Entscheidungsdatum
30.01.2020Norm
BFA-VG §9Spruch
G303 2180294-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Simone KALBITZER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Nordmazedonien und Serbien, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2017, Zl. XXXX betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.09.2019, zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid
ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) wurde mit rechtskräftigem Urteil des Kantonalen Strafgerichtes Schwyz vom 01.09.2017, Zl. XXXX, wegen Freiheitsberaubung und Entführung im Sinne des Art. 183 Z 1 Abs. 1 StGB, der sexuellen Nötigung nach Art. 189 Abs. 1 StGB sowie der mehrfachen Drohung nach Art. 180 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, wobei der Vollzug der Freiheitsstrafe bei einer Probezeit von zwei Jahren aufgeschoben wurde. Des Weiteren wurde seitens des Staatssekretariats für Migration der Schweizerischen Eidgenossenschaft ein Einreiseverbot gegen den BF für den Zeitraum 28.07.2017 bis 27.07.2020 verfügt.
2. Mit undatiertem Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde oder BFA), zugestellt am 25.09.2017, wurde dem BF mitgeteilt, dass aus den oben genannten Gründen beabsichtigt sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Zugleich wurde dem BF die Möglichkeit eingeräumt, sich dazu innerhalb von 14 Tagen zu äußern und eine Stellungnahme abzugeben sowie konkrete Fragen zu beantworten.
3. Mit Schriftsatz vom 04.10.2017 erstattete der BF durch seinen bevollmächtigten Rechtsvertreter eine Stellungnahme und legte diverse Unterlagen vor. Darin wurde zusammengefasst vorgebracht, dass der BF seit Juni 2014 über einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot-Karte" plus, welche bis 13.05.2017 gültig war, verfüge und fristgerecht einen Verlängerungsantrag gestellt habe. Der BF lebe gemeinsam mit seinen Eltern in einer Wohnung. In Mazedonien habe der BF keinerlei Familie mehr oder Bekannte. Der BF sei sehr gut in Österreich integriert, spreche sehr gut Deutsch und sei berufstätig. Der BF habe einen schweren Fehler gemacht und sei diesbezüglich in der Schweiz strafgerichtlich verurteilt worden. Der BF sei in Österreich unbescholten.
4. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm. § 9 BFA-VG erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach (Nord-)Mazedonien zulässig ist (Spruchpunkt II.) sowie gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt. (Spruchpunkt III.)
Der Bescheid wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 NAG entgegen stehe, da gegen den BF von der Schweiz ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Schengener Gebiet für den Zeitraum 28.07.2017 bis 27.07.2020 erlassen worden sei. Ein beachtliches Familienleben bestehe nicht, da der BF volljährig sei und das derzeitige Zusammenleben mit seinen Eltern erst seit wenigen Jahren bzw. Monaten bestehe. Eine finanzielle Abhängigkeit der Eltern von seinem Einkommen sei nicht gegeben. Der BF verfüge über Deutschkenntnisse lediglich auf dem Niveau A2. Auch sei der BF lediglich drei Monate als Arbeiter beschäftigt gewesen und habe die restliche Zeit Arbeitslosengeld bezogen. Das derzeitige Arbeitsverhältnis bei einer Personalleasingfirma bestehe erst seit August 2017. Der BF sei 21 Jahre alt und habe 18 Jahre in Serbien und Mazedonien verbracht und verfüge über eine dort abgeschlossene Schulausbildung und Sprachkenntnisse. Daher bestehe keine Entwurzelung von seinem Heimatland. Der BF sei in der Schweiz wegen Freiheitsberaubung, Entführung und sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden und es sei ein dreijähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Schengener Gebiet von der Schweiz gegen den BF verhängt worden. Daher sei eine Rückkehrentscheidung notwendig und geeignet, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht zu gefährden.
5. Dagegen richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 07.12.2017 mit den Anträgen, den angefochtenen Bescheid dahin abzuändern, dass Spruchpunkt I. aufgehoben werde, dem BF einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 zu erteilen sowie eine Beschwerdeverhandlung durchzuführen. Alternativ wird ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt.
