TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/31 G310 2218066-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.01.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

31.01.2020

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

G310 2218066-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, StA: Bosnien und Herzegowina, vertreten durch die Kocher & Bucher Rechtsanwälte OG, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 14.03.2019, Zl. XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid

wie folgt abgeändert: "Dem Beschwerdeführer wird gemäß §§ 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung plus" iSd § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG erteilt."

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 02.10.2018 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK.

Am 11.03.2019 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) statt.

Mit dem oben genannten Bescheid wurde dieser Antrag vom BFA gemäß § 55 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Bosnien und Herzegowina zulässig ist (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.). Die Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der BF in Österreich kein schützenswertes Familien- oder Privatleben habe. Auch würden keine Anhaltspunkte für eine besonders gelungene Integration vorliegen. Sein privates Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet werde dadurch gemindert, dass er nach dem Ablauf seines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet verblieben sei und dadurch die österreichische Rechtsordnung ignoriert habe, was die öffentliche Ordnung gefährde.

Dagegen richtet sich die Beschwerde des BF mit den Anträgen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen; dem BF in Stattgebung der Beschwerde einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG zuzuerkennen sowie in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen. Begründend wurde ausgeführt, dass der BF von Oktober 2013 bis September 2018 im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung "Student" bzw. "Schüler" gewesen sei. Der BF habe die "XXXX besucht und nebenbei in verschiedenen Unternehmen gearbeitet. Der BF habe seine Ausbildung zielstrebig verfolgt, jedoch die Fachschule abgebrochen, da der Ausbildungszweig nicht seinen Interessen entsprach. Er sei überdurchschnittlich gut integriert, spreche nahezu perfekt Deutsch und habe einen Arbeitsvorvertrag. Zu seinem Bruder, mit dem er gemeinsam in einer Mietwohnung lebe, bestehe ein besonders schützenswertes Naheverhältnis.

Am 11.03.2019 erstattete der BF eine Urkundenvorlage und legte eine Namensliste seiner Verwandten in Österreich, einen aktuellen Arbeitsvorvertrag und eine Bonitätsauskunft vor.

Die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 26.04.2019 vorgelegt.

Mit dem beim BVwG am 23.01.2020 eingelangten Schreiben stellte der BF durch seinen Rechtsvertreter einen Fristsetzungsantrag gem. Art. 133 Abs. 1 Z 2 B-VG.

Feststellungen:

Der BF führt die im Spruch angegebene Identität und ist Staatsangehöriger der Republik Bosnien und Herzegowina. Die Muttersprache des BF ist Bosnisch und verfügt der BF über Deutschsprachkenntnisse auf dem Niveau B2+. Der BF ist ledig und kinderlos. Er wuchs in Bosnien und Herzegowina auf und absolvierte dort die Pflichtschule und eine Schule mit technisch-kaufmännischen Zweig. Im Herkunftsstaat lebte er gemeinsam mit seinen Eltern. In Österreich lebt auch der Bruder des BF XXXX, zu dem der BF eine innige Beziehung pflegt.

Der BF kam im Oktober 2013 nach Österreich, um die deutsche Sprache zu erlernen, in XXXX zu studieren und einen Job zu finden. Seither hält er sich - abgesehen von Besuchen bei seiner Familie in Bosnien und Herzegowina und Urlauben - kontinuierlich in Österreich auf.

Dem BF wurde erstmalig eine Aufenthaltsbewilligung als Student mit einer Gültigkeitsdauer von XXXX.11.2013 bis XXXX.11.2014 erteilt, die in der Folge mehrfach verlängert wurde, zuletzt als Aufenthaltsbewilligung für Schüler bis zum XXXX.09.2018. Seither verfügt er über keinen Aufenthaltstitel.

Der BF verfügt über sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Am 04.07.2014 legte er im Vorstudienlehrgang der XXXX Universitäten für ausländische Studierende eine Sprachprüfung über das Niveau B1+ ab. Am 02.07.2015 absolvierte er den Sprachkurs der Niveaustufe 3 (B2+/ C1). Die Prüfungszeugnisse legte er im Verfahren vor.

