 4 Begründend führte das BVwG - zusammengefasst und soweit entscheidungserheblich - aus, in der Herkunftsregion der Familie des Revisionswerbers, Kandahar, bestünden wesentliche Sicherheitsprobleme und die Versorgungslage gestalte sich als nicht ausreichend. Dem Revisionswerber stehe jedoch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offen. Es komme zwar in den Provinzen Balkh und Herat zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den Sicherheitskräften, jedoch sei die Zahl der Zivilopfer zurückgegangen. Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheit sei zwar häufig nur eingeschränkt möglich, jedoch sei die Versorgung grundlegend gesichert. Insbesondere Mazar-e Sharif entwickle sich wirtschaftlich gut. Es entstünden neue Arbeitsplätze, Firmen würden sich ansiedeln und der Dienstleistungsbereich wachse. Zwar sei die Situation wegen der notorischen aktuellen Dürre in Balkh und Herat angespannt, es seien jedoch keine Berichte bekannt, wonach die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser in Mazare Sharif oder Herat generell nicht mehr gewährleistet oder das Gesundheitsversorgungssystem zusammengebrochen wäre. 5 Zu den persönlichen Umständen des Revisionswerbers legte das BVwG dar, er sei bis zu seinem neunten Lebensjahr in einer afghanischen Familie aufgewachsen, habe zahlreiche Onkeln und Tanten im Iran gehabt und wäre daher mit den kulturellen Gepflogenheiten des Heimatlandes vertraut. Er spreche Dari und Farsi. Im Iran habe er zumindest eine dreijährige Schulbildung genossen und als Schuster gearbeitet, was ihm bei der Neuansiedlung helfen werde. Angesichts seiner Ausbildung als Schuhmacher und seiner Schulbildung könne er sich in Mazare Sharif oder Herat eine Existenz aufbauen und diese mit Hilfs- oder Gelegenheitsarbeiten sichern. Auch die festgestellten Erkrankungen, eine Posttraumatische Belastungsstörung mit Panikattacken sowie dissoziative Krampfanfälle - wobei epileptische Krampfanfälle nicht sicher auszuschließen seien -, würden bei der Beurteilung der Frage der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu keinem anderen Ergebnis führen. Die medizinische Versorgung in Afghanistan sei grundsätzlich gewährleistet.

6 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen. Zudem moniert der Revisionswerber einen Verstoß gegen die amtswegige Ermittlungspflicht und bringt vor, das BVwG habe vorgelegte fachärztliche Befunde außer Acht gelassen und den Revisionswerber als gesund und arbeitsfähig eingestuft, ohne sich mit den Befunden auseinanderzusetzen. Es hätte eines medizinischen Gutachtens bedurft.

7 Es wurden keine Revisionsbeantwortungen erstattet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

10 Im gegenständlichen Fall stellt sich die Frage, ob dem Revisionswerber in den afghanischen Großstädten, insbesondere Mazar-e Sharif oder Herat, tatsächlich eine zumutbare innerstaatliche Schutzalternative im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 offen steht, die eine Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht rechtfertigt.

11 Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Schutzalternative sprechen zu können, reicht es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Schutzalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN; 17.12.2019, Ra 2019/18/0398, mwN).

12 Es entspricht der - auch vor dem Hintergrund von Berichten von EASO und UNHCR ergangenen - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Schutzalternative nicht hindere, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. jeweils mwN VwGH 30.10.2019, Ra 2019/20/0309; 30.12.2019, Ra 2019/18/0241; 12.12.2019, Ra 2019/01/0243, Rn. 15). Eine spezifische Vulnerabilität wird auch nicht alleine dadurch begründet, dass der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, jahrelang im Iran gelebt hat (vgl. VwGH 7.3.2018, Ra 2018/18/0103, mwN; 28.3.2019, Ra 2018/14/0067; 7.5.2019, Ra 2019/20/0144).

13 Allerdings weist das EASO, dessen Einschätzungen das Unionsrecht besondere Bedeutung beimisst, in den Country Guidance Afghanistan für Personen wie den Revisionswerber ein besonderes Profil auf, das sich von anderen männlichen Asylwerbern aus Afghanistan unterscheidet. Danach kann eine innerstaatliche Fluchtalternative für Antragsteller, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder dort sehr lange Zeit gelebt haben, nicht zumutbar sein, wenn sie über kein unterstützendes Netzwerk verfügen, das ihnen dabei hilft, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Richtlinien verweisen darauf, dass bei der Prüfung der Zumutbarkeit der persönliche Hintergrund der betroffenen Person, insbesondere deren Selbständigkeit, die vorhandene Ausbildung und allfällige Berufserfahrungen, ins Kalkül gezogen werden müssen. Mit diesen Richtlinien hat sich das BVwG in adäquater Weise auseinanderzusetzen (vgl. etwa VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0308, VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). 14 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 1.3.2019, Ra 2018/18/0446, mwN). 15 Die Revision weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass sich das BVwG mit dem Krankheitsbild des Revisionswerbers und dem vorgelegten Befundmaterial nur unzureichend auseinandergesetzt hat. Diese Befunde zeichnen, wie aus der Beweiswürdigung des BVwG zu entnehmen, ein fortwährendes Krankheitsbild in unterschiedlicher Ausprägung und unterschiedlichen Therapieansätzen. Auch hält das BVwG selbst fest, dass epileptische Krampfanfälle nicht auszuschließen seien, kommt aber dann mit Verweis auf den Zeitpunkt des letzten stationären Aufenthalts und der zum Entscheidungszeitpunkt erst einige Monate währenden Behandlung durch einen Facharzt für Psychiatrie zu dem Schluss, dass die Beschwerden kein außergewöhnliches Ausmaß erreicht hätten. Das BVwG hat - vor dem Hintergrund der vorgelegten Befunde - damit aber nicht nachvollziehbar dargelegt, wie sich der tatsächliche Gesundheitszustand des Revisionswerbers darstellt, und folglich, wie der Revisionswerber sich eine Existenz aufbauen und diese mit Hilfs- oder Gelegenheitsarbeiten sichern könne. Auch verweist das BVwG zwar in seiner Beweiswürdigung auf die Verfügbarkeit von notwendigen Medikamenten, jedoch fehlen jegliche Feststellungen dazu. Ausgehend davon kann aber nicht abschließend beurteilt werden, ob dem Revisionswerber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative tatsächlich offen steht oder ob ihm angesichts seiner persönlichen Umstände subsidiärer Schutz zu gewähren wäre. 16 Das BVwG wird sich daher im fortgesetzten Verfahren mit dem vom Revisionswerber erstatteten Vorbringen zu seinen Erkrankungen und den vorgelegten Befunden, etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und Neurologie, auseinanderzusetzen und entsprechende Ermittlungen zur Verfügbarkeit von Behandlungen und Medikamenten zu tätigen haben. 17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. Februar 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180225.L00

Im RIS seit

16.04.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.04.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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