Die Beschwerde wird zusammengefasst damit begründet, dass der angefochtene Bescheid massiv in das Privat- und Familienleben des BF in Österreich eingreife. Der BF lebe mit seinen Eltern in einem gemeinsamen Haushalt und es bestehe eine enge emotionale Bindung und ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem BF und seinen Eltern. Zudem leide die Mutter des BF an gesundheitlichen Problemen und sei deswegen arbeitsunfähig. Sie sei von der Unterstützung ihres Sohnes abhängig, der unter anderem die notwendigsten Behandlungskosten bezahle. Es bestehe somit zwischen dem BF und seinen Eltern ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis finanzieller Natur sowie aus der Pflegebedürftigkeit der Mutter heraus. Der BF gehe einer regelmäßigen Beschäftigung nach und besuche diverse Deutschkurse. Dank seines breiten Freundeskreises und seiner sozialen Kontakte verbessere er kontinuierlich seine sprachlichen Kenntnisse in der deutschen Sprache. Der BF habe keinen Kontakt mehr zu seiner Familie in Mazedonien, und wäre im Falle einer Rückkehr obdach- und mittellos. Der BF habe sich mit Ausnahme seiner strafrechtlichen Verurteilung in der Schweiz immer wohl verhalten. Der BF bereue sein Fehlverhalten zutiefst und habe seine Strafe bereits verbüßt. Er sei in Österreich unbescholten und stelle keine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Republik Österreich dar.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 20.12.2017 von der belangten Behörde vorgelegt.
7. In weiterer Folge brachte der BF Arztberichte betreffend seine Eltern sowie ein Arbeits-Zwischenzeugnis von der XXXX vom 10.01.2018, in Vorlage.
8. Am 27.09.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Graz, eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der BF, die bevollmächtigte Rechtsvertretung des BF, eine Vertreterin der belangten Behörde sowie ein Dolmetscher für die Sprache Albanisch, teilnahmen.
9. Mit Schriftsatz vom 01.10.2019 wurde seitens der Rechtsvertretung des BF eine Stellungnahme eingebracht und das Strafurteil des Strafgerichtes Schwyz, die Verfügung über das Einreiseverbot sowie Kopien aus dem serbischen Reisepasses vorgelegt.
9.1. Mit weiterem Schreiben vom 07.10.2019 übermittelte der BF eine Änderung seines Dienstvertrages.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF wurde am XXXX in XXXX (Serbien) geboren, ist mazedonischer Staatsangehöriger und besitzt auch noch die serbische Staatsbürgerschaft. Er spricht albanisch und ist im Besitz eines mazedonischen und serbischen Reisepasses. Er ist ledig und kinderlos.
Der BF absolvierte in Serbien seine Schulausbildung.
Seit dem Jahr 2010 hielt er sich regelmäßig in den Sommermonaten bei seinem Vater in Österreich auf, wo er seit Juni 2014 durchgehend seinen gemeldeten Wohnsitz hat. Am 14.05.2014 wurde dem BF erstmals ein Aufenthaltstitel Rot-Weiß-Rot-Karte Plus erteilt, der in der Folge aufgrund von Verlängerungsanträgen zwei Mal verlängert wurde. Zuletzt wurde ihm ein von 14.05.2016 bis 13.05.2017 gültiger Aufenthaltstitel ausgestellt. Der BF stellte vor Ablauf dieses zuletzt erteilten Aufenthaltstitels erneut einen Verlängerungsantrag.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er war im Bundesgebiet von 09.09.2015 bis 23.12.2015 als Arbeiter bei der XXXXGmbH, von 10.08.2017 bis 31.10.2018 als Arbeiter bei der XXXX GmbH und ist seit 01.11.2018 als Arbeiter bei der XXXX GmbH beschäftigt. In den Jahren 2016 und 2017 bezog er immer wieder Arbeitslosengeld.
Der BF ist in Österreich unbescholten. Mit dem Urteil des Kantonalen Strafgerichtes Schwyz vom 01.09.2017, XXXX, wurde der BF in der Schweiz wegen Freiheitsberaubung und Entführung nach Art. 183 Z 1 Abs. 1 StGB, der sexuellen Nötigung nach Art. 189 Abs. 1 StGB sowie der mehrfachen Drohung nach Art. 180 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt, wobei der Vollzug der Freiheitsstrafe bei einer Probezeit von zwei Jahren aufgeschoben wurde. Dieser Verurteilung liegt unter anderem zugrunde, dass der BF seine Ex-Freundin am 12.05.2017 in sein Auto mit der Zentralverriegelung einsperrte und auch dieses während der Fahrt gegen ihren Willen verschlossen hielt. Aufgrund dessen befand sich der BF in der Schweiz 34 Tage in Untersuchungshaft und 38 Tage in vorzeitiger Strafhaft. Zudem wurde der BF für die Dauer von fünf Jahren aus der Schweiz verwiesen.
Die Schweiz verhängte über den BF für den Zeitraum von 28.07.2017 bis 27.07.2020 ein Einreiseverbot mit Wirkung für das gesamte Schengengebiet.
Der BF lebt mit seinen, im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten, Eltern im gemeinsamen Haushalt in einer Mietwohnung. Seine Mutter leidet an einer depressiven Störung, chronischen Mittelohrentzündung mit Schwerhörigkeit, Diabetes mellitus und Bluthochdruck und ist ohne Beschäftigung. Sein Vater leidet an Rückenschmerzen, Diabetes mellitus und Verkalkungen in den Knochen und ist arbeitslos. Der BF unterstützt seine Eltern materiell sowie in der Haushaltsführung.
Der BF spricht Deutsch zumindest auf dem Sprachniveau A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen und besuchte mehrere Deutschsprachkurse.
Der BF hat einen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich. Die Brüder des BF leben in der Schweiz und in Slowenien. In Mazedonien leben keine nahen Angehörigen des BF, auch nicht in Serbien.
2. Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten der belangten Behörde, aus der Beschwerde und dem vorliegenden Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichts.
Die Feststellung zur Identität und Staatsangehörigkeit des BF ergibt sich aus dem unstrittigen Akteninhalt und der im Gerichtsakt erliegenden Kopien des mazedonischen und serbischen Reisepasses des BF.
Die persönlichen Daten des BF, seine Schulbildung und die Feststellungen zu seinen regelmäßigen Aufenthalten in Österreich ergeben sich aus der Stellungnahme seines rechtsfreundlichen Vertreters vom 04.10.2017 und stehen im Einklang mit dem übrigen Akteninhalt.
Die Feststellungen zu den erteilten Aufenthaltstiteln basieren auf der Einsicht in das Zentrale Fremdenregister. Im Zentralen Melderegister scheint seit 02.06.2014 durchgehend eine Hauptwohnsitzmeldung des BF auf.
Das Verfahren hat keine Anhaltspunkte für gesundheitliche Probleme oder Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit des BF ergeben. Er gab in seiner Stellungnahme vom 04.10.2017 an, gesund zu sein. Seine Arbeitsfähigkeit ergibt sich aus der aktuell ausgeübten Erwerbstätigkeit und seinem berufsfähigen Alter.
Die festgestellten Erwerbstätigkeiten sowie der Bezug von Arbeitslosengeld ergeben sich aus dem Sozialversicherungsdatenauszug und aus den vom BF dazu vorgelegten Urkunden.
Die inländische strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einem Strafregisterauszug.
Die Feststellungen zu den von ihm in der Schweiz begangenen Straftaten, seiner Verurteilung und zur Haft basieren auf dem vorgelegten Strafurteil des Strafgerichtes Schwyz und den Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung.
Das gegen den BF in der Schweiz verhängte Einreiseverbot ergibt sich aus dem Schengener Informationssystem. Zudem legte der BF das entsprechende Dokument der Schweizerischen Eidgenossenschaft vor.
Die Feststellung zum gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern beruht auf den Angaben des BF dazu, die durch die übereinstimmenden Wohnsitzmeldungen bestätigt werden (Einsicht in das Zentrale Melderegister). Die Aufenthaltsberechtigung der Eltern ergibt sich aus den vorgelegten Aufenthaltskarten.
Die gesundheitlichen Probleme seiner Eltern konnte der BF mittels Arztberichte belegen. Die fehlende Erwerbstätigkeit seiner Eltern und seine Unterstützungsleistungen ergeben sich aus den glaubwürdigen Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung.
Die festgestellten Deutschkenntnisse des BF ergeben sich aus der vorgelegten Bestätigung für das Sprachniveau A2 vom 28.02.2015. Auch konnte der BF Unterlagen betreffend weitere Deutschkurse vorlegen. Dass der BF über soziale Kontakte im Bundesgebiet verfügt, konnte anhand seiner glaubwürdigen Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung festgestellt werden.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zu Spruchteil A):
Der BF ist als mazedonischer und serbischer Staatsangehöriger Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs. 4 Z 10 FPG.
