TE OGH 2019/11/19 10ObS120/19y

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Veröffentlicht am 19.11.2019
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. R*, vertreten durch Mag. German Bertsch, Rechtsanwalt in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, 1081 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. Juni 2019, GZ 25 Rs 34/19i-25, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 22. November 2018, GZ 35 Cgs 134/18z-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie insgesamt zu lauten haben:

Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in der Zeit von 26. 2. 2018 bis 6. 5. 2018 in Höhe von 66 EUR täglich zu gewähren, wird abgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld anlässlich der Geburt ihres Sohnes V* am 5. 11. 2017 für den Zeitraum von 26. 2. 2018 bis 6. 5. 2018.

Die Klägerin und ihr Ehemann sind österreichische Staatsbürger und leben mit ihrem gemeinsamen Sohn V* in Dornbirn. Die Klägerin ist seit 2015 unselbständig (im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung) in der Schweiz erwerbstätig. Ihr Ehegatte arbeitet seit August 2016 in der Schweiz. Die Klägerin kehrt an jedem Arbeitstag an ihren Wohnort in Dornbirn zurück, wo sie ihren Hauptwohnsitz hat. In der Zeit von 5. 11. 2017 bis 25. 2. 2018 befand sie sich in Mutterschaftsurlaub und bezog in dieser Zeit Mutterschaftsgeld aus der Schweiz. Im Anschluss an den Mutterschaftsurlaub vereinbarte sie mit ihrem Arbeitgeber von 26. 2. 2018 bis 6. 5. 2018 unbezahlten Urlaub zum Zweck der Kinderbetreuung. Ihr Ehemann bezieht aus der Schweiz die Familienzulage in Höhe von 200 CHF monatlich. Die Klägerin erhält in Österreich den Kinderabsetzbetrag in Höhe von 58,40 EUR als Ausgleichszahlung. Im Jahr 2016 verdiente sie (umgerechnet) 58.202,51 EUR.

Mit Bescheid vom 7. 5. 2018 lehnte die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 26. 2. 2018 bis 6. 5. 2018 ab. Nach den zur Anwendung gelangenden Prioritätsregeln des Art 68 Abs 1 lit b sublit i in Verbindung mit Art 11 Abs 3 der VO (EG) 883/2004 sei primär die Schweiz und subsidiär Österreich für die Gewährung von Familienleistungen zuständig. Da beide Elternteile in Österreich keine sozialversicherungspflichtige (kranken- und pensionsversicherungspflichtige) Erwerbstätigkeit im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG ausüben, sei die für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld erforderliche Anspruchsvoraussetzung einer 182-tägigen Erwerbstätigkeit in Österreich vor der Geburt des Kindes nicht erfüllt.

In ihrer Klage beantragt die Klägerin, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihr das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommen in der Zeit von 26. 2. 2018 bis 6. 5. 2018 ungekürzt in Höhe von 66 EUR täglich zu leisten (ON 11 S 6).

Die Klägerin bringt zusammengefasst vor, nach der Antikumulierungsregel des Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 habe die Schweiz als vorrangiger Staat die Familienleistungen zu erbringen und Österreich als nachrangiger Staat seine Familienleistungen bis zur Höhe der Leistung des vorrangig zuständigen Staats auszusetzen. Sei die Leistung des nachrangigen Staats höher, habe der nachrangige Staat einen Unterschiedsbetrag zu leisten. Da in der Schweiz kein dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld vergleichbarer Anspruch bestehe, sei Österreich als nachrangiger Staat in „voller Höhe“ leistungspflichtig. Soweit in § 24 Abs 2 KBGG als Voraussetzung des Anspruchs auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld eines Elternteils darauf abgestellt werde, dass dieser Elternteil in den letzten 182 Kalendertagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt habe (§ 24 Abs 1 Z 2 iVm § 24 Abs 2 KBGG), sei diese Bestimmung unionsrechtswidrig. Österreich habe, wenn es nach dem Koordinierungsrecht der VO auch nur nachrangig zuständig sei, jede Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat (bzw der Schweiz) einer inländischen Erwerbstätigkeit gleichzustellen (Art 5 der VO [EG] 883/2204).