Seit XXXX.10.2013 weist der BF durchgehende Hauptwohnsitzmeldungen im Bundesgebiet, von 02.10.2013-07.10.2013 auch eine Nebenwohnsitzmeldung auf. Seit September 2018 lebt er mit seinem Bruder in einer Mitwohnung im gemeinsamen Haushalt. Der Bruder des BF ist erwerbstätig und unterstützt den BF finanziell.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er bezog in Österreich nie Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder andere Leistungen der staatlichen Grundversorgung. Um für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, war er immer wieder geringfügig beschäftigt. So war er seit 2013 in den folgenden Zeiträumen erwerbstätig:

03.09.2014-27.02.2015, 27.04.2015-12.07.2015, 27.04.2015-07.10.2017, 07.03.2016-08.04.2016, 19.07.2016-28.04.2017, 14.11.2017-13.12.2017, 16.11.2017-31.03.2018. Dem BF wurde vom AMS mit Bescheid vom 13.06.2018, ABB-NR:3927917 eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Taxi Chauffeur für den Zeitraum vom 13.06.2018-12.06.2019 im Ausmaß von 55 Stunden pro Woche erteilt. Von 14.02.2018-30.09.2018 war der BF als Arbeiter für ein Taxiunternehmen tätig. Seither übt der BF keine Erwerbstätigkeit aus. Der BF hat eine erneute Einstellungszusage seines bisherigen Arbeitsgebers als Taxilenker für eine monatliche Brutto-Entlohnung von € 1.285,00.

Während seines Aufenthalts im Bundesgebiet war der BF aufgrund seiner geringfügigen Beschäftigungen und aufgrund von Selbstversicherung in den Zeiträumen 01.08.2015-29.02.2016, 01.05.2016-30.06.2016, 01.05.2017-07.10.2017 gemäß § 19a ASVG, im Zeitraum 18.12.2013-26.04.2015 gemäß § 16 Abs. 2 ASVG und seit 15.07.2019 gemäß § 16 Abs. 1 ASVG sozialversichert.

Der BF hat in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Akteninhalt. Der chronologische Ablauf ist auch im Fremdenregister nachvollziehbar.

Die Feststellungen basieren auf den vorliegenden Beweismitteln, insbesondere auf den plausiblen und schlüssigen Angaben des BF in seinem verfahrenseinleitenden Antrag und der Beschwerde sowie auf den von ihm vorgelegten Dokumenten. Es liegen keine entscheidungserheblichen Widersprüche vor.

Die Feststellungen zur Identität und zu den persönlichen und familiären Verhältnissen des BF beruhen auf seinen konsistenten Angaben dazu. Seine Identität wird auch durch den dem BFA vorgelegten Reisepass belegt. Eine Kopie des Reisepasses befindet sich im Akt. Der BF gab an, ledig zu sein und keine Sorgepflichten zu haben. Die Feststellungen zu familiären Anknüpfungspunkten in Österreich und in Bosnien und Herzegowina basieren auf seinen Angaben gegenüber dem BFA.

Die Feststellung hinsichtlich der Einreise des BF ins Bundesgebiet ergibt sich aus seinen Angaben und dem beschwerdegegenständlichen Bescheid des BFA. Aus dem Fremdenregister ergibt sich, dass der BF seit der Erstantragsstellung im November 2013 und aufgrund der Verlängerungsanträge bis zum XXXX.09.2015 jeweils einen Aufenthaltstitel "Studierender" und ab dem XXXX.10.2015 bis XXXX.09.2018 jeweils einen Aufenthaltstitel "Schüler" besaß. Daraus ist zu schließen, dass der BF in diesem Zeitraum tatsächlich studierte bzw. einer Ausbildung nachging und den dafür notwendigen Erfolgsnachweis gegenüber der Niederlassungsbehörde erbracht hat.

Bosnischkenntnisse des BF sind aufgrund seiner Herkunft plausibel. Seine Deutschkenntnisse konnten aufgrund der vorgelegten Zeugnisse vom 04.07.2014 und 02.07.2015 festgestellt werden. Außerdem konnte die Einvernahme des BF vor dem BFA am 11.03.2019 problemlos auf Deutsch, ohne Beiziehung eines Dolmetschers, geführt werden.

