Index
E3L E19103000Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des A T, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. November 2018, W198 2170235-1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 7. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er habe in Afghanistan als Lehrer gearbeitet und mit seinen Schülern Theater gespielt. In einem von ihm verfassten Theaterstück habe er gesagt, dass die Kinder nicht den Koran lesen, sondern die Schule besuchen und Ingenieure oder Ärzte werden sollten. Die Dorfbewohner hätten dies als Beleidigung des Islam aufgefasst und sich darüber beim Rat der Religionsgelehrten beschwert. Die Mullahs hätten beschlossen, dass er bestraft werden solle.
2 Mit Bescheid vom 16. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn einen Rückkehrentscheidung, sprach aus, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt A.I.), gab ihr jedoch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten statt und erkannte dem Revisionswerber diesen Status zu (Spruchpunkt A.II.). Das BVwG erteilte dem Revisionswerber eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.III.) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
4 Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, der Revisionswerber sei in der Provinz Ghazni geboren und aufgewachsen und habe nach einem Aufenthalt im Iran in den Jahren 2004 bis 2008 in seinem Heimatdorf gelebt. In den Jahren 2008 bis 2015 habe der Revisionswerber mit seiner Frau und seiner Familie in Pakistan gelebt, bevor er nach Europa gekommen sei. Der Revisionswerber habe in Afghanistan als Lehrer und im Iran und in Pakistan als Schweißer gearbeitet. Ein asylrelevanter Anlass für das Verlassen des Herkunftsstaates liege nicht vor. Auch sei der Revisionswerber im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt. 5 Das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei nicht glaubhaft. Das vom Revisionswerber vorgelegte Schreiben, aus dem hervorgehe, dass er bestraft werden solle, sei nicht überprüfbar und könne mangels Authentizität nicht bestätigen, dass der Revisionswerber in Afghanistan einer Bedrohung ausgesetzt wäre. Diesem Schreiben komme keine Beweiskraft zu. Es sei überdies amtsbekannt, dass in Ländern wie Afghanistan jegliche Urkunden und alle Arten von gefälschten Dokumenten verfügbar seien. 6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
7 Die Revision, die sich nur gegen die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses) richtet, bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das BVwG habe sich damit begnügt, dem Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung die im angefochtenen Bescheid angenommenen Widersprüche in Bezug auf sein Fluchtvorbringen pauschal vorzuhalten. Die darauf aufbauende Beweiswürdigung, der Revisionswerber habe diese Widersprüche nicht entkräften können, sei unschlüssig. Auch habe sich das BVwG durch diese Vorgangsweise seiner Verpflichtung zur amtswegigen Sachverhaltsermittlung entzogen. Das BVwG habe sich auch nicht mit dem vom Revisionswerber vorgelegten Schreiben des Rates der Religionsgelehrten auseinandergesetzt, aus dem hervorgehe, dass ihm Bestrafung drohe. Schließlich habe sich das BVwG auch nicht mit dem Vorbringen des Revisionswerbers, wonach Lehrer in Afghanistan nach den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 eine Risikogruppe darstellten, auseinandergesetzt und dazu auch keine Länderfeststellungen getroffen.
8 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
9 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig; zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht - wie dies hier aus den im Folgenden dargestellten Gründen der Fall ist - die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Hingegen ist der zur Rechtskontrolle berufene Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen; das heißt sie mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 25.4.2019, Ra 2018/19/0324, mwN).
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch wiederholt ausgesprochen, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0356, mwN). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die "freie Beweiswürdigung" gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier iVm § 17 VwGVG) erst nach einer vollständigen Beweiserhebung durch die Behörde einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 10.1.2020, Ra 2019/18/0026, mwN).