Der BF hielt sich aufgrund des ihm erteilten und zweimal verlängerten Aufenthaltstitels ab Juni 2014 rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Da er rechtzeitig einen Verlängerungsantrag stellte, blieb sein Aufenthalt gemäß § 24 Abs. 1 dritter Satz NAG nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels am 13.05.2017 weiter rechtmäßig.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF als rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen setzt gemäß § 52 Abs. 4 Z4 FPG voraus, dass der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs 1 und 2 NAG) entgegensteht. Gemäß dem hier relevanten § 11 Abs. 1 Z 2 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nicht erteilt werden, wenn gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht. Dies liegt gegenständlich vor. Gegen den BF wurde von der Schweiz ein Einreiseverbot für das Schengener Gebiet für den Zeitraum von 28.07.2017 bis 27.07.2020 erlassen.
Da die Rückkehrentscheidung in das Privat- und Familienleben des BF eingreift, dessen Lebensmittelpunkt seit 2014 in Österreich liegt, ist unter dem Gesichtspunkt von Art 8 EMRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Nach § 9 Abs. 1 BFA-VG ist (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198).
Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs. 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst zwar nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt - auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) - nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu etwa VwGH vom 19.11.2010, Zl. 2008/19/0010 mwN).
Der BF hält sich seit ca. fünfeinhalb Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf und reiste bereits seit dem Jahr 2010 regelmäßig in den Sommermonaten zu seinem Vater nach Österreich. Er lebt mit seinen aufenthaltsberechtigten Eltern im gemeinsamen Haushalt und unterstützt sie finanziell und in der Haushaltsführung, da diese nicht erwerbstätig sind und an diversen Krankheiten leiden.
Im vorliegenden Fall besteht auf Grund der festgestellten Umstände zwischen dem volljährigen BF und seinen Eltern ein aufrechtes, schützenwertes Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK, da aufgrund der gemeinsamen Wohn- und Haushaltsgemeinschaft eine besonders intensive Beziehung zwischen ihnen besteht und die Eltern jedenfalls finanziell von ihrem erwerbstätigen Sohn abhängig sind, da diese an gesundheitlichen Gebrechen leiden und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen.
Der BF hat weder in Mazedonien noch in Serbien Familienangehörige, von denen er eine entsprechende Unterstützung erwarten könne, etwa in Gestalt einer Unterkunft oder sonstigen materiellen Leistungen.
Der BF geht in Österreich einer regelmäßigen Beschäftigung nach und hat sich um den Erwerb von Deutschkenntnissen bemüht, zumal er eine Prüfung für das Sprachniveau A2 abgelegt und zusätzliche Deutschkurse besucht hat. Der BF hat aufgrund dessen auch ein schützenswertes Privatleben im Inland.
Das erkennende Gericht hat hier jedoch auch zu berücksichtigen, dass der BF in der Schweiz wegen einer strafbaren Handlung gegen die Freiheit und sexuelle Integrität mit einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten rechtskräftig verurteilt wurde, wobei der Vollzug der Freiheitsstrafe bei einer Probezeit von zwei Jahren aufgeschoben wurde. Diese Straftat ereignete sich im Mai 2017. Der BF hat sich seither wohl verhalten, geht seit August 2017 durchgehend einer Beschäftigung nach und unterstützt seine Eltern. Darüber hinaus bereut der BF seine Tat sehr. Auch ist zu berücksichtigen, dass der BF in Österreich unbescholten ist und ihm keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten sind.
Aufgrund des mehrjährigen rechtmäßigen Aufenthalts des BF in Österreich, seines bestehenden Familienlebens mit seinen Eltern, seiner Erwerbstätigkeit, seiner Sprachkenntnisse und seiner sozialen Kontakte besteht ein erhebliches privates Interesse des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet.
Sein privates Interesse an einem Verbleib überwiegt auch unter Berücksichtigung der oben angeführten strafgerichtlichen Verurteilung in der Schweiz das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung, sodass von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF Abstand zu nehmen ist.
Dies bedingt auch den Entfall der übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids, der somit in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben ist.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass es keine Rechtsgrundlage dafür gibt, aus Anlass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 4 FPG gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG von Amts wegen zu prüfen und darüber im Bescheid abzusprechen (vgl VwGH 15.03.2018, Ra 2017/21/0260).
3.2. Zur Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B.):
Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist teilweise zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Voraussetzungen, Wegfall der GründeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:G303.2180294.1.00Zuletzt aktualisiert am
09.04.2020