Die Feststellungen hinsichtlich der Wohnsitzmeldungen im Bundesgebiet konnten aufgrund der Angaben des BF in Zusammenschau mit der übereinstimmenden Auskunft aus dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem vorgelegten Mietvertrag getroffen werden. Diesem lässt sich auch die gemeinsame Haushaltsführung mit seinem Bruder entnehmen.

Aus dem Versicherungsdatenauszug ergeben sich die Beschäftigungsverhältnisse des BF sowie die Zeiten der Selbstversicherung nach § 16 Abs. 1, Abs. 2 ASVG bzw. § 19a ASVG.

Es gibt keine Indizien für gesundheitliche Probleme des BF. Da er zwischen 2014 und 2018 beinahe durchgehend erwerbstätig war und auch jetzt eine Vollzeitbeschäftigung anstrebt, wie sich aus der vorgelegten Einstellungszusage der XXXX vom 11.03.2019 und seinem Vorbringen in der Beschwerde ergibt, ist davon auszugehen, dass seine Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, zumal er in einem erwerbsfähigen Alter ist.

Es gibt keine Anhaltspunkte für den Bezug von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder sonstigen Leistungen der Grundversorgung durch den BF. Das BVwG nahm diesbezüglich Einsicht in die Sozialversicherungs- und Grundversorgungsdatenbanken.

Die Feststellung, dass der BF Freunde und Bekannte in Österreich hat, basiert darauf, dass er mehrere konkrete Bezugspersonen nannte und entsprechende Unterstützungsschreiben vorlegte. Auch die Dauer seines Aufenthalts, seine Ausbildung und seine Beschäftigungsverhältnisse sprechen dafür, dass er hier mittlerweile soziale Kontakte geknüpft hat.

Aus dem aktuellen Strafregisterauszug ergibt sich, dass der BF strafrechtlich unbescholten ist.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A):

Der BF ist Staatsangehöriger der Republik Bosnien und Herzegowina und somit Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs. 4 Z 10 FPG.

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG vor, ist gemäß § 55 Abs. 2 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Gemäß § 9 Abs. 4 Integrationsgesetz (IntG) ist das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 IntG (Z 1) oder einen gleichwertigen Nachweis (Z 2) vorlegt, über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 UG oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3), einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte" gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4) oder als Inhaber eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung - Künstler" gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz genannten Kunstsparte ausübt (Z 5). Mit der Integrationsprüfung gemäß § 11 IntG ist festzustellen, ob ein Drittstaatsangehöriger über vertiefte elementare Kenntnisse der deutschen Sprache zur Kommunikation und zum Lesen und Schreiben von Texten des Alltags auf dem Sprachniveau A2 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und über Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich verfügt.

Eine "Aufenthaltsberechtigung plus" berechtigt gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG). Eine "Aufenthaltsberechtigung" berechtigt gemäß § 54 Abs. 1 Z 2 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist.

§ 58 AsylG regelt das Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß §§ 55 ff AsylG.

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Vom Prüfungsumfang des Begriffes des "Familienlebens" in Art 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. etwa die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.01.2006, 2002/20/0423, vom 08.06.2006, Zl. 2003/01/0600-14, oder vom 26.1.2006, Zl.2002/20/0235-9, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellte, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).

Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, durch die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG ist allerdings nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2018/19/0289).

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078; 15.3.2016, Ra 2016/19/0031; jeweils mwN). Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig anzusehen (VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:

Der BF lebt seit Oktober 2013, also seit mehr als sechs Jahren, durchgehend in Österreich. Davon war sein Aufenthalt bis zum XXXX.09.2018 und damit beinahe fünf Jahre lang aufgrund der ihm erteilten Aufenthaltsbewilligungen rechtmäßig. Der BF ist nach Ablauf seiner Aufenthaltsbewilligung weiterhin im Bundesgebiet verblieben und hält sich seither unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Gemäß § 58 Abs. 13 erster Satz AsylG vermittelt eine Antragstellung gemäß § 55 AsylG kein Bleiberecht und vermag gegenständlich eine solche seitens des BF sohin nichts an seinem aktuellen Aufenthaltsstatus zu ändern.