11 Diesen Vorgaben wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht: Wenn das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung darauf abstellt, es sei dem Revisionswerber nicht gelungen, die im Bescheid angeführten Widersprüche aufzulösen, genügt dies den Anforderungen an eine schlüssige Beweiswürdigung schon deshalb nicht, weil das BVwG nicht darlegen kann, welche Widersprüche damit gemeint seien. Das BVwG führt in diesem Zusammenhang vermeintlich unterschiedliche Angaben des Revisionswerbers vor der belangten Behörde zur Frage, ob dieser als Reaktion auf das gegenständliche Theaterstück von den Dorfbewohnern oder dem Rat der Religionsgelehrten bedroht worden sei, und zur Frage, wann dieser das Schreiben des Rates der Religionsgelehrten erhalten habe, an. Allerdings hat der Revisionswerber dazu in seiner Beschwerde an das BVwG ausgeführt, die Dorfleute hätten sich infolge des Theaterstückes bei einem Mullah über den Revisionswerber beschwert, woraufhin dieser im Namen der Dorfbewohner eine Beschwerde beim Rat der Religionsgelehrten eingebracht habe. Der Rat der Religionsgelehrten habe dann entschieden, dass der Revisionswerber bestraft werden solle. Er habe dieses Schreiben nach seiner Flucht nach Pakistan gesehen, aber bereits vorher davon erfahren. Mit diesem Vorbringen setzt sich das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung aber gar nicht auseinander.
12 Dieses Beschwerdevorbringen stimmt auch mit dem Inhalt des vom Revisionswerber im Verfahren vor dem BFA als Beweismittel vorgelegten Schreibens des Rats der Religionsgelehrten, von dem eine Übersetzung im Akt einliegt, überein. Vor diesem Hintergrund hätte sich das BVwG nicht damit begnügen dürfen, diesem angebotenen Beweismittel mit dem bloßen Hinweis darauf, dass die Verfügbarkeit von gefälschten Dokumenten "in Ländern wie Afghanistan" amtsbekannt sei, pauschal die Beweiskraft abzusprechen (vgl. erneut Ra 2018/19/0356).
13 Die Beweiswürdigung erweist sich aber auch in anderer Hinsicht als unschlüssig: So steht die Beurteilung des BVwG, der Revisionswerber habe in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nichts Konkretes über den Inhalt der Theaterstücke erzählen können, in Widerspruch zum Inhalt der Niederschrift dieser Verhandlung. Der Revisionswerber hat über Befragung seiner Rechtsvertreterin den Inhalt und Aufbau seiner Theaterstücke im Allgemeinen sowie im Besonderen jenes Stückes, das Auslöser für die Beschwerde der Dorfgemeinschaft gewesen sein soll, näher dargelegt (vgl. Verhandlungsschrift S 23 f). Aus dem Umstand, dass der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung erstmals "Details", die er im Verwaltungsverfahren noch nicht erwähnt habe, vorgebracht habe, lässt sich entgegen der Auffassung des BVwG nicht auf die Widersprüchlichkeit seines Vorbringens schließen. Auch mit der Annahme, dem Revisionswerber sei das Theater in Österreich kein Anliegen mehr und er habe für die afghanische "Community" keine Theaterstücke in seiner Muttersprache geschrieben, wird die Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens nicht schlüssig begründet.
14 Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 16.1.2019, Ra 2018/18/0239, mwN). 15 Der Revisionswerber hat in einer Stellungnahme vom 29. Oktober 2018 an das BVwG darauf hingewiesen, dass nach den UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 Lehrer auf Grund von Angriffen eine Risikogruppe darstellten.
16 Die Revision macht vor diesem Hintergrund zutreffend geltend, dass das BVwG, welches die Tätigkeit des Revisionswerbers als Lehrer in seinem Herkunftsstaat festgestellt hat, keine Feststellungen zur Situation von Lehrern in Afghanistan getroffen und sich im Besonderen nicht mit den genannten UNHCR-Richtlinien, denen nach der hg. Rechtsprechung eine Indizwirkung zukommt (vgl. dazu VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533), auseinandergesetzt hat. Diese Richtlinien führen in Zusammenhang mit dem einschlägigen Risikoprofil der Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, gezielte Angriffe auf Lehrer an (vgl. aaO S 44 f, 47).
17 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG auch entsprechende Feststellungen zur Gefährdung von Lehrern in Afghanistan zu treffen und auf dieser Grundlage zu beurteilen haben, ob dem Revisionswerber im Hinblick auf die festgestellte - allerdings länger zurückliegende - Berufstätigkeit als Lehrer in Afghanistan im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK drohen würde (vgl. VwGH 19.6.2019, Ra 2018/18/0548 bis 0550). 18 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 201
4.
Wien, am 5. März 2020
Schlagworte
Beweismittel UrkundenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2018190711.L00Im RIS seit
05.05.2020Zuletzt aktualisiert am
05.05.2020