Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D***** W*****, vertreten durch Dr. Norbert Nowak, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei D***** AG *****, vertreten durch Jarolim Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 6.131,49 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 3. Dezember 2018, GZ 50 R 113/18a-15, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 7. Juni 2018, GZ 8 C 383/17g-11, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
I. Das Revisionsverfahren wird fortgesetzt.
II. Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR an USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin schloss zu privaten Zwecken als Versicherungsnehmerin beim beklagten Versicherer einen Vertrag über eine fondsgebundene Lebensversicherung ab und zwar beginnend ab dem 1. 8. 2001 mit einer Vertragslaufzeit von 20 Jahren. Der Versicherungsantrag enthielt einen Hinweis auf das Rücktrittsrecht nach § 3 KSchG dahin, dass „dieser Rücktritt bis zum Zustandekommen des Vertrages oder danach binnen einer Woche erklärt werden (kann); der Rücktritt bedarf zu seiner Rechtswirksamkeit der Schriftform …“.
Die Informationsbroschüre mit dem Hinweis auf das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG idF BGBl I 1997/6 (= aF), wonach „Versicherungsnehmer ohne weitere Voraussetzungen berechtigt (sind), binnen zweier Wochen nach dem Zustandekommen des Vertrages – das ist in der Regel der Zugang der Versicherungsurkunde – von diesem zurückzutreten. ...“, war dem Versicherungsantrag nicht angeschlossen.
Im Jahr 2008 wurde der Versicherungsvertrag prämienfrei gestellt. Die Klägerin erklärte mit anwaltlichem Schreiben vom 18. 10. 2017 unter Berufung auf § 165a VersVG (aF) ihren Rücktritt vom Versicherungsvertrag. Die Beklagte wies die Rücktrittserklärung der Klägerin zurück.
Die Klägerin begehrte die Zahlung von 6.131,49 EUR (= insgesamt geleistete Prämien von 6.177,27 EUR abzüglich Risikokosten von 45,78 EUR) sowie kapitalisierte Zinsen von 3.119,21 EUR jeweils sA. Der Vertragsrücktritt sei zulässig gewesen, weil die Klägerin nicht über ihr Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG (aF) belehrt worden sei. Infolge dieses Rücktritts stehe ihr die Rückabwicklung der Leistungen ex tunc einschließlich kapitalisierter Zinsen iHv 4 % Zinsen ab Einzahlung der jeweiligen Prämie zu.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und erwiderte, die Klägerin sei gesetzeskonform aufgeklärt worden. Der Rücktritt sei verfristet erhoben worden und das Rücktrittsrecht jedenfalls verjährt. Der von der Klägerin angesetzte Rückabwicklungswert sei nicht nachvollziehbar.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung im Umfang des Zuspruchs von 6.131,49 EUR sA und wies das Mehrbegehren ab. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil sich der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 7 Ob 107/15h mit den bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen eines Rücktritts nach § 165a VersVG (aF) nicht im Detail befasst habe. Ob eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung zu erfolgen habe oder dem Versicherungsnehmer auch bei einem Rücktritt nach § 165a VersVG (aF) nur ein Anspruch auf Auszahlung des Rückkaufswerts gemäß § 176 VersVG zukomme, sei eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO.
Gegen diese Entscheidung (gemeint: gegen deren klagestattgebenden Teil) richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der gänzlichen Klageabweisung. Hilfsweise stellt die Klägerin auch einen Aufhebungsantrag. Sie macht als erhebliche Rechtsfrage geltend, dass zur Rechtsfolge der Ausübung eines zeitlich unbefristeten Rücktrittsrechts gemäß § 165a VersVG (aF), ob nämlich die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung in Form der Rückzahlung der einbezahlten Prämien oder die Auszahlung des Rückkaufswerts gemäß § 176 VersVG vorzunehmen sei, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle. Der Oberste Gerichtshof habe bislang auch noch nicht entschieden, ob einem „ewigen“ Rücktrittsrecht gemäß § 165a VersVG (aF) verjährungsrechtliche Bestimmungen (etwa § 1487 ABGB analog) entgegenstehen könnten.
Die Klägerin erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise dieser nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.
Zu I.:
1. Der Senat hat aus Anlass der Revision mit Beschluss vom 28. 8. 2019, AZ 7 Ob 40/19m, das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juli 2018 des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (GZ 13 C 738/17z-12 [13 C 8/18y, 13 C 21/18k und 13 C 2/18s]), Rechtssache C-479/18, UNIQA Österreich Versicherungen ua, unterbrochen.
2. Der EuGH hat mit Urteil vom 19. Dezember 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, (ua) über das zuvor bezeichnete Vorabentscheidungsersuchen entschieden. Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.
Zu II.:
1. Die vorlegenden Gerichte haben dem EuGH (ua) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1.1. Vorlagefrage 2: Ist „Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 dahin auszulegen (…), dass, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer überhaupt keine Informationen über sein Rücktrittsrecht mitgeteilt hat oder die vom Versicherer dem Versicherungsnehmer mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, die Rücktrittsfrist selbst dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat“.
1.2. Diese Vorlagefrage 2 hat der EuGH wie folgt beantwortet:
„2. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 ist dahin auszulegen, dass, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer überhaupt keine Informationen über sein Rücktrittsrecht mitgeteilt hat oder die mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, die Rücktrittsfrist selbst dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat.
1.3. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 2 folgt:
Beginnt die Rücktrittsfrist sogar dann nicht zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat, dann verbietet sich die – von der Beklagten gewünschte – Annahme, dass ein begründetes Recht zum Spätrücktritt infolge unterbliebener Rechtsbelehrung analog § 1487 ABGB nur binnen drei Jahren nach Vertragsabschluss ausgeübt werden könne. Dass eine derartige Verkürzung des Rücktrittsrechts nicht in Frage kommt, folgt im Übrigen schon aus der Entscheidung des EuGH vom 19. 12. 2013, C-209/12 (Endress/Allianz Lebensversicherungs AG) sowie aus 7 Ob 107/15h.
2. Ein vorlegendes Gericht hat dem EuGH (ua) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
2.1. Vorlagefrage 4: Sind „Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen (…), dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat“.
2.2. Diese Vorlagefrage 4 hat der EuGH wie folgt beantwortet:
„Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat.“
2.3. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 4 folgt:
Die – von der Beklagten gewünschte – Beschränkung der Rückabwicklung auf den bloßen Rückkaufswert ist ausgeschlossen. Sonstige Einwände gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung werden in der Revision nicht geltend gemacht.
3.1. Ausgehend von der Beantwortung der Vorlagefragen 2 und 4 erweisen sich die von der Beklagten gegen die vom Berufungsgericht angeordnete Rückabwicklung des Lebensversicherungsvertrags dem Grunde und der Höhe nach erhobenen Einwände als unberechtigt. Der Revision ist daher nicht Folge zu geben.
3.2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.
Textnummer
E127755European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00019.20Z.0219.000Im RIS seit
14.04.2020Zuletzt aktualisiert am
19.07.2021