Die beklagte Partei wendete – soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich – zusammengefasst ein, im Hinblick darauf, dass für die Klägerin primär die Schweiz als Beschäftigungsstaat für die Erbringung von Familienleistungen zuständig sei und in Österreich (allenfalls) nur Anspruch auf eine Ausgleichszahlung bestehe, sei auf die rein nationalen Voraussetzungen für den Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld abzustellen (§ 24 Abs 1 Z 2 iVm § 24 Abs 2 KBGG). Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weil die Klägerin in den letzten 182 Kalendertagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes keine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit in Österreich tatsächlich ausgeübt habe. Aus diesem Grund stehe ihr auch keine Ausgleichszahlung zu. Ein Antrag auf Gewährung der „Sonderleistung“ nach § 24d KBGG sei von der Klägerin nicht gestellt worden.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens als Ausgleichszahlung in der Zeit von 26. 2. 2018 bis 6. 5. 2018 in der gesetzlichen Höhe zu leisten. Die VO (EG) 883/2004 gelange auch im Verhältnis zur Schweiz zur Anwendung. Das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld stelle eine Familienleistung im Sinne dieser Verordnung dar. Die Schweiz sei primär und Österreich subsidiär für die Erbringung von Familienleistungen zuständig. Soweit in § 24 Abs 2 KBBG auf eine in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit abgestellt werde, sei diese Regelung unionsrechtswidrig, weil eine in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübte Erwerbstätigkeit nach Art 5 der VO (EG) 883/2004 einer inländischen Erwerbstätigkeit gleichzustellen sei. Die Klägerin erfülle auch alle sonstigen Voraussetzungen für die Zuerkennung von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass die beklagte Partei gemäß § 89 Abs 2 ASGG schuldig erkannt wurde, der Klägerin bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung von 2.371,60 EUR binnen 14 Tagen zu gewähren. Rechtlich ging das Berufungsgericht zusammengefasst davon aus, dass die Prioritätsregeln des Art 68 der VO (EG) 883/2004 anwendbar seien. Die Anwendung der Rechtsvorschriften Österreichs als Wohnsitzstaat ergebe sich aufgrund des Wohnsitzes des Kindes in Österreich (Art 68 Abs 1 lit a VO [EG] 883/2004), sodass die Schweiz als Beschäftigungsstaat vorrangig und Österreich als Wohnsitzstaat nachrangig zuständig seien. Gemäß Art 68 Abs 2 der VO (EG) 883/2004 habe die Klägerin einen Differenzanspruch, der – weil in der Schweiz keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistung existiere – in voller Höhe des in Österreich gebührenden einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes zustehe. Die in § 24 Abs 1 Z 2 iVm § 24 Abs 2 KBGG enthaltene Beschränkung auf eine in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit sei nach ständiger Rechtsprechung als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unbeachtet zu lassen. Wenngleich die Überschrift des Art 6 der VO „Zusammenrechnung der Zeiten“ laute, sei daraus nicht abzuleiten, dass die Zusammenrechnung mindestens zwei in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegte Zeiten der Erwerbstätigkeit voraussetze. Das Erstgericht habe das Klagebegehren (mangels Bezifferung) mit einem Grundurteil nach § 89 Abs 2 ASGG erledigt und damit die Bestimmung der Anspruchshöhe dem Versicherungsträger überantwortet. In einem solchen Fall sei der beklagten Partei die Erbringung einer vorläufigen Zahlung aufzutragen.

Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass zum Verhältnis zwischen § 24 KBGG und Art 68 der VO (EG) 883/2004 (in einem Fall der Erwerbstätigkeit beider Eltern in der Schweiz bei gemeinsamen Wohnort von Eltern und Kind in Österreich) noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist zulässig, sie ist im Sinn einer Abänderung in eine Klageabweisung auch berechtigt.

1. Zum Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004

1.1 Nach Anhang II des am 21. Juni 1999 unterzeichneten und seit 1. Juni 2002 in Kraft stehenden Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz sind die in Abschnitt A des Anhangs II dieses Abkommens genannten Rechtsakte der Europäischen Union anzuwenden. Unter Punkt 1 ist die VO 1408/71 (nunmehr abgelöst durch die VO [EG] 883/2004) angeführt. In Art 1 Abs 2 des Anhangs II wird festgelegt, dass der Begriff „Mitgliedstaat“ in den in Abschnitt A genannten Rechtsakten auch die Schweiz umfasst. Zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits ist weiters die VO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) 883/2004 von Bedeutung.

1.2 Die Klägerin, eine Grenzgängerin nach der Definition des Art 1 lit f der VO (EG) 883/2004 (im folgenden nur mehr „VO“), fällt nach Art 2 der VO in den persönlichen Geltungsbereich der VO. Ihr Kind ist Familienangehöriger gemäß Art 1 lit i der VO. Auch der sachliche Anwendungsbereich der VO ist eröffnet, weil es sich beim begehrten Kinderbetreuungsgeld um eine Familienleistung (Art 1 lit z) handelt, nämlich eine Geldleistung an Eltern, die im Hinblick auf die Betreuung (Erziehung) des Kindes für eine bestimmte Zeit nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätig sind (RS0122905 [T4]; RS0122907). Im Hinblick auf diesen Zweck stellt auch das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld nach der Rechtsprechung eine Familienleistung iSd Art 1 lit z der VO und keine „Leistung bei Mutterschaft oder gleichgestellte Leistung bei Vaterschaft“ dar (10 ObS 148/14h SSV-NF 29/59; EuGH C-347/12, Wiering, Rz 43 f zur VO [EWG] 1408/71).

2. Grundsätze der Koordinierung

Gemäß Art 11 Abs 1 der VO unterliegen Personen, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Gemäß Art 11 Abs 3 lit a der VO unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Vorschriften dieses Mitgliedstaats.

Die Klägerin hat von ihrem Arbeitgeber in der Schweiz unbezahlten Urlaub bewilligt bekommen. Auch wenn die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Hauptpflichten während des unbezahlten Urlaubs ruhen, ist davon auszugehen, dass sie weiterhin abhängig beschäftigt ist (EuGH C-569/15, X, Rz 24). Daraus folgt, dass die Klägerin aufgrund ihrer Beschäftigung in der Schweiz für die Koordinierung von Familienleistungen den Rechtsvorschriften der Schweiz unterliegt, dies unabhängig davon, dass sie ihren Wohnsitz in Österreich hat.

3. Koordination von Familienleistungen

3.1 Familienleistungen werden nach den Bestimmungen des Kapitel 8 des Titel III der VO koordiniert (Art 67 bis 69 VO). Gemäß Art 60 Abs 1 der VO (EG) 987/2009 ist bei der Anwendung von Art 67 und 68 der VO (EG) 883/2004 „insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen“. Nach dem EuGH gilt diese Bestimmung unabhängig davon, ob die Leistungen nach dem vorrangig anzuwendenden Recht zu gewähren sind oder nach anderen Rechtsvorschriften geschuldet werden (EuGH C-32/18, Moser, Rz 44 ff).

3.2 Art 68 Abs 1 der VO legt für den Fall, dass für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind, Prioritätsregeln fest, und zwar in lit a für den Fall, dass Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren sind, und in lit b für den Fall, dass Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren sind.

3.3 Für den hier zu beurteilenden Sachverhalt kommt (nur) Art 68 Abs 1 lit a der VO in Betracht, weil die Klägerin ihren Anspruch im Wohnsitzstaat geltend macht, der nicht ihr Beschäftigungsstaat ist. Österreich ist auch nicht der Beschäftigungsstaat ihres Ehemanns, sodass keine der EuGH-Entscheidung C-32/18, Moser, vergleichbare Konstellation vorliegt.

3.4 Ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach den österreichischen Vorschriften ist – wie vom Berufungsgericht (S 14 des Berufungsurteils) zutreffend ausgeführt – nur auf der Grundlage des Wohnsitzes des Kindes denkbar, unterliegen doch beide Elternteile aufgrund der Beschäftigung in der Schweiz den Rechtsvorschriften der Schweiz.

3.5 Für die Koordinierung der Familienbeihilfe hat Spiegel (Familienleistungen aus der Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Mazal, Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [113]) den Standpunkt vertreten, dass neben den Beschäftigungsstaaten der Eltern auch der Wohnsitzstaat des Kindes in die Pflicht genommen werden kann, wenn dessen Leistungen höher sind als diejenigen in den Beschäftigungsstaaten. Felten (in Spiegel, Kommentar zum Zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrecht [59. Lfg 2017] Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 3) erklärt dies damit, dass im Hinblick auf die Auffangregelung des Art 11 Abs 3 lit e der VO die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates der Kinder im Rahmen der Prioritätsregeln des Art 68 Abs 1 lit a der VO immer zu berücksichtigen sind.

3.6 Die Klägerin macht einen eigenen Anspruch (und nicht einen solchen ihres Kindes) geltend. Dieser hängt von ihrem eigenen früheren Einkommen ab und nicht dem ihres Kindes. Es ist daher schon auf der Grundlage der VO unklar, ob der Wohnsitz des Kindes einen tauglichen Anknüpfungspunkt für einen einkommensabhängigen Anspruch der Mutter bilden kann. Aus der EuGH-Entscheidung C-32/18, Moser, ist für die Klägerin nichts zu gewinnen, weil der EuGH den Anspruch des in Deutschland beschäftigten Vaters aus der Beschäftigung der Mutter in Österreich abgeleitet hat (auch das Kind hatte seinen Wohnsitz in Deutschland).

3.7 Die unter 3.6 aufgeworfene Frage muss aber hier nicht beantwortet werden, da selbst bei Anwendung österreichischen Rechts (unter Bedachtnahme auf das Primärrecht) ein Anspruch der Klägerin zu verneinen ist.

4. Österreichische Rechtslage

4.1 Der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens setzt nach § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG eine durchgehende, der Kranken- und Pensionsversicherung in Österreich unterliegende Erwerbstätigkeit des Elternteils in den letzten 182 Kalendertagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes voraus.

Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin unstrittig nicht.

4.2 Die Klägerin beruft sich auf die Unionsrechtswidrigkeit dieser Bestimmung und verlangt eine unionsrechtskonforme Auslegung.

4.2.1 Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 10 ObS 148/14h (DRdA 2016/29, 259 [Rief] = DRdA-infas 2016/80, 112 [Thomasberger] = SSV-NF 29/59) zum einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld ausgesprochen, dass die in § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG enthaltene Beschränkung lediglich auf eine in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unbeachtet zu lassen sei.

4.2.2 Dieser Entscheidung lag zugrunde, dass in einer in Österreich wohnhaften Familie zuerst die Mutter des Kindes aufgrund ihrer eigenen vorherigen Beschäftigung in Österreich einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld bezog; für den anschließenden zweimonatigen Zeitraum beantragte der in Deutschland beschäftigte Vater einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld in Österreich, das ihm von den Gerichten auch zugesprochen wurde. Dieser Fall ist mit dem Sachverhalt vergleichbar, über den der EuGH zu C-32/18, Moser, zu entscheiden hatte. Der EuGH bejahte ebenfalls einen Anspruch des in Deutschland beschäftigten Vaters auf einkommensabhängiges österreichisches Kinderbetreuungsgeld (siehe dort den Hinweis auf Österreich als Beschäftigungsstaat der Mutter und die Konsequenzen der „Familienbetrachtungsweise“ in Rz 37 f).

4.3 Nach dem Standpunkt der Klägerin müsste im Rahmen der Koordinierung nicht nur – im Sinne der EuGH-Entscheidungen C-352/06, Bosmann, und C-611/10, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak – das rein mitgliedstaatliche Recht angewendet, sondern dieses darüber hinaus unionsrechtskonform ausgelegt werden, indem generell auch Beschäftigungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat (bzw der Schweiz oder einem EWR-Vertragsstaat) zurückgelegt wurden, für die Erfüllung der von § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG gestellten Voraussetzungen heranzuziehen sind.

4.4 Damit würde allerdings der Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verlassen.

Zwar dürfen Versicherte nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil sie das Recht der Freizügigkeit in Anspruch genommen haben (EuGH C-224/98, D‘Hoop, uva). Die EU-Mitgliedstaaten, die EWR-Vertragsstaaten und die Schweiz sind aber im Rahmen der Ausgestaltung ihrer Sozialversicherungssysteme nicht zu einer Harmonisierung verpflichtet (Art 48 AEUV). Konsequenterweise kann einer Person bei einer Verlagerung ihrer Erwerbstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat nicht garantiert werden, dass diese Verlagerung in Bezug auf Leistungen der sozialen Sicherheit neutral ist. Aufgrund der Unterschiede der Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit der Mitgliedstaaten kann eine Verlagerung der Erwerbstätigkeit je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in Bezug auf den sozialen Schutz haben (EuGH C-134/18, Vester, Rz 32). Art 45 AEUV kann nämlich nicht dahin ausgelegt werden, dass er einem Wanderarbeitnehmer das Recht einräumt, sich in seinem Wohnsitzstaat auf dieselbe soziale Absicherung zu berufen wie die, in deren Genuss er käme, wenn er in diesem Mitgliedstaat arbeitete, falls er tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet und gemäß den Bestimmungen dieses (leistungszuständigen) Mitgliedstaates nicht in den Genuss einer solchen Absicherung kommt (EuGH C-95/18, C-96/18, van den Berg, Giesen und Franzen, Rz 58).

In der Entscheidung C-95/18, C-96/18, van den Berg, Giesen und Franzen, hat der EuGH das Fehlen eines (aus einer Beschäftigung in einem anderen Staat abgeleiteten) Anspruchs im Wohnsitzmitgliedstaat damit gerechtfertigt, dass eine aus einer Beschäftigung in einem anderen Staat abgeleitete Leistungsverpflichtung des Wohnsitzstaates das durch den AEUV eingerichtete Gleichgewicht zerstören würde, da eine solche Pflicht dazu führen könnte, dass nur das Gesetz des Mitgliedstaats, der die vorteilhaftere soziale Sicherung bietet, angewandt wird. Es bestünde die Gefahr der Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit desjenigen Mitgliedstaats, der die vorteilhafteste soziale Sicherung bietet.

5. Ergebnis: Allein der Wohnsitz des Kindes und seiner Eltern in Österreich ist kein ausreichendes Anknüpfungskriterium für einen Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld, wenn beide Elternteile in einem anderen von der Sozialrechtskoordinierung erfassten Staat beschäftigt sind.

6. Der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld ist daher zu verneinen.

Der Revision der beklagten Partei ist somit Folge zu geben und das Klagebegehren abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Voraussetzung für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit an den unterlegenen Versicherten sind nicht nur die tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens, sondern auch dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten einen Kostenersatz nahe legen. Die Klägerin hat derartige Umstände, die einen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, nicht geltend gemacht, noch ergeben sich dafür Anhaltspunkte aus dem Akt.

Textnummer

E127739

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:E127739

Im RIS seit

14.04.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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