Das Interesse des BF an einem Verbleib in Österreich wird zwar dadurch gemindert, dass er keine Veranlassung hatte, nach Ablauf des zuletzt gültigen Aufenthaltstitels von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen und dass sein Privatleben im Bundesgebiet zu einem Zeitpunkt entstand, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war bzw. nur über einen befristeten Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügte. Dies hat aber vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während seines Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung führen kann (vgl VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325 mwN).

Dem BF sind außer dem nicht rechtmäßigen Aufenthalt keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten. Der Erwerb von fortgeschrittenen Deutschkenntnissen (Niveau B2+/C1), der Besuch des Kollegs an der XXXX, der Erwerb des Taxischeines, die geringfügigen Beschäftigungen, sein Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet und die vorgelegte Einstellungszusage sprechen dafür, dass er die in Österreich verbrachte Zeit zur sozialen und beruflichen Integration genutzt hat. Der BF zeigt durch den Abschluss eines arbeitsrechtlichen Vorvertrags seinen Wunsch, in Zukunft (wieder) einer Beschäftigung nachzugehen. Er verfügt über eine gesicherte Unterkunft.

Durch das enge Naheverhältnis und die finanzielle Abhängigkeit zu seinem Bruder hat er ein schützenswertes Familienleben in Österreich.

Wenngleich noch starke Bindungen zum Herkunftsstaat des BF bestehen, weil er dort aufgewachsen ist, die Schule besucht hat, eine übliche Sprache spricht und seine Familie nach wie vor dort lebt, werden diese dadurch relativiert, dass er sich seit über sechs Jahren nur zu Besuchszwecken in seinem Herkunftsstaat aufgehalten hat.

Der seit XXXX.10.2018 unrechtmäßige Aufenthalt des BF fällt vor dem Hintergrund seines zuvor langen und druchgehend rechtmäßigen Aufenthaltes in Zusammenschau mit seinen bisherigen Integrationsbemühungen nicht so schwer ins Gewicht, dass er die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigt. In strafrechtlicher Hinsicht hat sich der BF nichts zuschulden kommen lassen. Im Ergebnis überwiegt somit das Interesse des BF an einem Verbleib in Bundesgebiet das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist in diesem konkreten Einzelfall in einer Gesamtschau und in einer gewichteten Abwägung aller Umstände das Interesse an der Fortführung des Familien- und Privatlebens des BF in Österreich höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

Angesichts des korrekten Beleges von Sprachkenntnissen des Niveaus "B2+" und der damit einhergehenden Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 81 Abs. 36 NAG iVm. §§ 14 und 14a NAG idF. BGBl. I Nr. 38/2011 iVm. § 7 Abs. 1 IV-V idF BGBl. II Nr. 205/2011, war der Beschwerde stattzugeben und dem BF ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 Abs. 1 iVm. § 58 Abs. 2 AsylG "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen.

Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ist insoweit abzuändern, die Spruchpunkt II.-IV. haben als Folge dieser Entscheidung ersatzlos zu entfallen.

Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Eine Beschwerdeverhandlung, von der keine weitere Klärung der Angelegenheit zu erwarten ist, entfällt gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde einwandfrei festgestellt werde konnte und das Gericht von den im Verwaltungsverfahren hervorgekommenen und in der Beschwerde behaupteten privaten Anknüpfungen der BF im Bundesgebiet ausgeht.

Zu Spruchteil B):

Die Revision nach Art 133 Abs 4 B-VG war nicht zuzulassen, weil es sich bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK um eine typische Einzelfallbeurteilung handelt. Es waren keine erheblichen, über den Einzelfall hinausreichenden Rechtsfragen zu lösen.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus, Deutschkenntnisse, Integration

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G310.2218066.1.00

Zuletzt aktualisiert am

09.04.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten