TE OGH 2020/2/19 7Ob12/20w

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Veröffentlicht am 19.02.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S***** L*****, vertreten durch die Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei H***** AG *****, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 6.103,64 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 17. August 2018, GZ 60 R 62/18z-12, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 28. März 2018, GZ 13 C 709/17k-8, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Das Revisionsverfahren wird fortgesetzt.

II. Die Revision wird zurückgewiesen.

III. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR an USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Die Klägerin unterfertigte am 12. August 2010 bei der Beklagten einen Antrag auf Abschluss einer fondsgebundenen Rentenversicherung. Im Antrag wurde sie schriftlich unter anderem auf ihr Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG hingewiesen wie folgt:

Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG: Sie können binnen 30 Tagen nach Verständigung vom Zustandekommen des Vertrages zurücktreten.

In der Polizze der Lebensversicherung mit dem Versicherungsbeginn 1. Dezember 2010 und dem Vertragsende 1. Dezember 2037 finden sich folgende

Wichtige Hinweise

[...]

4. Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG:

Sie können binnen 30 Tagen nach Verständigung vom Zustandekommen des Vertrages zurücktreten.

Sie können den Rücktritt auch bereits vor Fristbeginn erklären.

Zur Wahrung der Rücktrittsfrist genügt die rechtzeitige Absendung des Rücktritts. Der Rücktritt ist unserer Gesellschaft gegenüber schriftlich zu erklären und und zu richten an: [...]

Die Klägerin kündigte am 10. Juni 2016 den Versicherungsvertrag und erhielt in der Folge den Rückkaufswert ausbezahlt.

I.1. Der Senat hat aus Anlass der Revision mit Beschluss vom 30. Jänner 2019, AZ 7 Ob 231/18y, das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juli 2018 des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (GZ 13 C 738/17z-12 [13 C 8/18y, 13 C 21/18k und 13 C 2/18s]), Rechtssache C-479/18, UNIQA Österreich Versicherungen ua, unterbrochen.

I.2. Der EuGH hat mit Urteil vom 19. Dezember 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, auch über das zuvor bezeichnete Vorabentscheidungsersuchen entschieden.

I.3. Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.

II.1. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen (vgl RS0112921, RS0112769). Eine im Zeitpunkt der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich aufgeworfene erhebliche Rechtsfrage fällt weg, wenn die bedeutsame Rechtsfrage durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bereits vorher geklärt wurde (RS0112921 [T5]).

Die entscheidungswesentlichen Rechtsfragen zur Frage der Belehrung über das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG sind durch die Entscheidungen des Fachsenats 7 Ob 3/20x, 7 Ob 4/20v und 7 Ob 16/20h bereits beantwortet und daher nicht (mehr) als erheblich einzustufen. Das Rechtsmittel ist daher zurückzuweisen, wobei sich die Entscheidung auf die Darlegung der Zurückweisungsgründe beschränken kann (§ 510 Abs 3 ZPO).

II.2.1. Mit Bezug auf die Beantwortung der Vorlagefrage 3 durch das Urteil des EuGH C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 hat der Fachsenat zu 7 Ob 4/20v ausgeführt, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, also insbesondere auch noch nach der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.

Davon ausgehend stand einem der Klägerin infolge fehlerhafter Informationen gegebenenfalls noch zustehenden Rücktrittsrecht der Umstand, dass sie den Versicherungsvertrag im Jahr 2016 kündigte und von der Beklagten den Rückkaufswert nach § 176 VersVG ausgezahlt erhielt, grundsätzlich nicht entgegen.

II.2.2. Hier entspricht die Belehrung über das Rücktrittsrecht inhaltlich dem § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006, BGBl I 2006/95. Mit Bezug auf die Beantwortung der Vorlagefrage 1 durch den EuGH hat der Senat zu 7 Ob 3/20x, 7 Ob 4/20v und 7 Ob 16/20h ausgeführt, dass aus einer weiteren Belehrung, es sei für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG die Schriftform erforderlich, keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts folgt. Auf die Einhaltung der Schriftform konnte sich die Beklagte zufolge § 178 VersVG in allen bis zum Zeitpunkt des Rücktritts geltenden Fassungen nicht berufen, sodass ein allfälliger Rücktritt des Klägers in jeder beliebigen Form wirksam gewesen wäre. Die Schriftform steht im gegebenen Kontext nicht mit europarechtlichen Vorgaben im Widerspruch, ist eine im Alltag für eine Vielzahl von (rechtsgeschäftlichen) Erklärungen auch bei Privaten (Verbrauchern) geradezu typische und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform, die für jedermann einfach und ohne besonderen Aufwand durchzuführen ist, sodass keine für ihre Effektivität relevanten Hürden entgegenstehen. Sie dient im vorliegenden Zusammenhang auch dem Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung des Nachweises eines erhobenen Rücktritts.

Durch die Belehrung, dass alle Rücktrittsrechte in Schriftform erklärt werden müssten, wurde keine relevante Erschwernis dieser Rücktrittsrechte bewirkt, die deren unbefristete Ausübung erlauben würde. Ein Rücktritt vom Versicherungsvertrag nach § 165a VersVG ist daher verfristet.

II.2.3. Weitere Fragen nach den Rechtsfolgen eines berechtigt erklärten Rücktritts stellen sich damit nicht.

II.3.1. Ob im Hinblick auf den Inhalt der Prozessbehauptungen eine bestimmte Tatsache als vorgebracht anzusehen ist, ist eine Frage des Einzelfalls, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung keine erhebliche Bedeutung zukommt. Auch ob das bisher erstattete Vorbringen so weit spezifiziert ist, dass es als Anspruchsgrundlage hinreicht bzw wie weit ein bestimmtes Vorbringen einer Konkretisierung zugänglich ist, ist eine Frage des Einzelfalls (RS0042828). Ob eine Klage schlüssig ist, sich also der Anspruch aus dem behaupteten Sachverhalt ergibt, kann nur anhand der konkreten Behauptungen im Einzelfall geprüft werden und kann daher grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO sein (vgl RS0037780; RS0116144). Gegenteiliges gilt im Interesse der Wahrung der Rechtssicherheit nur dann, wenn die Auslegung des Parteivorbringens eine grobe Fehlbeurteilung, mit seinem Wortlaut unvereinbar ist oder gegen die Denkgesetze verstößt (RS0042828 [T7, T11, T15, T31]).

II.3.2. Die Vorinstanzen vertraten die Auffassung, zu einer behaupteten Arglist der Beklagten habe die für die Voraussetzungen des § 870 ABGB behauptungs- und beweispflichtige (RS0014792 [T2]; RS0098986 [T8]) Klägerin trotz Erörterung keine konkreten Behauptungen insbesondere dahin aufgestellt, welche konkrete natürliche Person mit welchen Erklärungen eine Täuschung der Klägerin bewirkt hätte. Warum dies eine grobe Fehlbeurteilung im Hinblick darauf, dass sich aus den Belehrungen allein kein Hinweis auf Arglist ergibt, sein sollte, zeigt die Revision nicht auf.

II.4. Die Revision war daher zurückzuweisen.

III. Konnte die Revisionsgegnerin bei Erstattung der Rechtsmittelbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision nicht erkennen, weil zu diesem Zeitpunkt jene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs noch nicht ergangen war, welche die auch im Anlassfall entscheidungswesentliche erhebliche Rechtsfrage beantwortete, so stehen ihr in analoger Anwendung des § 50 Abs 2 ZPO die Kosten der Revisionsbeantwortung auch dann zu, wenn sie auf die Unzulässigkeit der Revision nicht hinwies (

RS0123861; RS0112921 [T6]). Der Beklagten sind daher die Kosten für ihre Revisionsbeantwortung zu ersetzen; für diese steht der einfache Einheitssatz von 60 % zu (§ 23 Abs 3 RATG).

Textnummer

E127757

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00012.20W.0219.000

Im RIS seit

14.04.2020

Zuletzt aktualisiert am

14.04.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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